Befreit durch die Krankheit
Die Sache ist im Prinzip so
einfach wie die Bibel sie darstellt:
Da gibt es die Kraft, die
das ganze Weltall auf intelligente und mächtige Weise aus sich hervortreibt.
Ihrer Natur entsprechend ist diese Kraft nicht an Selbsterhaltung interessiert,
sondern es drängt sie, sich zu verströmen – allerdings nicht dumm, sondern auf
eine derart intelligente Weise, daß nach Milliarden von Jahren ein Wesen
erscheint, das diesen Prozeß als solchen erkennen kann.
Wieder typisch für die
"Vorgehensweise" dieser Kraft ist die Tatsache, daß eine der
Voraussetzungen für diese Erkenntnis eine Fähigkeit ist, die jenes Wesen aber
zunächst gerade dazu veranlaßt, seinen Ursprung zu vergessen und entgegen den
Intentionen seines "Schöpfers" die Kraft nur für sich einzusetzen
gegen alle anderen. Diese Fähigkeit ist das Denken mit seiner Unterscheidung
zwischen "gut" und "schlecht" (Gen 2,17). Noch befangen im
Raubtierbewußtsein seiner Vorfahren setzt es die neue Fähigkeit des Denkens
nämlich zur Profitmaximierung ein (Gen 3,6).
Eine typische Grundlage des
Selbstbilds dieses Wesens wären Sätze wie: "Ich bin gut, ihr anderen seid
minderwertig." "Ich habe alles Recht, ihr anderen habt keines."
Das ganze natürlich heruntergeschraubt auf ein im Alltag realistisches Maß
("realistisch" ist etwas, das tatsächlich glaubhaft wirkt – etwa wie
der schon erwähnte Wurm auf der Zunge der Flussschildkröte). Die zweite
Denkvoraussetzung ist die Orientierung an der Vergangenheit mit der Intention,
sich aufgrund vergangener Erfahrungen Vorteile in der Zukunft zu verschaffen.
Gerade durch diese Art der Denkfähigkeit, also durch die Unterscheidung von
"gut" und "schlecht" wurde dieses Wesen fähig, sich von der
Instinktsteuerung abzukoppeln mit allen Folgen für die Gemeinschaft und für die
eigene seelische Gesundheit (Gen 3, 23f.). Unter Aufopferung beider Werte
erreichten manche dieser Wesen dann ungeahnte Macht, die jene anderen, die
darunter zu leiden hatten (z.B. die Autoren der Bibel) zu Überlegungen führte
über die Gründe für diese Entwicklung und über die Folgen. Sie fanden heraus,
daß die Ursache dieses Übels die durch die Idee der Machbarkeit (diese wieder
eine Zukunftsprojektion der Analyse der vergangen Erfahrungen aufgrund der
Unterscheidung von "gut" und "schlecht") angestachelte Gier
ist. Sie fanden, daß die gierigen Wesen einer Art "Geist" folgten.
Und sie gaben diesem Geist den Namen "Baal", Gott der tierischen
Kraft.
Da sie sahen, daß dieser
Geist ein mörderischer Geist ist (Ri 2,13f.), suchten sie nach einem anderen
Geist, der ihnen gegen die Bedrohung durch den "Baal" helfen konnte.
Und sie fanden als diesen anderen Geist erstaunlicherweise die stärkste Kraft,
die überhaupt existiert, nämlich die Kraft, die das ganze Universum und auch
sie hervorgebracht hat. Die Bibel nennt diesen Geist "JAHWE" (Ex
3,14ff.). Es ist der Geist der Hingabe und gleichzeitig der Geist der Wahrheit,
denn wahr ist, daß die tiefste Sehnsucht der Menschen eben nicht das Raffen, sondern
die Hingabe ist. Und die Menschen erkennen: Sie können sich mit dieser Kraft
verbünden und im Bündnis mit dieser Kraft erfahren sie eine ungeahnte Resonanz:
Die ganze Natur kommt ihnen zu Hilfe (Gen 22,13; Ex 6,1; 7,1-11,10 etc.). Und
außerdem gibt ihnen diese Kraft unglaublich (für den denkenden Verstand)
kreative Ideen (Ri 7,7 etc.). Die Ideen, die aus dem Bündnis mit dieser Kraft
kommen, sind nämlich keine Berechnungen aus vergangenen Erfahrungen, sondern
sie beziehen alle Fakten der Gegenwart augenblicklich ein auf eine Weise gegen
die es letztlich keine Abwehr gibt, denn die schöpferische Intelligenz selbst
steuert jetzt unmittelbar das Geschehen.
