Advent
Gottfried Hutter, 10.12.2011
Advent heißt Ankunft. Es ist die Zeit des Wartens auf die Ankunft des
Erlösers, auf die Geburt des Gottessohnes, auf das Kommen Gottes auf die Erde,
auf die Geburt Jesu in Bethlehem.
Heute ist Advent die Zeit der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest, denn auf
den Erlöser müssen wir heute nicht mehr warten; das große Ereignis hat bereits vor
2000 Jahren stattgefunden. Die ganze Welt hat längst vom Leben dieses wunderbaren
Menschen gehört. Er hat manche von denen, die ihn kannten, so sehr beeindruckt,
dass sie in ihm den lange erwarteten Messias gesehen haben, den Erlöser der
Menschheit. Einige haben die Geschichte seines Lebens aufgeschrieben. Und eine
zunehmende Anzahl von Menschen ist dem gefolgt, was er gesagt und getan hat,
denn es hat sie zutiefst berührt. Es hat ihr Leben verändert. Es hat neue
Menschen aus ihnen gemacht – und das 2000 Jahre lang.
Seit 2000 Jahren gibt es immer wieder Menschen, die sich seine Worte so
sehr zu Herzen nehmen, dass sie selbst zu wunderbaren Menschen werden. Jesus
hat also eine unglaubliche Spur in der Geschichte der Menschheit hinterlassen
und immer wieder Menschen hervorgebracht, die seinem Beispiel gefolgt sind. Manche
von diesen werden als Heilige verehrt, die meisten sind unbekannt geblieben. Mehr
als die Hälfte der Menschheit, nämlich Christen und Muslime bringen diesem
Menschen von damals auch heute noch allerhöchste Hochachtung entgegen. Die
Christen bewundern ihn so sehr, dass sie ihn als die Inkarnation Gottes selbst
auf Erden ansehen, und zwar als die eine und einzige Inkarnation Gottes auf
Erden. Wunderbare Kunstwerke sind entstanden, die diese eine Inkarnation Gottes
auf Erden besingen und auf andere Weise ehren.
Aber kann es nur eine einzige Inkarnation Gottes auf Erden geben?
Mehr und mehr Menschen glauben die Geschichte von der einen Inkarnation Gottes
auf Erden heute nicht mehr. Sie sehen sie als einen Mythos, als ein Märchen an.
Und das liegt daran, dass die große Welt heute eins geworden ist. Alle wissen
heute von den anderen Kulturen. Und in so manchen dieser Kulturen gibt es Geschichten
von Inkarnationen Gottes. Die Hindus erzählen von solchen Inkarnationen, die
Buddhisten glauben, dass jeder Mensch die Buddha-Natur, also die Natur des Erleuchteten
bereits in sich hat. Und die Bibel selbst sagt ganz am Anfang, dass jeder
Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist, mit anderen Worten dass jeder
Mensch eine göttliche Erscheinung ist.
Aber sogar wenn jemand gar nicht an Gott glaubt, wird er doch diese
unglaubliche, diese wunderbare Entwicklung sehen, die im Lauf der Geschichte
der Welt stattgefunden hat. Vor einigen Milliarden Jahren gab es hier auf
diesem Planeten nur Steine und Wasser und Luft, aber kein Leben. Aber bereits unter
diesen Bedingungen haben sich chemische Elemente zu chemischen Verbindungen zusammengeschlossen.
Da war kein Ingenieur am Werk. Die Elemente sind einfach ihren natürlichen
Neigungen gefolgt. Am Ende haben es diese Verbindungen sogar geschafft, Kopien
von sich selbst anzufertigen. Das war lange bevor es Leben gab. Vor einigen
Jahrzehnten ist für diese Entdeckung der Chemie-Nobelpreis verliehen worden.
Und diese chemischen Verbindungen haben sich noch weiter entwickelt, bis schließlich
etwas aus ihnen geworden ist, das nicht nur sich selbst kopieren konnte; irgendwann
konnten sich diese Verbindungen sogar fortbewegen, um die Elemente zu finden,
die sie für ihre weitere Vermehrung brauchten. Und da sind wir beim Leben. Jeder
weiß wie die Entwicklung weiter gegangen ist.
Die Lebewesen sind, wie vorher die chemischen Verbindungen, dem gefolgt,
was sie angezogen hat. Sie haben den Spielraum ihrer Fähigkeiten immer mehr
ausgeweitet. Sie sind immer komplexer geworden, bis es über die lange Kette der
Evolution schließlich Menschen gab. Die Menschen konnten nicht nur eine
Zivilisation aufbauen, denn das konnten bereits die Ameisen, aber sie können
das ganze Gebilde der Welt erforschen und verstehen.
