Armageddon
Notizen zu einem Gespräch mit
Mitgliedern des Sufi Ordens von Scheich Nazim
21. 6. 2002
Der bekannte Sufi-Scheich Nazim hat die Vision, dass es in Kürze zu
einer weltweiten kriegerischen Auseinandersetzung kommen wird und dass „die
Namen der Menschen bereits ausgelöscht sind im Buch des Lebens“.
Seine Anhänger erinnerten an das biblische Armageddon und meinten, dass
das jetzt kommen werde.
Hier wird [für mich] offensichtlich in verhängnisvoller Weise ein Bild
mit der Realität verwechselt, so wie eben oft die Landkarte für die Landschaft
gehalten wird.
Das Bild (die Landkarte), das Scheich Nazim gebraucht, ist richtig:
Natürlich sind die Namen der Lebenden bereits ausgelöscht, denn alle ohne jede
Ausnahme werden sterben. Und für alle wird die Auseinandersetzung mit ihrem Tod
die Stunde der Wahrheit bringen.
Das Ganze aber für ein real geografisches und historisches Schauspiel
zu halten, das ganz konkret mit modernster Waffentechnik aufgeführt werden wird
in einer Art drittem Weltkrieg, ist eben eine Verwechslung von Bild und
Realität.
Viele der ersten Christen waren davon überzeugt, dass der Weltuntergang
und die Wiederkehr Christi noch zu ihren Lebzeiten [als eine äußerliche,
konkret historische Gestalt] stattfinden wird. Sie
verwechselten ebenso dieses Bild [Jesu] mit der Realität. Nach einiger Zeit
wurde den Christen klar, dass das real-äußere Weltende erst später kommt. Das
war eine der ersten Ernüchterungen in der Geschichte des Christentums – nachdem
bereits eine allererste Entillusionierung
stattgefunden hatte, als die Jerusalemer Gemeinde, deren Mitglieder der
Brüderlichkeit wegen alles verkauft hatten, bankrott war und durch Sammlungen
in allen anderen Gemeinden am Leben erhalten werden musste. Auch da war schon
ein Bild mit der Realität verwechselt worden, die sinngemäße Anwendung mit
einer buchstäblichen. Die Verschiebung des Weltendes war einigen der Autoren
der Bibel ziemlich peinlich. Sie mühten sich ab mit letztlich unbefriedigenden Umerklärungen, und manche hielten fest an der
buchstäblichen Interpretation, also an dem, was wir heute als eine Verwechslung
von Bild und Realität bezeichnen können – eine Ausdrucksweise, die es damals
noch nicht gab.
Die Fundamentalisten aller Religionen und aller Zeiten verwechseln
immer Bild und Realität.
Unbewusst scheinen sie zu glauben, sie wären verpflichtet, Bild und
Realität zu verwechseln, weil sie sonst um die Wirkung des Bildes fürchten
müssten – was für einen bewussten Menschen nicht zutrifft, denn ein bewusster
Mensch setzt sich natürlich mit der Realität seines Todes auseinander. Bei ihm
hat das Bild bereits seine Wirkung getan, er hat bereits verstanden und daher
braucht er das Bild nicht krampfhaft festhalten, wie die ängstlichen
Buchstabengläubigen es tun müssen.
Bei Träumen ist uns klar, dass es sich um Bilder handelt, deren
symbolische Bedeutung erst erkundet werden muss.
Für die Bibel ist die Traumsprache ganz normal. Da werden desöfteren Menschen, die quicklebendig herumlaufen, als
„tot“ bezeichnet und es wird von der Möglichkeit gesprochen, dass diese
Menschen wieder lebendig werden, wiedergeboren werden können. An der Tatsache
dieses Sprachgebrauchs gibt es keinen Zweifel, wie das Beispiel vom „verlorenen
Sohn“ zeigt. Das Bild wird wie eine Landkarte verwendet für eine analoge
Realität. Es ist klar, dass es nicht wörtlich verstanden werden kann, sondern
eben nur als Bild.
Auch auf Aussagen vom Ende der Welt und vom letzten Kampf der Mächte um
die Herrschaft in der Welt trifft der analoge Sprachgebrauch zu. Es geht
einfach um die existentielle Auseinandersetzung eines jeden Menschen mit dem
Wesen seiner Existenz.
