Das Konzept „Schuld“ ist obsolet
17. 7. 2002
Der
moralische Teil des Konzepts der Schuld entspricht nicht der Realität, er ist
eine Fiktion, die den Tatsachen nicht gerecht wird.
Die
Tatsachen sind die, dass es ein unausgeglichenes Geben und Nehmen gibt und dass
ein Überhang an Geben unter Umständen einen rechtlichen Anspruch begründet,
dass es einen moralischen Anspruch aber nicht gibt.
Der
Ausgleich im Geben besteht außerdem nicht unbedingt darin, dass jeder Austausch
ausgeglichen sein muss, denn es gibt auch ein berechtigtes einseitiges Geben
oder Nehmen. Der Ausgleich besteht nämlich wie in allen Kreisläufen darin, dass
der Überschuss abgegeben wird und dass das Nötige eingeholt wird. Jeder gibt
von seinem Überschuss und holt sich etwas für seinen Mangel.
Wenn
sich jetzt jemand beschwert, nicht genug bekommen zu haben, muss klar sein,
dass der moralische „Rechtsanspruch“, den er erhebt, in Wirklichkeit gar nicht
besteht. Denn in jedem Austausch bleibt doch jeder frei, eine Rückgabe auch zu
verweigern. Es ist dann an dem, der den Anspruch gestellt hat, seine
Konsequenzen daraus zu ziehen, und eine solche sollte in seinem eigenen
Interesse nicht sein, dass er auf seinem ideellen Anspruch beharrt. Ein
Rechtsanspruch besteht nur bei bestehenden Verträgen.
Es
geht mir nicht darum, einen Täter oder einen Schuldner, der den Ausgleich
verweigert, zu rechtfertigen, sondern darum, dem vermeintlichen Opfer einen
Ausweg zu zeigen aus seinem Gefühlschaos.
Dazu
noch ist die Frage nach der subjektiven „Schuld“ eines Täters oder eines
Schuldners zu klären.
Die
instinktive Reaktion auf eine Behinderung ist, dass der in irgendeiner Weise
Behinderte böse wird. Im Idealfall erreicht er damit den Behinderer
und löst in ihm ein Erschrecken aus, das ihm die Wirkung, der von ihm
ausgehenden Behinderung zum Bewusstsein bringt und ihm ermöglicht, dem anderen
eventuell aus dem Weg zu gehen. Das ist der Sinn dieses biologischen Programms.
Wenn der Behinderer aber nicht greifbar ist [oder
eventuell zu mächtig], richtet sich das böse Sein oft gegen Dritte, die mit der
Sache nichts zu tun haben. Da beginnt das Problem. Es ist ein Problem der
Unbewusstheit. Die „schuldig“ Genannten sind Menschen, die böse oder bei Aussichtslosigkeit
depressiv geworden sind, weil sie behindert wurden. Und aufgrund weiterer
Behinderungen sind sie nicht imstande, ihre Behinderungen zu reflektieren.
Solche Menschen zu verurteilen, sie also „schuldig“ zu sprechen, fügt den
bereits vorhandenen Behinderungen noch eine weitere hinzu. Mitgefühl mit ihrer
Behinderung dagegen würde für sie erlösend wirken. Solches Mitgefühl hatte
Jesus. Damit waren die Menschen, die ihm begegneten, ihre Schuld los. Weil er
diesen Zusammenhang sah, hat er vor dem Verurteilen gewarnt und für das
Mitgefühl plädiert. Mitgefühl ist einfach das Wahrnehmen einer Tatsache, es ist
ohne jegliche Moral.
Verurteilung
hat ihren Ursprung immer in Moral, also in einem sozialen Regelsystem, das
bekanntlich immer hinter den Umständen der Zeit herhinkt, wo es immer wagende
Pioniere braucht, die dem Alten widerstehen. Sie sind es, die das Neue möglich
machen. Jesus war so ein Pionier. Die Pioniere sehen die Dinge wie sie sind,
d.h. in ihrer Relativität. Sie lehnen daher die Verurteilung ab, in der die
Relativität eben nicht gesehen wird. Sie plädieren für das Echte, nicht für das
Angelernte. Das Angelernte führt zur Verurteilung, denn da gibt es richtig und
falsch. In der Natur gibt es das nicht, da gibt es nur stärker und schwächer, sich
durchsetzen oder unterdrückt werden. Das hat nichts mit richtig und falsch zu
tun, sondern nur mit Fähigkeiten und Einsatz. Da die Fähigkeiten naturgegeben
sind, geht es nur um den Einsatz.