Das alles war möglich, ohne dass ein überirdischer Zauberer, diese Lebewesen
und Menschen mit irgendeinem Hokuspokus aus seinem Hut hervorgezaubert hätte.
Daher können auch Menschen, die weder an Gott noch an etwas Übernatürliches
glauben, doch sehen, dass die Welt etwas Wunderbares ist, dass da unglaubliche
Kräfte wirken und dass die Kraft, die aus Steinen Menschen werden hat lassen, allgegenwärtig
und immer noch da ist, und logischerweise auch in ihnen.
Auf diese Weise können wahrscheinlich sogar Atheisten das Bild der Bibel
verstehen, das sagt, dass ein Mensch nicht nur ein Produkt der großen
Schöpferkraft ist, sondern dass sich die große Schöpferkraft selbst im Menschen
abgebildet hat, dass ein Mensch also gewissermaßen eine Inkarnation der großen
Schöpferkraft ist, die überall im Universum wirkt, und dass diese Kraft im
Menschen zum ersten Mal zum Bewusstsein ihrer selbst kommen kann.
So kommen Atheisten und Gläubige letzten Endes zum gleichen Ergebnis,
nämlich dass die ursprüngliche Schöpferkraft Mensch geworden ist.
Es wäre gut, wenn mehr Menschen das so sehen könnten, und es ist sehr
schade, dass so viele so wenig von sich halten und das Wunder, das sie sind, kaum
würdigen können. Das ist nicht etwa deshalb schade, weil die göttliche Schöpferkraft
Anerkennung fordert, sondern deshalb, weil es denen, die nicht auf sich achten,
nicht gut geht. Wenn sie auf sich achten würden, könnten sie mit der
Schöpferkraft, die sie ja sind, optimal zusammenarbeiten und das Wunder, das
sie bereits von Natur aus sind, auch nach außen in Erscheinung bringen – so wie
der Mensch, an dessen Ankunft wir in diesen Tagen denken, das in Erscheinung
gebracht hat.
Er hat es damals geschafft, so viele zu begeistern, dass sein Name nicht
vergessen worden ist, sondern dass sein Name tatsächlich über alle Namen
gestellt worden ist.
Aber dieser Mensch, Jesus, hat damals zu seinen Schülern, die ihn so sehr
bewundert haben, gesagt: Ihr wundert euch über die Dinge, die ich tue; ich sage
euch, ihr könnt diese Dinge auch tun, ja ihr könnt sogar noch größere Dinge tun,
als ich sie getan habe.
Er hat damit ganz klar gesagt, dass nicht nur er, sondern dass jeder Mensch
ein Sprössling der schöpferischen Kraft ist, dass also jeder Mensch eine
Inkarnation Gottes auf Erden ist. Und nun, liebe Zuhörer, liebe Leser, bitte
ich Sie, das auf sich anzuwenden und sich in dieser Weise zu betrachten: als
eine Inkarnation Gottes auf Erden.
Sobald Sie angefangen haben, sich selbst in der Weise zu betrachten,
befinden Sie sich in Ihrem persönlichen Advent. Von da an bereiten Sie sich
darauf vor, dass die Schöpferkraft in Ihnen für alle sichtbar auch nach außen
hin erscheinen kann, so wie sie in Jesus in Erscheinung getreten ist. Wenn Sie diesen
Gedanken zum ersten Mal erwägen, erscheint er Ihnen vielleicht vermessen, aber
sobald Sie wirklich überlegen, werden Sie ohne Zweifel sehen, dass es
tatsächlich so ist. Sobald Sie zurückblicken auf die ununterbrochene Kette der
Evolution, wird Ihnen unausweichlich klar werden, dass Sie tatsächlich pure inkarnierte
Schöpferkraft sind, dass Gott also nicht nur einmal vor 2000 Jahren auf Erden
erschienen ist, sondern dass er in jedem Menschen, ja in jedem Lebewesen, in
jedem Molekül, in jedem Atom, in allem erscheint, was es gibt, aber, was Sie
betrifft, in Ihnen ist er als reflektierendes Wesen erschienen. Sie können
erfassen, was sie sind und deshalb sind Sie frei, über Ihren gegenwärtigen Zustand
hinauszuwachsen, also davon er-löst zu sein und sogar zur Erlösung anderer
beizutragen.