Ein Nichtverstehen des analogen Sprachgebrauchs der heiligen Schriften
hat in der Geschichte bereits verheerende Folgen gehabt [alle Arten von
Religionskriegen und Verfolgungen anders Denkender] und es hat auch heute noch
verheerende Folgen.
Ein Nichtverstehen [oder Missverstehen] des Bildes, also der Vision von
Scheich Nazim, kann ebenso verheerende Folgen haben. Wenn Scheich Nazim das Missverständnis
nicht aufklärt, kann er dadurch mitschuldig werden am Tod Tausender oder sogar
von Millionen von Menschen – und zwar so [das war bei diesem Gespräch für mich
klar erkennbar]:
Menschen, die glauben, dass ihr Name im Buch des Lebens ohnehin bereits
ausgelöscht ist, haben nichts mehr zu verlieren. Sie werfen ihr Leben weg [ohne
die analog-existentielle Bedeutung des Bildes für ihr Leben zu erkennen] – für
eine Ideologie. In ihrer Ideologie [biblisch und koranisch gesprochen, in ihrem
„Götzenbild“] hat „das Böse“, „der Feind“, einen Namen in der äußeren Welt: Es
sind die, die einen anderen Glauben haben – weil ja auch der Glaube nicht als
das gesehen wird, was er ist, nämlich ein Vertrauen darauf, dass Gott die ganze
Welt und alle Lebewesen in ihr weise lenkt, sondern der Glaube wird von den
Fundamentalisten aller Arten immer als ein bestimmtes Glaubensbekenntnis
gesehen, in diesem Fall nämlich als das Bekenntnis zum Buchstaben des Koran.
Alle, die diesen Glauben nicht haben, werden als „Ungläubige“ und daher als
Feinde betrachtet. Angewandt auf die heutige Welt bedeutet das: Es gibt die
„Gläubigen“ – und das sind alle, die sich an die Regeln des Koran halten – und
die Ungläubigen und das sind alle, die sich an diese Regeln nicht halten. Auch
in dieser Beziehung wird also das Bild [dass der Koran nämlich beschreibt, was
Hingabe ist] verwechselt mit der Realität der Hingabe. Wirkliche Hingabe hat
mit einem bestimmten Bekenntnis natürlich nichts zu tun – im Gegenteil: Alle,
die glauben, sie hätten die Hingabe, weil sie das Bekenntnis haben, geben sich
natürlich nicht wirklich hin, sondern sie haben einen Ersatz für die reale
Hingabe gefunden, nämlich ihr Bekenntnis und ihre Treue zum Buchstaben [dessen
bildlich-analoge Bedeutung sie nicht verstehen].
Scheich Nazim kann durch die Verbreitung seiner Vision unter Umständen
zum Millionenfachen Mörder werden, weil seine Vision den Boden bereitet für
mörderische Konsequenzen dieses
fundamentalistischen Missverständnisses.
Die bei diesem Gespräch real Anwesenden Anhänger von Scheich Nazim
hatten, wie mir scheint ausnahmslos, das Bild von einer islamischen Welt, die
mit Ausnahmen [den Ungläubigen im eigenen Land] identisch ist mit der
geografischen Verbreitung des Islam als Konfession. Und sie alle hatten ein zweites
Bild, nämlich das des Feindes, und dieses Feindbild war ebenso identisch mit
der geografischen Verbreitung der nicht- oder kaum islamischen Gebiete. Grob
standen in dem Bild also Amerikaner und Juden den Arabern und sonstigen
Muslimen gegenüber.
Wenn Menschen, die so ein Bild haben [wo doch der Koran alle Bilder
verbietet!], dazu noch die Vision des Endkampfes gegeben wird, das diese
Menschen natürlich ebenso buchstäblich und nicht analog verstehen, dann müsste
dem Verbreiter dieses Bildes klar sein, dass dieses Bild die logische Wirkung
hat, dass sich mehr und mehr Menschen [unter denen, die sich für „gläubig“
halten] finden werden, die ihr Leben wegwerfen, um diesem Feind zu schaden. Da
der Feind eben plakativ mit der nominell nichtislamischen Welt identifiziert
wird, sind dann Anschläge, wie die gegen das World Trade Center ganz normal.
Und der Urheber [oder Verstärker] des Bildes vom Armageddon trägt dafür eine
Mitverantwortung.