Das menschliche Tier
18. 9. 2002
Zunächst
ist es ein Fakt, dass die Menschen eine Tiergattung darstellen, ein Tier mit
einer besonderen Fähigkeit, der Sprache und der darauf beruhenden
Reflexionsfähigkeit.
Diese
speziell menschliche Fähigkeit ist bei einem großen Teil der Mitglieder der
Gattung nur rudimentär ausgebildet. Die meisten Mitglieder der Gattung haben
ihre Rationalität nicht sehr weit entwickelt, sie sind weitgehend unbewusste Instinktwesen,
beherrscht von Sex, Besitz und Geltung. Unter diesen jedoch existieren, wie es
scheint seit je her, Schulen der Bewusstheit. Durch sie wird es Individuen
möglich, den Zwang, den der Instinkt ausübt, durch Bewusstwerdung zu überwinden
und eine größere Freiheit zu erreichen.
Diese
Schulen der Bewusstheit haben immer den Instinktbereich einbezogen als eine
menschliche Realität, aber sie haben auf Unabhängigkeit davon hingearbeitet.
Ein
Schlüssel zu dieser Unabhängigkeit ist die jeweils übergeordnete
Betrachtungsebene, die den Zwängen des kleineren Systems entrinnen lässt. Es
gibt ganze Hierarchien solcher übergeordneter Betrachtungsweisen, doch an
oberster Stelle, alle anderen übersteigend, bietet die Realität die
Betrachtungsweise aus der Perspektive des Ganzen, also aus der Perspektive der
Kraft, die alles hervorgebracht hat.
Auf
dem Weg solcher Schulen haben die Religionen eine Massenanhängerschaft. Gerade
dadurch aber [weil sie die unbewussten Instinktmenschen zu integrieren sucht]
haben sich in den Religionen Missverständnisse gebildet über die Grundaussagen
ihrer Stifter. Diese [beschränkt verstandenen] Grundaussagen bewirken [dadurch]
eine Abgrenzung zu allen, die andere Grundaussagen machen [also die Stifter der
anderen Religionen, die aus ihrer besonderen historischen Situation aus einen
anderen Aspekt des Ganzen beleuchteten, und deren Anhängerschaft]. Diese
Abgrenzung bzw. Einschränkung wird insbesondere dadurch erreicht, dass die
Grundaussagen der Stifter, die ursprünglich relativ zu den Gegebenheiten und
zur Begrifflichkeit jener Zeit verstanden worden sind, zu absoluten Dogmen
erhoben und so in einer historische Gestalt konserviert werden, die den neuen
historischen Umständen natürlich niemals ganz gerecht werden kann. So sind die
Anhänger der Religionen immer in Gefahr in dieser Kombination der beiden
Wirkungen, nämlich dem Einfluss der Instinktebene und der Beschränkung des
Ganzen zu einem Partikularen, ihre Wirkung als Schule der Bewusstheit zu
verlieren oder wenigstens unnötig zu begrenzen.
Allerdings
sind die Menschen so gebaut, dass in diesem Fall andere Einrichtungen in
Erscheinung treten, die die evolutionäre Rolle der Bewusstheitsschule
weiterführen. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen hat es daher immer neue
Propheten oder Lehrer gegeben und zu gewissen Zeiten ist die kulturelle
Evolution durch unabhängige intellektuelle Bewegungen vorangetrieben worden,
wie in unserer Kultur in Form der Evolution der Wissenschaften, in früheren
Zeiten etwa in Medizinmanntraditionen.
Die
Wissenschaften allerdings sind wieder der gleichen Gefahr ausgesetzt und
bereits erlegen, wie die Religionen, und vor ihnen schon die Herrschaft der
Medizinmänner, nämlich wieder den Bereich des für real Gehaltenen künstlich zu
beschränken. Allerdings gibt es auch im Bereich der Wissenschaften immer wieder
so etwas wie „Propheten“, die neue Wege einschlagen.
Nicht
nur in den Wissenschaften oder in den Religionen, auf allen Gebieten des
menschlichen Lebens gibt es diese Lehrer der Bewusstheit, nämlich Menschen, die
aufgrund ihres besonderen Schicksals, die ganze Realität entdeckt haben, so wie
beispielsweise auch die Anonymen Alkoholiker sie entdeckt haben.
Es
gibt letzten Endes für alle Menschen nur die zwei Lebensmöglichkeiten, nämlich
entweder ein Leben in Freiheit oder in Abhängigkeit; egal ob es die Abhängigkeit
von einer chemischen Substanz oder die Abhängigkeit von anderen Menschen ist.
Abhängigkeit geht immer zurück auf persönliche Programmierung; diese [der
Realität nicht entsprechende] Programmierung drückt sich in bestimmten
stereotypen Verhaltensmerkmalen aus, die von der Abhängigkeit herrühren und die
im Endeffekt das Erreichen des Ziels verhindern, also Leiden verursachen, und
daher Kompensation [die Sucht] nötig machen. Und da ist es dann das Leiden, das
den Evolutionsprozess [das Bewusstwerden] vorantreibt und uns zwingt, unser
Leben zu verändern, kreativ zu werden.