Es
geht daher auch nicht darum, die Schwachen zu verurteilen oder die
Rücksichtslosen, sondern es geht darum, sie zu verstehen. Dann können sie
geführt werden, auch die Rücksichtslosen. Im Neuen Testament steht dafür die
Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus.
Mitgefühl heilt, Verurteilung macht krank und böse, weil sie zusätzlich noch
behindert.
Deshalb
ist das Konzept „Schuld“ obsolet. Es trifft weder den individuellen noch den
sozialen Aspekt dessen, was in dem Begriff selbst gemeint ist.
Früher
war man auf Unterscheidung aus und man hat grobe Unterscheidungen getroffen,
gut/böse. Heute ist man immer noch auf Unterscheidung aus, aber es geht um viel
feinere Unterscheidungen, in denen dann gut/böse überhaupt keine Rolle mehr
spielt.
Es
geht heute einfach darum, die Menschheit als einen Organismus zu sehen, in dem
jeder Teil seine wichtige Rolle im Ganzen spielt und nicht wegzudenken ist. Es
geht daher um eine Konstellation, bei der alle gewinnen und möglichst niemand
verliert, denn die Verlierer sind gefährlich oder zumindest eine Last, wozu
also sich welche züchten durch Verurteilungen und Ausgrenzungen?
Viel
besser als Hitler und die Nazis zu verurteilen, ist Mitgefühl mit ihnen zu
haben, mit ihrer Schwäche, die sie so verzerrt durchsetzen müssen. Arme Teufel
– nur natürlich, dass solche armen Teufel immensen Schäden anrichten und
Menschen umbringen, das darf nicht zugelassen werden. Entscheidend aber ist die
Einstellung, ihnen gegenüber.
Arme
Teufel sind nicht attraktiv, Verurteilte aber sind oft Helden mit ungeheurer
Anziehungskraft, wie wir an A Qaeda und an den
palästinensischen Selbstmordattentätern sehen können. Wer also an der Wirkung
interessiert ist, und alle behaupten, es zu sein, muss sehen, dass die
Verurteilung nicht den Erfolg hat, den man sich von ihr verspricht. Sie
schmeichelt nur dem eigenen Ego – und macht damit das Gleiche, wie der
Verurteilte. Das ist schade, vergeudete Energie.
Es
gibt eben den anderen Weg, der ohne Verurteilungen auskommt, der die Menschen
gewinnt, anstatt sie zu verstoßen.
Lao
tse beschreibt diesen Weg so: „Die gewöhnlichen
Menschen vertrauen den Treuen, den Untreuen vertrauen sie nicht. Der Weise
vertraut auch den nicht Vertrauenswürdigen.“ Er gewinnt sie.
Auch
was die subjektive Seite des Begriffs „Schuld“ betrifft, müssen wir sagen, dass
der Begriff heute unangemessen ist, weil unzureichend. Es ist besser von
Verantwortung vor sich selbst zu sprechen. „Schuld“ ist hier zwar ein Faktum
der Realität, aber eben nicht als moralische „Schuld“, sondern ausschließlich
als Frage nach unausgeglichenem Geben und Nehmen, wie schon oben beschrieben.
Ein
Mensch, der sein Leben selbstverantwortet lebt, gibt sich Rechenschaft über
sein Geben und Nehmen. Und das Kriterium ist nur das wohldosierte und genau
gerichtete Abgeben des Überschusses und desgleichen beim Ausgleich des Mangels
– eben nicht nur für sich selbst, sondern in Beziehung zu den Überschüssen und
Mängeln seiner Umwelt.
„Schuld“
und „Strafe“ sind der Realität nicht angemessen. Die Strafe bewirkt nicht, was
sie zu bewirken verspricht, nämlich eine Besserung. Sie bewirkt eine
Verschlechterung. Sie macht den schon bösen noch mehr böse. Das hat Jesus
gesehen. Deshalb hat er von diesem Weg abgesehen, den seine Nachfolger dann
wieder aufgegriffen haben.