Und noch etwas anderes ist einer Inkarnation Gottes möglich, nämlich
Zwiesprache mit dem Ganzen. Sie sind ja nicht das Ganze der Welt. Sie sind nur
einer von sieben Milliarden Menschen. Sie sind daher in allem, was Sie tun, angewiesen
auf das Mitwirken der anderen Erscheinungen Gottes. Aber Sie verfügen über die
Gabe der Empathie und damit können Sie sich einschwingen in das große Ganze und
den Platz finden, an dem das Wunder, das Sie sind, seinen entsprechenden
Ausdruck finden kann. Dieses empathische sich Einschwingen ist eine echte
Zwiesprache mit dem Ganzen, also das, was religiöse Menschen „Gebet“ nennen.
Alle Fragen, die auf dem Weg auftauchen werden beantwortet in Ihrer
Kommunikation mit dem Ganzen – die natürlich konkrete Fragen an die Menschen,
denen Sie begegnen, einschließt.
Da sind Sie jetzt! Und jetzt können Sie sich fragen, was so eine
Inkarnation Gottes auf Erden denn tun kann.
Sie stellen sich also die alte Frage, die sich schon die chemischen
Elemente gestellt haben, als sie sich zu immer komplexeren Einheiten
zusammengeschlossen haben. Diese chemischen Elemente haben einfach „nachgefühlt“,
was attraktiv für sie ist. Dahin haben sie sich bewegt. Damit haben sie sich
verbündet. Auch sie haben bereits eine Art „Vision“ von sich entwickelt und
diese Vision Wirklichkeit werden lassen.
Lassen daher nun auch Sie Ihre Fantasie spielen. Schauen in den Raum, in
dem das Ganze gegenwärtig ist. Als was erscheinen Sie da? Was sind Sie in Ihren
kühnsten Träumen? Malen Sie es sich aus!
Und dann stellen Sie sich die Frage: Was unterscheidet meine Vision von
Größenwahn? Wahnsinn wäre es, wenn Sie meinen würden,
Sie sollten sich über andere erheben. Hitlers Idee von der Überlegenheit der
Deutschen war ein Wahn. Eine echte Vision geht niemals auf Kosten der anderen,
im Gegenteil, ihre Erfüllung bringt immer einen Fortschritt für das Ganze.
Prüfen Sie also Ihre Vision: Bringt sie die Menschheit als Ganze voran? Wenn
nein, haben Sie Ihre Vision noch nicht gefunden, wenn ja, dann gilt das, was
Jesus gesagt hat, für Sie:
Er sagt, wir könnten noch Größeres vollbringen, als er vollbracht hat. Er
sagt, es ist möglich!
Daher nochmal: Was ist es, was Sie vollbringen möchten? Die Vision, die Sie
von sich haben, ist der evolutionäre Auftrag Ihrer persönlichen Inkarnation.
Wenn Sie ihn erfüllen, werden Sie in Ihrem Bereich zu einem Erlöser – ob als
Fußballer, als Sänger, als Wissenschaftler, als Handwerker, als Lebensberater,
als Architekt, etc. Sobald Sie Ihre Vision gefunden haben, sind Sie in Ihrem persönlichen
Advent angekommen.
Dann gibt es einiges zu tun, bis auch nach außen hin sichtbar wird, dass die
Schöpferkraft in Ihnen Mensch geworden ist.
Auf diesem Weg wird auch schnell klar, dass es mehr braucht als die Vision.
Es braucht Kooperation. Schon ihre Vision wird daher die anderen einbeziehen,
schließlich geht es ja um die Evolution des Ganzen. Deshalb werden Sie auch in den
anderen, die Ihnen auf dem Weg begegnen, das Schöpferische fördern und ihnen das
geben wollen, was sie dafür von Ihnen brauchen.
Das Erste, das jeder auf seinem Weg braucht, ist Glauben, dass es möglich
ist, Glauben, dass seine/ihre Vision Wirklichkeit werden kann. Wenn Sie als
eine Inkarnation Gottes leben, werden die Menschen nach einer Begegnung mit
Ihnen mit Sicherheit mehr an ihre eigene Vision glauben können. Und das wird
dazu führen, dass diese Menschen auch Sie unterstützen und fördern, so wie Sie
sie unterstützen und fördern.
Ihre Vision wird also nicht eine sein, die nur Sie hervorhebt, sondern es
wird eine sein, die die Evolution aller fördert. Gerade aus dem kooperativen
Wirken jedes einzelnen Wesens, jedes Elements mit allen anderen Wesen und
Elementen entstehen die „Wunder der Welt“. Denken Sie nur an die geradezu
unglaublichen Kooperationen zwischen bestimmten Pflanzen und Tieren, die sich
ganz aufeinander eingestellt haben. Das, was wir an dieser Welt so sehr
bewundern, wird möglich, weil die Schöpferkraft eben an allen Ecken und Enden
in dieser Welt inkarniert und gleichzeitig alle durch ihre Sensitivität
füreinander eint.