Im Bewußtsein dieser Kraft
zu leben, so entdeckten sie, ist von Anfang an die tiefste Sehnsucht aller
Menschen. In Übereinstimmung mit ihr erleben sie das höchste Glück. Getrennt
von ihr fühlen sie sich entfremdet – trotz all der Vorteile, die sie sich
vielleicht verschaffen konnten. Außerdem sind die Vorteile naturgemäß
beschränkt und nur wenige erreichen sie, die Mehrheit muß für die Vorteile
bezahlen, die sich einige wenige verschaffen konnten.
Jene leidende Mehrheit ist
aber mit der über sie herrschenden Minderheit der Meinung, sie müßten auch
jenem Geist der tierischen Kraft folgen. Diese Meinung äußert sich beispielsweise
in der Faszination der Macht (Offb 13,4 .13-17 etc.) mit all den bekannten
Folgen nicht nur des Fasz-ismus. Natürlich macht aber auch die leidende
Mehrheit die Erfahrung des Erfolgs dieses Geists: Sie geben den Druck nämlich
einfach nach unten weiter. Und den letzten beißen dann bekanntlich die Hunde.
"Da kann man nichts machen, die sind sowieso minderwertig", denkt
man.
Nun ist es aber so, daß eine
überwiegende Erfolglosigkeit irgendwann seine Wirkung hat. Das Selbstbild vom
"gut"-sein läßt sich nicht aufrechterhalten. Die Welt ist am
Zusammenbrechen (z.B. Mk 13,2). In solchen Situationen kann es vorkommen, daß
eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Art zu leben ins Bewußtsein dringt, die
Sehnsucht nach jener anderen Art von Geist, nach jenem nämlich, der Leben gibt.
Es kann aber auch sein, daß
ihr Bewußtsein noch mit "Baal" identifiziert ist, während ihr
Organismus (der von der "Seele", also von einer in diesem Fall
unbewußten, individuellen geistigen Oberinstanz, gesteuert ist) bereits nicht
mehr mitmacht. Denn wenn die Aussicht schwindet, Glück erfahren zu können, dann
reagiert "der Organismus" mit einer Art "Störung" – so
zumindest sieht es für den berechnenden Verstand (der aufgrund seiner
selbstgewählten Abkopplung von den organischen Prozessen nichts von deren
Impulsen registriert hat) aus. Es ist in Wirklichkeit ein Versuch, die
tatsächliche Störung, nämlich das geistige Gefängnis, die geistigen Mauern, die
den Menschen daran hindern, seiner Berufung zu folgen, abzuschütteln – und wenn
alle Versuche der Selbstkorrektur nicht helfen, aus der Welt zu scheiden –
möglicherweise um anderswo einen neuen Versuch zu starten.
Etwas Unbeabsichtigtes,
"Schlechtes" erscheint, ein "Fehler"; so sieht es für den
"Baal" (= für den Verstand) aus. Für den Geist des Alls gibt es
natürlich keinen "Fehler", sondern seine Kraft, die das Symptom
verursacht (z.B. Offb 16), strebt – für das mit seinen gewohnten Urteilen
identifizierte Ich unbewußt – nach einer Lösung des Krampfs, der durch diese
Urteile aufgetreten ist. Die Krankheit ist also nicht ein Fehler der Natur,
sondern eine Erscheinung, die eine Behinderung des Geists anzeigt. Verschwinden
kann sie daher erst, wenn die Behinderung aufgehoben wird.
Ein Beispiel für eine
derartige Behinderung durch gedankliche Barrieren ist u.a. die Moral (z.B. Mt
23,4), die den befallenen Menschen in eine Art Gefängnis sperrt, aus dem er
möglicherweise nur anfallsartig, z.B. in Form einer Manie, ausbrechen kann –
oder in Form einer Depression. Es könnte natürlich auch ein
"Verbrechen" sein oder eine körperliche Krankheit oder auch eine
Schizophrenie, aber bleiben wir beim Beispiel von Manie und Depression:
In der Manie bekommt ein
Mensch Zugang zu sonst verborgenen Kräften (Mk 5,2 ff.). Die persönliche
Bewußtseinsentwicklung entspricht allerdings noch nicht der Kraft, die der
Maniker demonstriert. Dadurch erscheint er als wahnsinnig. Doch sein Organismus
treibt ihn zu der Flucht nach vorne, weil das eigentliche Hindernis, das
geistige Gefängnis, im normalen Bewußtseinszustand nicht als solches erkannt
ist und daher auch nicht überwunden werden kann.