Und
auch die ursprüngliche Absicht der alttestamentlichen Regel „Aug um Auge“ ist
keine moralische und es ist auch keine Strafabsicht, sondern es geht einfach
darum, den Missetäter fühlen zu lassen, was er angerichtet hat in seiner ganzen
Tragweite.
Diese
Art sozialer Dimension der Missetat entspricht den heutigen Verhältnissen aber
gar nicht mehr. Die heutigen sozialen Maßnahmen müssen, den heutigen
Unterscheidungsmöglichkeiten entsprechend, viel mehr einbeziehen. Sie müssen
vor allem die persönliche Ebene einbeziehen, denn die spielt in unserer Zeit
die Hauptrolle.
Auf
der persönlichen Ebene aber gibt es eine Auflösung ohne „Sühne“. Lao tse sagt dazu: „Wer schuldig ist, auf dem Weg wird er
entkommen“.
Der
„Weg“, von dem er spricht und der als „Tao“ bekannt ist, ist der Weg des
Fühlens und des Wahrnehmens und des Fließens im Strom des Seins.
In
unserer Zeit braucht es daher Schulen
dieser Sensitivität. Sie werden von anderen Kriterien ausgehen, als von
„Schuld“ und „Strafe“. Sie werden die Kraftlinien sichtbar machen, die dazu
geführt haben, dass ein Mensch so ist, wie er ist und die ihn festhalten in
einer ungünstigen Position. Das Gebot der heutigen Zeit ist es, die Menschen
frei zu machen, so weit es möglich ist, gehorsam nicht mehr dem Gebot eines
Despoten, sondern Gehorsam dem eigenen Sein gegenüber, das sich von selbst
einordnet in das große Ganze. Diese Freiheit ist nur möglich von einer
umfassenden Schau aus – und die ist nur zu erlangen, wenn die Widersprüche
geklärt sind, wenn das Dunkel aufgehellt ist. Daher ist der vorgezeichnete
Lebensweg eines jeden Menschen, ein Weg zur Bewusstheit.
Die
Realität ist eben nicht zu ändern: Aus Steinen sind bewusste Menschen geworden
und auch die Menschen selbst müssen, jeder für sich, diese Evolution
nachvollziehen vom unbewussten Stein zum Fließen der Bewusstheit. In dieser
Evolution gibt es verschiedene Ebenen, die gewöhnlich Generationen dauern,
bevor ein Aufstieg in eine höhere Ebene möglich wird. Das meine ich jetzt nicht
in einem esoterisch-gnostischen Sinn, sondern im Sinn der tatsächlich
vorfindbaren Stadien und Stammes- und Familientraditionen, von denen jedoch
keine ein unbedingtes Verdikt für ein Individuum ist, es ergeben sich daraus
aber gewisse soziale Wahrscheinlichkeiten. Daher wird es immer so sein, dass
viele Menschen sehr unbewusst leben und in diesem unbewussten Leben stark
verstrickt sind und dass es immer relativ wenige sein werden, die zu vollem
Bewusstsein erwacht sind. Aber die Aufgabe dieser Wenigen ist es eben, die
Bewusstheit der anderen zu fördern. Das ist nicht eine moralische
Verpflichtung, sondern es ist eine innere Aufgabe, von der die Bewussten
wissen.
Es
geht also darum, wegzugehen von dem Konzept der Schuld hin zum Konzept der
Bewusstheit und des differenzierten Wahrnehmens.
Diesem
neuen Konzept [das natürlich das alte und immer schon ursprüngliche Konzept der
Evolution selbst ist, das auch in den alten Meistern und in ganzen Stämmen
sichtbar geworden ist], muss sich die Religion heute verschreiben – wie immer
schon – wenn sie wahr sein will. Sie muss abrücken vom Konzept der Schuld hin
zu der differenzierten Betrachtung, in der sich jede Schuld auflöst, weil die
Kraftlinien sichtbar geworden sind. Dann wird die Religion wieder eine heilende
Wirkung haben.
Der
Gott dieser Religion ist die Kraft der Evolution, die auch in uns wirkt und die
uns in Richtung Bewusstwerden treibt. Wir können darauf vertrauen. Es ist so
etwas wie ein biologisches Programm, das allem Sein eingepflanzt ist. Es treibt
uns und alle [schon die Elektronen] in Richtung Auflösung der Widersprüche, die
uns in unserer sozialen Programmierung eingebläut worden sind. Dazu müssen die
Widersprüche oft erst klar werden, sich also leider oft sehr drastisch zeigen,
eventuell sogar in kriminellen Aktivitäten oder in politischem Wahnsinn.