So viel zum Advent im Allgemeinen.
Im Besonderen ist der Advent eine Zeit im Kirchenjahr, also eine
alljährlich wiederkehrende Zeit im Leben derer, die sich an Jesus ein Beispiel
nehmen wollen.
Viele wollen heute mit „der Kirche“ (in welcher Gestalt auch immer sie ihnen vor ihrem geistigen Auge
begegnet) nichts zu tun haben. Viele sind enttäuscht, dass die Vertreter dieser
Institution so wenig von dem haben, was Jesus hatte. Diese Enttäuschung ist
verständlich, aber sie hängt auch mit einem Phänomen zusammen, das „Schatten“
genannt wird.
Menschen neigen nämlich dazu, das, was sie bei sich selbst nicht gut
finden, besonders stark bei anderen zu sehen oder, wie Psychologen es sagen
würden, die eigenen Fehler (und auch solche, die sie selbst gottseidank nicht
haben) auf andere zu projizieren, um sich vor diesen dunklen Hintergrund selbst
als „vergleichsweise gut“ abzuheben. Der Schatten ist also das eigene Dunkle,
das wir weniger bei uns selbst, dafür aber umso mehr bei anderen wahrnehmen.
Das ist eine menschliche Schwäche, die fast alle haben. Und diese menschliche
Schwäche spielt eine ganz besondere Rolle, wenn es um das Bild geht, das wir
von denen haben, die eigentlich ein Vorbild sein sollten, weil sie doch diese Vorbild-Rolle
spielen, dann aber auch nicht besser sind – und manchmal sind sie sogar tatsächlich
noch schlechter als wir selbst. Und dieses Urteil über einzelne Personen färbt
dann unser Urteil über die Institution, die diese Personen vertreten. Und das
ist schade, weil uns dadurch der Zugang erschwert wird zu dem Guten, für das
diese Institution ins Leben gerufen worden ist. Durch den schlechten Ruf der
Kirche wird uns auch der Zugang zu ihrem Ursprung erschwert, zu Jesus, und
dadurch auch zu dem Erlösenden, das er uns gebracht hat, zum Beispiel zu dem
Satz: „Ihr seid das Licht der Welt!“ Solange wir daran festhalten, unseren
Schatten auf andere zu projizieren, können wir nicht zu einem Licht für die
Welt werden.
Jetzt ist die Zeit, den Schatten hinter uns zu lassen und Licht zu werden.
Dazu ruft uns der Advent auf.
Das Kirchenjahr führt uns nach und nach die Schlüsselfragen vor Augen, die
uns veranlassen können, in unserem Leben mehr und mehr das sichtbar werden zu
lassen, was Jesus (oder Buddha oder Lao Tse) in ihrem Leben gezeigt haben:
Liebe, Barmherzigkeit, Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Kraft, Mut, Großzügigkeit,
Vertrauen . . .
Das Kirchenjahr beginnt in der dunkelsten Zeit im Jahr, in der Zeit, in der
die Nacht vorherrscht, in der wir mehr als sonst in die Weite des Weltraums
sehen können, und in der wir auch mehr als sonst in unsere eigene Unendlichkeit
schauen und darin das Wunder sehen können, das wir bereits sind und auch das
zweite Wunder, das wir werden können, wenn wir uns dazu entschließen.
Dieses zweite Wunder ist das, was Jesus „Wiedergeburt“ genannt hat. Die
Inder nennen es „Erleuchtung“. Es wird möglich, wenn es uns gelingt, alles
Negative, das auf uns wirkt, all die Ablehnung, die wir erfahren haben und
weiter erfahren, zu transformieren durch das, was wir ersehnen. Transformieren
bedeutet, dass wir die Ablehnung, die uns entgegengebracht wird, eben nicht
weitergeben, sondern dass wir im Gegenteil Anerkennung weitergeben, mit einem
Wort, dass wir uns entschließen, zu einem Licht zu werden, das möglichst viele
erleuchtet.
Wie es zur
Geburt Jesu gekommen ist.
In diesem Sinn hat vor zweitausend Jahren ein Mann gelebt, der allen Grund
gehabt hätte, böse zu werden, aber er wollte nicht böse werden, sondern er
wollte gut werden. Deshalb hat er nach einem Weg gesucht, wie er das Schlimme,
das ihn bedrückte, in etwas Gutes verwandeln könnte. Dieser Mann hieß Josef. Es
war der Mann, der Jesus großgezogen hat.