Die vier Lebensziele der Hindus

Ein klarer Wegweiser auch für uns

23. 11. 2002

 

 

 

1. Das erste Lebensziel ist die Lust.

Auf der Stufe der Lust ist Lustverzicht unmöglich, weil die Lust immer Priorität hat. Daher gibt es auf dieser Stufe keinen Erfolg, denn Erfolg setzt immer temporären Lustverzicht voraus. Daher herrscht auf der Stufe der Lust immer Elend und Frust. Die Menschen auf dieser Stufe machen meist Gott oder die oberen Gesellschaftsklassen verantwortlich für ihren Frust, dass es an ihnen liegen könnte, können sie sich nicht vorstellen. Früher ist die unterste Kaste mit diesem Lebensziel identifiziert worden, heute auch.

Wenn jemand die Beschränkungen, die dieses Lebensziel mit sich bringt bemerkt, hat er die unterste Stufe im Evolutionsprozess der menschlichen Bewusstheitsentwicklung bereits durchschritten. Er ist bereit für die nächste Stufe, für den Erfolg.

Dabei ist es wichtig, festzuhalten, dass die Tatsache, dass sich jemand auf der untersten Stufe der menschlichen Evolution befindet, kein Werturteil rechtfertigt. Ein Mensch, der in diese Kaste hineingeboren wird, kann nichts dafür; von klein auf lernt er nichts anderes kennen, als den Horizont dieses Lebensziels. Eine gewaltige Anstrengung ist erforderlich, um die Kastenschranke zu durchbrechen und jemand, der das schafft, ist persönlich natürlich viel höher zu bewerten, als einer, der in die oberste Kaste hineingeboren worden ist und in ihr verbleibt, also keinen weiteren Evolutionssprung vollzieht.

Sobald jemand die ihm nächstgelegene Kasten(=Klassen)grenze überschreitet, kennt er den illusionären Charakter sämtlicher Kastengrenzen und er steht gewissermaßen außerhalb des Kastensystems – in dem er aber natürlich doch jetzt lebt und dessen Regeln für ihn zu den realen Ausgangsbedingungen seines weiteren Lebens gehören.

 

 

2. Das Lebensziel Erfolg

Wenn jemand glauben kann, es sei möglich, Erfolg zu haben, ist er gleichzeitig auch bereit, auf eine gewisse Menge Lust zugunsten dieses Ziel zu verzichten. Das Ziel „Lust“ beherrscht ihn nicht mehr. Jetzt beherrscht ihn das Ziel „Erfolg“. Er tut alles für den Erfolg, bis hin zur Selbstaufgabe. Aber der Erfolg ist sein Horizont. Weiter kann er nicht sehen. Früher sind mit dieser Stufe besonders die Bauern, Handwerker und Händler identifiziert worden, heute müssen natürlich alle dazugerechnet werden, für die es eine Karrieremöglichkeit gibt.

Auch hier braucht es einiges, die Beschränkung zu sehen, die dieses Lebensziel bedeutet. Jemand muss schon sehr oft erlebt haben, dass das Erreichen eines Erfolgs keine lange Zufriedenheit bewirkt, weil sich das Hochgefühl schnell abnutzt und dann braucht es schon wieder den nächsten Erfolg und den nächsten usw.. Sobald jemand die Beschränktheit, die dieses Lebensziel mit sich bringt, erkennen kann, kann er auf der Leiter der menschlichen Evolution wieder eine Stufe aufsteigen.

Natürlich gilt auch hier, was ich schon zuvor sagte, dass die Höhe der Stufe kein Werturteil rechtfertigt, jede Stufe ist notwendig, die Entwicklung vollzieht sich Schritt für Schritt, kein Schritt kann ausgelassen werden.

Was könnte nun aber die Auflösung des Dilemmas sein, in dem sich ein Mensch befindet, der entdeckt, dass der Erfolg letzten Endes keine Zufriedenheit bringt? Es ist dieses bisher noch nicht gründlich beachtete Etwas, das es ihm bereits ermöglicht hat, dem Zwang zur Lust zu entkommen, die Pflicht.

 

 

3. Die Stufe der Pflicht

Auf der nächsten Stufe der menschlichen Bewusstheitsevolution, auf der Stufe der Pflicht, setzt sich die Einsicht durch, dass der Erfolg in vielem auch vom Zufall abhängt, dass ein Erfolg daher nicht dazu berechtigt, sich für gut zu halten und ein Misserfolg nicht unbedingt etwas damit zu tun hat, dass ein Mensch eben nicht so gut ist. Um diese neue Erkenntnis im Bewusstsein zu halten sagt Krishna in der Bhagavadgita „Widme die Früchte deiner Arbeit mir“, also kümmere dich nicht um Erfolg oder Misserfolg, tu einfach deine Pflicht.

Gesellschaftlich wird diese Erkenntnis mit den Priester-Kasten identifiziert und auch mit dem Militär. Spirituell begründet diese Erkenntnis die Stufe des Gesetzes. Und als diese wird diese Bewusstseinsebene auch bei den unteren Kasten propagiert – und ein gewisses Minimum wird gleichzeitig mit Gewalt durchgesetzt.