Was
da ist, muss ans Licht kommen. Wo Dunkel war, muss Licht werden.
Daher
ist es nötig, auch denen, die kriminell geworden sind, die Chance zu geben, das
Licht zu sehen, d.h. sich selber wirklich zu verstehen. Es ist dazu nötig, die
Kraftlinien sichtbar zu machen, die zu dem Zustand geführt haben und ein
Mitgefühl [im Gegensatz zum Selbstmitleid, das ja schon ein Produkt der
Depression ist, in der die Wahrnehmung ja bereits stark eingeschränkt ist] mit
sich selber zu entwickeln für das Grauen, das ihm zugrunde liegt. Ein Fehlen
von Licht kann nur durch ein mehr an Licht überwunden werden. Mit den üblichen
religiösen Methoden heute ist das nur bei wenigen möglich, die meisten
Kriminellen werden sich von der Religion eher vergewaltigt fühlen. Sie werden
sie nur in einem abergläubischen Sinn verstehen können. Und sie wollen ja
gerade nicht abergläubisch sein. Es gibt aber einen Zugang zu ihnen, der keine
übernatürlichen Annahmen verlangt, nämlich den Zugang des Forschens und
Verstehens der Zusammenhänge – in dem natürlich bei dem Forscher immer
mitschwingt, dass er selbst bereits die großen Zusammenhänge versteht,
besonders das Wirken der schöpferischen Kraft in uns. In diesem Geist hat Jesus
den Zöllner vom Baum heruntergeholt. Er hat seine Sehnsucht angesprochen und
damit den Bann gelöst, in dem Zachäus stand und der
ihn zum Ausbeuter gemacht hatte.
Dieser
Bann, in dem fast alle Menschen mehr oder weniger stehen, ist wieder nichts
Mystisches [das ist kein „Teufel“ am Werk], sondern es sind die Kraftlinien,
die sie mit ihrer Vergangenheit verbunden haben. Jesus hat diese Kraftlinien
nicht abgeschnitten, sondern er hat die Verbindung mit der schöpferischen Kraft
in dem Mann angesprochen und damit ist eine größere Kraft ins Spiel gekommen,
die die alten Fesseln gesprengt hat. Schamanen würden das als eine schamanische
Tat ansehen.
Schamanen
sehen diese Kraftlinien in Form archetypischer Bilder und durch diese Bilder
verständigen sie sich mit ihren Klienten und führen sie zurück zur Kraft ihrer
Seele, eben zu der schöpferischen Kraft in ihnen.
Jesus
hat ebenso archetypische Bilder verwendet, etwa das Bild des himmlischen
Vaters. Es ist ein Bild. Seine Realität ist eine andere, nämlich die der
Wirklichkeit, in der die schöpferische Kraft ja wirkt auch ohne solche Bilder.
Die Linien der Verstrickung in eine Starre ist bei den Gnostikern so
beschrieben worden, dass eine Seele ein Lichtfunke sei, der ins Dunkel der
Materie gefallen sei und sich daraus befreien müsste, um wieder zum Licht
zurückzukehren. Auch das ist ein Bild und nicht die Realität. Das Bild mit der
Realität zu verwechseln war das Problem der Gnostiker. Die Realität ist, dass
der Gott, von dem alles seinen Ursprung hat und der sich in seiner Schöpfung
verströmt hat, in ihr wieder zum Bewusstsein kommt, überall danach drängt, zum
Bewusstsein zu kommen. Darum geht es daher in jeder menschlichen „Suche“.
Wieder Augustinus: „Unruhig ist unser Herz bis es ruht in Dir.“ Es ist ein
natürliches Programm, der tiefste Drang aller Evolution. Ans Licht! Das Programm
enthält nicht einen bestimmten Kurs, sondern nur den Drang zur Auflösung der
Widersprüche. Das reicht. Dieser Drang ist der Drang der Evolution vom Urknall
an. Auch der Urknall selbst wird als eine solche Auflösung eines Widerspruchs
zu verstehen sein und ich sehe den Widerspruch, der durch den Urknall aufgelöst
worden ist, in Gott selbst.