Ähnliches gilt für die
Depression, nur daß bei den Depressiven die Lösung, die der Organismus anpeilt,
der Rückzug ist.
Da in der Welt des
"Baal" Manie und Depression als Fehler der Natur gelten, die
korrigiert werden müssen, wurden in unserer Zeit Chemikalien erfunden, die
diesen Tendenzen der Natur entgegenwirken. Als Ausweg gibt es heute daher zwei
Möglichkeiten, entweder (1) Medikamente, die den Maniker von seinem Höhenflug
herunterholen bzw. Antidepressiva, um die Stimmung des Depressiven anzuheben –
oder (2) den Ausbruch aus dem geistigen Gefängnis im Alltagsbewußtsein.
Solange sich die äußeren
Bedingungen (d.h. die Grundprogrammierung des Bewußtseins) nicht ändern, wird
der Organismus seine Strategie beibehalten. Daher wird der erste Weg eine
dauernde Abhängigkeit von diesen Substanzen schaffen und die
"Störung" perpetuieren. Der Weg in die Freiheit führt daher nur über
eine Veränderung des Bewußtseins.
Der erste Schritt zu einer
derartigen Veränderung des Bewußtseins ist es, das Gefängnis als solches zu
erkennen.
Außer der Moral bzw. der
Angst vor dem, was andere denken könnten, kann es auch jede andere Art von
Abhängigkeit sein. Letzten Endes wird die Abhängigkeit immer zu tun haben mit
dem, was die Autoren der Bibel als Ursache des Problems diagnostiziert haben
(Gen 2,17), nämlich mit der Programmierung des Bewußtseins auf den Einsatz der
aus vergangenen Erfahrungen abgespeicherten Bewertungen über "gut" und
"schlecht" als Lebensorientierung.
Basis der Befreiung dagegen
ist die Erinnerung an die Kraft (Num 10,9f.), die uns hervorgebracht hat und
die nichts mehr will, als daß wir in ihrem evolutionären Sinn leben. Das können
wir aber nur, wenn wir frei sind (von Abhängigkeiten, von Vor-Urteilen etc.,
vgl. Ex 20,3ff.). Da wir uns am Anfang unseres Weges in die Freiheit aber
selbst nicht trauen, bekommen wir als Ermutigung einige Erzählungen von den
Erfahrungen anderer mit dieser Kraft. Diese Erzählungen stehen in den heiligen
Schriften aller Völker. Und sie sagen uns übereinstimmend, daß die Kraft mit
dem ist, der sich traut (Ri 6,14), sich auf den Weg zu ihr zu machen. Auf dem
Weg zu ihr nämlich wird sie mit uns sein und letztlich wird uns kein Hindernis
aufhalten können. Solange wir uns allerdings nicht an diese Kraft erinnern,
sondern glauben, uns aus "eigener" Kraft befreien zu müssen, bleiben
wir innerhalb der Kategorien unseres Gefängnisses (d.h. abhängig von fremden
Göttern) und wir können nicht frei werden (z.B. 1 Sam 15,9). Die Kategorien
unseres Gefängnisses sind, wie gesagt, unsere vergangenen Erfahrungen, sie
halten uns in der Vergangenheit fest. Die Kategorie der schöpferischen Kraft
dagegen ist die totale Präsenz. Auf dem Weg zu ihr müssen wir alle Vor-Stellungen
loslassen (z.B. Ri 7,5). Weil wir uns mit diesen aber identifizieren, müssen
wir vor allem unser Bild von uns selbst loslassen – aber eben nicht wie die
Maniker es tun, indem sie glauben bereits zu sein, was sie bis jetzt doch nur
dem Keim nach sind, sondern indem wir unseren Spielraum Zentimeter um
Zentimeter erweitern, indem wir nämlich auf ähnlich mühsame und gefährliche
Weise unsere geistige Freiheit erobern, wie wir es beim Ausbruch aus einem
physischen Gefängnis tun müßten. Der Ausbruch wird uns gelingen. Weil die
Tendenz, sich gewohnheitsmäßig zu verhalten aber einen ständigen starken Zug
auf uns ausübt, müssen wir dieser Trägheits-Kraft mit einer ständig zu
wiederholenden Übung begegnen: Wir müssen uns nämlich immer wieder daran
erinnern, daß die Kraft des Alls unsere Freiheit will und daß sie,
gewissermaßen persönlich, die Gelegenheiten schaffen und uns die nötigen Ideen
geben wird, sobald wir tatsächlich mit konkreten Schritten anfangen, selbst zu
leben.