Die Priester und Gesetzeshüter sind immer in Gefahr, zu meinen, Ihre Stufe sei die höchste, oder auch nur, sie seien aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit etwas Besseres als die Angehörigen niedrigerer Evolutionsstufen. Diejenigen, die das glauben, sind, was ihren persönlichen Wert betrifft, einem großen Teil der Angehörigen einer niedrigeren Kaste unterlegen und auf jeden Fall unter dem Wert eines Menschen anzusiedeln, der die Schranken der Lust gerade durchbrochen hat, denn sie haben noch nichts durchbrochen, ihre Bewusstheit ist noch nicht an die Grenzen ihres Lebenszieles vorgestoßen. Sie stagnieren möglicherweise in ihrer Entwicklung und erweisen sich für den Evolutionsprozess als unbrauchbar.

 

 

4. Die Stufe der Freiheit

Diejenigen aber, die auf der dritten Stufe der menschlichen Evolution ihre Lektion lernen, nämlich die Grenzen des Horizonts der Pflicht zu erkennen, sind bereit für die nächste Evolutionsstufe, sie sind bereit für die Freiheit.

Durch die Pflicht haben sie gelernt, alles tun zu können. Sie sind nicht mehr unter dem Zwang der Lust und nicht mehr unter dem Zwang des Erfolgs und nun auch nicht mehr unter dem Zwang der Pflicht – was könnten sie also noch tun wollen? Durch ihr Training in den vorangegangenen Phasen haben sie gelernt, sich vollkommen anzupassen. Und diese Fähigkeit können sie jetzt benützen. Sie sind vollkommene Rezeptoren geworden für alle Impulse aus ihrem Inneren genauso wie für alle Impulse, die von außen kommen. Sie sind also zu einer zentralen Schaltstelle geworden. Sie werden nicht mehr beherrscht von subjektiven Süchten, sie sind jetzt fähig, eine allem übergeordnete Perspektive einzunehmen und daher sozusagen als „Bote Gottes“ zu handeln.

So sind sie jetzt keinem Menschen mehr unterworfen, sondern nur noch dem einen Ganzen, dessen unverfälschter Ausdruck sie geworden sind.

Kein Wunder, dass solche Menschen mit Titeln wie „Buddha“, „Avatar“, „Prophet“, „Messias“, oder sogar „Sohn Gottes“ bedacht worden sind.

 

Die Freiheit, die diese Menschen jetzt haben, ist, subjektiv betrachtet, gleichzeitig unendlich und gleichzeitig null. Unendlich deshalb, weil sie das, was sie jetzt tun wollen, zu hundert Prozent auch tun dürfen und können, null deshalb, weil das, was sie auf dieser Stufe natürlicherweise wollen, ja der bestmögliche Dienst am Ganzen ist.

Bemerkenswert für diese Stufe ist aber, dass die drei vorangegangenen Lebensziele erst jetzt vollkommen verwirklicht sein können. Zuvor hatte jede Befriedigung gleichzeitig ihren Pferdefuss, jetzt ist sie frei davon, aber natürlich ist sie nicht frei von dem Preis, den alles hat.

Der „Pferdefuss“ ist ja nur ein Zeichen der Unbewusstheit, was den Preis betrifft. Insofern schlägt da dann etwas unvermutet aus.

Auf der Stufe der Freiheit ist alles erlaubt, aber der Preis ist nicht mehr unbewusst oder unbekannt, sondern er wird freiwillig gezahlt. Und das ist jetzt eine Neuformulierung der Aussage des Paulus „alles ist erlaubt, aber nicht alles tut gut“, alles ist erlaubt, aber alles hat seinen Preis und der ist nun bekannt und der Mensch ist auf dieser Evolutionsstufe frei, ihn ohne Murren zu bezahlen oder zu verzichten. Moral kommt dabei nicht ins Spiel, sie spielt nur eine Rolle bis herauf zur Stufe der Pflicht. Diese Unterscheidung scheint dem Paulus noch nicht ganz klar gewesen zu sein.

 

Die Vier Lebensziele der Hindus können daher viel beitragen zum Verständnis des Christentums und aller anderen Religionen.

 

Erst auf der Stufe der Freiheit gibt es echte Spontaneität. Die Spontaneität a la Hollywood, die besonders den Unterklassen so imponiert, ist eine eingebildete Spontaneität. Menschen, die dieser Spontaneität folgen, sind einfach Sklaven ihres Triebs – die allerdings dadurch, dass sie diesem Trieb unbedingt folgen, schon von da her ganz natürlich an die Grenzen des Horizonts der Lust geführt werden.

Die Gefahr der Stagnation [und damit des Nichtbestehens der Prüfung des Lebens] betrifft daher [nicht diejenigen, die das Gesetz nicht erfüllen, sondern] vor allem die Menschen, die, egal auf welcher Stufe der Evolution, sich fernhalten von den Grenzen, die dem Auftrag ihres jeweiligen Horizonts nicht wirklich folgen, die sich eben immer und überall zurückhalten, die ihr ganz persönliches Wesen eben nicht zum Ausdruck bringen, die Gott [ihren Ursprung] also nicht respektieren, weil sie nicht vertrauen, weil sie ihr Talent vergraben …

 

Der Weg der Evolution der menschlichen Bewusstheit beginnt mit der Frage: „Wessen Sklave bin ich, in welchem Netz von Verstrickungen befinde ich mich, was zieht mich, was schiebt mich, was hindert mich?“ Wenn diese Frage entsteht, ist das Überschreiten der nächsten Grenze nicht mehr weit. Die vier Lebensziele der Hindus sind ein gutes Werkzeug, um auf diese Frage zu stoßen und jede Stagnation zu überwinden.

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