So
gesehen gibt es wieder keine Schuld, denn dieser Drang nach Auflösung der
Widersprüche nimmt die abenteuerlichsten Formen an, so bunt wie die Welt, auch
so grauenhaft. Aber so betrachtet, gibt es eine Lösung, nämlich diesen
natürlichen Drang zu unterstützen, wodurch der betroffene Mensch möglicherweise
manche der gefährlichen Klippen umschiffen kann.
Diese
Unterstützung sieht auf gewissen Ebenen der Entwicklung so aus, dass
grauenhafte Formen das Grauen auch von außen gespiegelt bekommen. Die Ebene des
„Aug um Auge“ ist also eine spontane Realität des Lebens und darüber hinaus als
Gesetz kennzeichnend für eine bestimmte Stufe der Evolution der Bewusstheit. Es
geht daher nicht darum, sie abzuschaffen [das wäre gar nicht möglich, weil es
eine notwendige Evolutionsstufe ist, die auch heute noch für gewisse Menschen
ansteht], sondern darüber hinaus zu sehen.
Wer
darüber hinaus sieht, sieht die Perspektive des Ganzen. Er ist bewusst – und
ist sich damit auch seiner eigenen Beschränktheit und Fehlerhaftigkeit [=
Behindertheit] bewusst. Aber diese Fehler [aus den vergangenen Behinderungen]
spielen für ihn jetzt nicht mehr die Rolle, die sie zu seinen unbewussten
Zeiten gespielt haben. Sie sind kein Verhängnis mehr, sondern jetzt Teil der
Perspektive des Ganzen. Das Karma ist aufgelöst, aber es bleibt doch die
Behinderung, wie beispielsweise bei dem biblischen Jakob, der von seinem Kampf
mit Gott einen bleibenden Schaden in der Hüfte davongetragen hat. Das ist unser
menschliches Schicksal, was das Materielle betrifft, sind wir nicht perfekt,
wir müssen ja auch sterben, aber was das Geistige betrifft, sind wir perfekt
samt unserer Behinderung. Und das führt uns über den Tod hinaus – wieder nicht
unbedingt subjektiv persönlich [also materiell], aber was unseren Geist
betrifft.
So
lebt beispielsweise Jesus heute noch unbezweifelbar als ein
bewusstseinsfördernder Geist. Leider wird sein Name von bewusstseinstötenden
Menschen [unbewusst] missbraucht – aber auf der Stufe der Bewusstheit, auf der
sie sich befinden, ist das eben unvermeidlich. Es ist ein notwendiges
Evolutionsstadium. In diesen Stadium befindet sich der
religiöse Mainstream – und auch der Mainstream der Esoterik. Aber, richtig
gefördert, kann ein Mensch solche Stadien abkürzen. Das meint Jesus mit seinem
„wenn diese Tage nicht abgekürzt würden, könnte es kein Mensch ertragen“. Sie
werden abgekürzt durch diejenigen, die Ihrer Aufgabe, Bewusstheit zu
verbreiten, nachkommen. Aber jeder kann eben nur das aufnehmen, was seinen
Fähigkeiten entspricht – und die Fähigkeiten wieder entsprechen den jeweiligen
Evolutionsstufen.
Das
Konzept „Schuld“ entspricht eben auch einer bestimmten Stufe der Evolution der
Bewusstheit. Es ist genauso wie das der Beschuldigung von unserer heutigen
Warte aus betrachtet, ein dunkles Konzept, eine Art Neandertal-Konzept.
Das
sich schuldig Fühlen entspricht subjektiv dem Konzept der Schuld. Es ist ein
ähnlich dunkles, unreflektiertes Gefühl wie Hass. Genausogut
wie das sich schuldig Fühlen könnte eine Religion auch Hass predigen, was ja
oft genug auch geschieht.
Die
biblische Geschichte vom Beschuldiger Kain dagegen lehrt etwas anderes, nämlich
die Erhellung dieser dunklen Gefühle; sie lehrt Bewusstheit.
Solange
Menschen dem dunklen Schuldgefühl folgen und sich von ihm leiten lassen, sind
sie gefangen in einer Emotion, aus der es keinen Ausweg gibt. Sie leben in
einer Fiktion, die sie für die Realität halten. Das ist auch der Grund für die
Erfahrung, dass der Weg zu Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Die Welt
des gut/böse und von Schuld und Strafe ist fiktiv, weil sie nicht funktioniert.
Das Ziel der Absicht, nämlich die Besserung, wird nicht erreicht.
Der
Weg der Besserung im Konzept der Schuld beruht ja gerade auf den guten
Vorsätzen, die leider unrealistisch sind und sein müssen, weil sie die
wirklichen Zusammenhänge, die Kraftlinien, nicht mit einbeziehen. Auch die
„Reue“ bleibt daher kurzsichtig, obwohl sie ein gewisses Wahrnehmen des Leidens
am eigenen Unvermögen einleiten kann, das dann zu einem Nachforschen nach den
Gründen führen kann – mündend in der vollständigen Kapitulation vor der alles
beherrschenden schöpferischen Kraft, dies jedoch sehr selten tut. Und kaum je
dringt die Reue zu den Wurzeln des Übels vor. Eine wahre Umkehr kann es aber
nur geben, wenn die Zusammenhänge, also die wirkenden Kräfte verstanden werden.
Und da kommen wir mit dem Konzept der Schuld nicht hin. Im Gegenteil, in dieser
Einsicht löst sich jede Schuld und jede moralische Beurteilung auf. Stattdessen
entsteht, wie gesagt, Mitgefühl. Erst auf dieser Ebene der persönlichen
Evolution ist ein Mensch frei. „Frei“ heißt frei von unbewussten Zwängen, daher
frei, sich nach bestem Wissen zu entscheiden. Von da an folgt dieser Mensch
nicht mehr einem äußeren Gesetz, sondern seiner eigenen Wahrnehmung, die er
jetzt ja nicht mehr bezweifeln muss. Es gibt also keine [äußerlichen, sozialen]
moralischen Kriterien zu einer Verurteilung mehr, es gibt nur noch ein
Kriterium und das ist das der inneren Wahrheit. Doch darin gibt es auch
weiterhin eine Feststellung von Tatsachen, der Diagnose dessen, was ist, das
Sehen einer bestimmten Evolutionsstufe der Bewusstheit.
So
etwas war das „Urteil“ Jesu über die Pharisäer. Er hat nur festgestellt, dass
sie sich auf einer vergleichsweise primitiven Evolutionsstufe der Bewusstheit
befanden. Das hat sie geärgert. Aber es war keine moralische Verurteilung, es
war nur die Feststellung dieser Tatsache. Er hat sie gewissermaßen gewogen und
für zu leicht befunden. Dass sie sich geärgert haben, lag daran, dass ihnen
jemand einen Spiegel vorgehalten hat, gesagt hat, dass ihr Selbstbild mit der
Wirklichkeit nicht übereinstimmt, und dass sie deshalb so machtlos waren.
Dieser kurze Blick in die Realität, den Jesus ihnen vermittelte, riss ein
großes Loch in ihr Bild von sich selbst. Sie haben sich revanchiert durch ihr
Todesurteil gegen ihn – wie diese Art Leute auf dieser Evolutionsstufe das eben
immer machen. Sie müssen geifern und Feuer speien. Sie sind die leibhaftige
Form des Drachens, von dem die Bibel spricht.
Die
Höllenbrut ist ein Ergebnis des nicht Annehmens dessen, was ist. Wer seine
Behinderungen nicht vollkommen annimmt, kann in sich nur Hass erzeugen. Diesen Hass
versuchen religiös-zwanghafte Leute aber mit einem perfekten Regelsystem zu
überwinden, in dem es klare Unterscheidungen von gut und schlecht gibt, die
Moral. Sie wollen sich einem Zwang unterwerfen, um einen Ausweg zu finden aus
ihrem unbewussten Grundwiderspruch, nämlich dass sie das Leben nicht so
annehmen, wie es ist. Sie wollen es beherrschen – aber es lässt sich nicht
beherrschen, es lässt sich nur annehmen.
Es
geht nun aber wieder nicht um eine Verurteilung der Höllenbrut, die sich oft
einen heiligen Anschein gibt, sondern darum, sie zu verstehen. Solange noch ein
Widerspruch da ist oder ein Verteidigen eines Bildes, also der klassische Fall
des Götzendiensts, ist die Hölle noch da. Erst wenn die Bilder vollkommen als
das anerkannt sind, was sie sind, nämlich Bilder, nicht die Wirklichkeit, ist
die Wirklichkeit da. [Natürlich ist das der Sinn des Bilderverbots in den
Religionen, wird aber meistens missverstanden als Verbot äußerlicher Bilder]
Die Wirklichkeit „ersetzt“ die Bilder. Sie ist Bild genug. In ihr ist alles
sichtbar, auch die geheimsten Regungen.
Einem,
der sieht, kann nichts verborgen werden, jedenfalls nichts, was ihn wirklich
interessieren würde. Es wird sich seinem Blick entdecken. So hat sich die Natur
der Pharisäer [ihr „Ego“], also der damaligen Frommen, den Blicken Jesu
enthüllt und er hat sie gesehen als „übertünchte Gräber“, also als unehrliche
Menschen, als Menschen, die noch nicht zu vollem Bewusstsein gelangt sind, aber
den Anspruch erheben, bei vollem Bewusstsein zu sein. Das bedeutet Verstehen.
Er musste sie mit ihrem Widerspruch konfrontieren und ihnen demonstrieren, was
Bewusstheit wirklich heißt, nämlich dieses Sehen der Wirklichkeit. Und aus
diesem Sehen der Wirklichkeit heraus hatte Jesus die Kraft, die heilt. Die Pharisäer
hatten die nicht. Und doch behaupteten sie, zu wissen, was der Allmächtige
will. Da sie ihr Gesicht wahren wollten, obwohl sie längst entlarvt waren,
mussten sie ihn beseitigen. Das ist der Gang der Dinge. Aber sie hatten die
Chance und einige von ihnen haben sie auch ergriffen und ihren Widerspruch
betrachtet und aufgelöst.
Die
Materie ist träge, daher konnten sich viele nicht in Richtung Bewusstheit
bewegen. Sie haben sich wie Kain von ihren ihnen unbewussten Emotionen
wegreißen lassen und haben ihren Bruder getötet in dem Glauben, einen Feind
beseitigt zu haben. Dieser „Feind“ ist eine Illusion, die bedingt ist durch den
inneren Widerspruch, durch die dunkle Stelle, denn der „Feind“ ist eigentlich
ein Freund, ein Freund der Evolution, der persönlichen Entwicklung hin zur
Freiheit. Aber genau von diesem Freund fühlen sie sich bedroht, weil er auf
ihre dunkle Stelle zeigt.
Sie
sind Vertreter des Konzepts der Schuld, der Verurteilung, des Zwangs. Er ist
ein Vertreter der Freiheit, der Bewusstheit, der differenzierten Betrachtung
und der Konzentration auf das Wesentliche. Und bei ihm gibt es daher keine
Schuld. Sie ist schon vergeben. Sie hat im Grund nie existiert – nur deshalb
kann er immer wieder vergeben. Es ist keine Leistung, sie zu vergeben, er stellt
nur die Tatsache fest, dass sie nicht mehr existiert, obwohl sie gerade vorher
doch noch da war als ein lähmendes Schuldgefühl. Im Verstehen hat es sich
aufgelöst. Das ist sein Weg, eben ein heilender Weg. Nur, die Pharisäer hätten
sich den Widerspruch, der in ihnen war, selbst niemals vergeben können, denn in
ihrer Welt durfte es einen solchen Widerspruch nicht geben. Sie hätten es nicht
toleriert. Ihre Welt wäre zusammengebrochen. Es wäre zwar dann die wahre Welt
sichtbar geworden, doch sie hatten sich schon vollkommen mit ihrer Welt
identifiziert, sodass der Untergang dieser Welt ihr vermeintlicher Tod gewesen
wäre. Deshalb haben sie mit Tod reagiert.
Die
Pharisäer von damals sind ein Bild für eine gewisse Kategorie von Menschen, die
sich zu allen Zeiten solche Selbstbilder basteln. Sie sind auch heute unter den
Frommen zu finden, etwa unter Sektenangehörigen jeder Art, die ja immer genau
zu wissen meinen, was gut ist und was schlecht. Für sie ist das Konzept der
Schuld wesentlich, denn es hilft ihrer Unterscheidung – aber diese
Unterscheidung ist eben noch nicht fein genug, wie die Urteile der Pharisäer
über die Taten Jesu zeigen. Und das gleiche gilt von den Urteilen von
Sektenangehörigen über andere Menschen.
Eine
feinere Unterscheidung ergäbe sich beispielsweise, wenn ein solcher
verurteilter Mensch oder auch der Verurteilende sich in einer
Familienaufstellung befinden würde. Da würden Kraftlinien sichtbar, die ein
besonderes Verhalten, das der moralischen Norm nicht entspricht, verstehbar und
korrigierbar machen. Im Konzept der Schuld verharrend aber ist eine Korrektur
nicht möglich, weil sich die Natur nicht vergewaltigen lässt. Die Entwicklung
ist ein Prozess, der gewissen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, und diese
Gesetzmäßigkeiten werden im Konzept der Schuld nicht ausreichend beachtet. And
die Stelle des natürlichen Gesetzes wird ein künstliches Gesetz gesetzt. Doch
die Natur bleibt natürlich bestehen und sie wird sich durchsetzen. Der Drang
zum Licht wird sich durchsetzen über alle Widerstände hinweg.
Auch
die historische Evolution der Menschheit als Gattung ist ein Prozess, der zu
immer größerer Bewusstheit einer immer größeren Zahl führt. Bis am Ende eben
das Bewusstsein des einen Organismus der Menschheit sich überall ausgebreitet
haben wird. Das ist nicht ein frommer Wunsch, sondern die beobachtbare Richtung
der menschlichen Evolution. Jesus hat das schon gesehen in seinem Bild vom
Weinstock und den Reben. Heute können wir dieses Bild noch konkreter fassen und
eben sagen, dass die ganze Menschheit – nicht nur die Anhänger Jesu – dieser
Organismus sind und dass jeder Mensch seine Funktion darin hat wie jede Zelle
im Körper. Das ist das Bild für unsere Zeit. „Christus“ steht für das [heilige,
heile und heilende] Ganze. Da „Christus“ heute im Christentum aber nicht für
das Ganze steht, sondern für das Partikuläre einer Religion, müssen wir heute
auf dieses Wort verzichten. Es geht um das Ganze und nur darum. Unser Glück
können wir nur finden, wenn wir uns daran orientieren. Das ist unsere innere
Bestimmung. „Gott“ ist ein anderes Wort für das Ganze, aber auch an diesem Wort
stoßen sich einige. Wir können auch darauf verzichten und nur vom „Ganzen“
sprechen. Darauf können sich alle einigen, auch die Atheisten.
Im
Ganzen aber gibt es die verschiedenen Evolutionsstufen und unter ihnen auch die
Stufe der Moral, der Schuld, der Verurteilung und darüber die Stufe des
Verstehens. Das ist die Richtung der Evolution, in der vielleicht aber Stufen
übersprungen werden können.
Es
gibt also tatsächlich so etwas wie Himmel und Hölle. Sie sind einfach die
verschiedenen Bewusstseinszustände, in denen sich die Menschen befinden. Die
Hölle, das ist die Abhängigkeit, der Zwang; der Himmel, das ist die Freiheit.
Die
Abhängigkeit tut weh. Sie macht böse. Der Ausweg aus ihr besteht aber nicht im
Verharren im böse Sein, sondern im Annehmen der
Herausforderung.
Die
einzige Schuld, die wir dem Dasein gegenüber haben, ist die dass wir uns
befreien.
Dass
wir das aber nicht „schaffen“ können, müssen wir wissen. Wir können es nicht.
Wir müssen unsere Beschränktheit annehmen – dann ist sie paradoxerweise
überwunden, weil dann etwas anderes uns regiert, als unsere beschränkten
Vorstellungen. Dann kann uns eine Kraft lenken, die alle Vorstellung
übersteigt. Das ist das Geheimnis Jesu und seiner Nachfolger.
„Vergib
uns unsere Schuld“ bedeutet, dass wir unser Unvermögen eingestehen und dass wir
um Hilfe bitten. Es bedeutet Kapitulation. Von dem Moment unserer Kapitulation
an ist die schöpferische Kraft Herr unseres Lebens. Und wir werden erkennen,
dass sie unser Vater ist. Viele von denen, die diese Formel täglich sprechen,
haben keine Ahnung von dieser Dimension. Sie glauben ja, ihr Vater wäre
irgendwo anders und sie müssten in komplizierten Ritualen Kontakt mit ihm
aufnehmen. Und tatsächlich ist das natürlich ein Weg, aber eben eine Vorstufe
des Bewusstseins.
Auf
dieser Vorstufe ist das Konzept der Schuld angemessen, später nicht mehr.