Insgesamt
ist zu sagen, dass sich die gesamte Menschheit immer noch in Evolution
befindet. Die Entwicklung vom Stein zur Bewusstheit geht immer noch weiter.
Auch unter den Menschen gibt es die
„Steine“ und diejenigen, die dem Zwang der Materie weniger unterworfen
sind.
Da
sich der Zwang der Materie nicht gänzlich überwinden lässt, gibt es nur die
Möglichkeit, ihn einzubeziehen, ihm sein Recht zu geben, die Bedingungen zu
akzeptieren, die nicht zu ändern sind, sie aber natürlich gleichzeitig zu
überlisten, wie ja bereits die Vögel die Schwerkraft überlistet haben, so
natürlich die Menschen umso mehr.
Dieser
Evolutionsprozess betrifft zurzeit mehr als je zuvor die Zwänge der Gemeinschaften,
denen ein Mensch angehört. Sie werden immer mehr überbrückt, weltweit. Das
betrifft die Familie genauso wie die Religionen, die Staaten etc. Diese Brücken
haben zwar immer schon existiert, aber sie sind nur wenig genutzt worden. Jetzt
werden sie viel stärker genutzt. Die Globalisierung macht es möglich.
Techniken
der Deprogrammierung breiten sich daher aus, die eben
immer mehr Menschen erlauben, diese Brücke zu benützen und damit eine höhere
Perspektive einzunehmen und letzten Endes sich selbst zu finden, was immer das
sein mag.
Dann
ist das Tier ein wirklicher Mensch geworden.
Das
Tierische ist unbewusst sehr stark den Zwängen der Natur unterworfen, der
Mensch unterwirft sich diesen Zwängen bewusst und überwindet sie dadurch, weil
dann bewusst jene andere Kraft wirkt, der alles möglich ist.
Genau
darin besteht die Bewusstheit, dass die Realität gesehen wird, wie sie ist,
eben einschließlich jener Kraft, aus der alles hervorgegangen ist. Und diese
Bewusstheit offenbart die Kraftlinien der Wirklichkeit und gewährt dadurch
Einsicht oder Aussicht auf die Punkte, durch die Einfluss genommen werden kann.
Und die Kraft selbst ist es, die diesen Einfluss dann auch nimmt – nachdem wir
ihm bewusst zugestimmt haben, zustimmen konnten, weil wir die Kraft schon am
Werk gesehen haben.
Alles,
was nötig ist, um die Kraft am Werk zu sehen, ist die Voraussetzung, dieser
Ordnung der Dinge zuzustimmen, also sich als das bestimmende Element
wegzunehmen und die tatsächlich bestimmende Kraft also solche anzuerkennen und
wirken zu lassen. Also einfach Ehrlichkeit, die möglich wird durch eine
positive Anerkennung der Realität, durch ein jedem sein Recht zuerkennen – auch
dem Verworfensten. Solange das nicht da ist, ist auch
keine wirkliche Ehrlichkeit da. So lange existiert ein Schatten auch auf der
eigenen Seele, weil da dieses Element ja auch verurteilt wird.
Bewusstheit
bedeutet daher nicht urteilen. Es bedeutet, den Sündefall rückgängig machen,
also die Unterscheidung von „gut“ und „schlecht“ aufheben und statt dessen
„sehen“, nämlich die wirkenden Kräfte sehen, die zu einem bestimmten Verhalten
führen. Bewusstheit bedeutet daher verstehen.
Verstehen
ist nur möglich nach einer gründlichen Deprogrammierung.
Die einprogrammierten Unterscheidungen müssen aufgehoben werden, nämlich
relativiert, bezogen auf den Ursprung, auf die verborgene Absicht. Von der
erfolgten Deprogrammierung an ist ein Mensch frei,
einem Programm entweder zu folgen oder nicht zu folgen, wenn es nicht
angemessen ist, vorher war er gezwungen in jedem Fall zu folgen, wodurch viele
neue Widersprüche entstanden sind.
Diesen
Vorgang haben die Hindus „Karma erzeugen“ genannt, denn die neuen Widersprüche
erzeugen reale Probleme, die in der Folge durchlebt werden müssen und die
gerade durch das Durchleben einen läuternden Effekt haben, der das Karma
dadurch [durch den Lehreffekt der unangenehmen Erfahrungen] nach und nach
auflöst, bis kein neues Karma mehr erzeugt wird und statt dessen das alte
abgebaut werden kann. Dann besteht Harmonie, weil der Mensch dann einfach dem
Fluss folgt, weil er nicht mehr aus angelernten Programmen lebt, sondern nur
noch der Kraft folgt, sich von ihr tragen lässt und dadurch zu einem
leuchtenden Beispiel wird.
Die
Entwicklung vom Tier zum Menschen ist also die Befreiung aus dem Karma, also
aus den Zwängen der Programmierung.
Zu
wissen, dass das der Weg ist, kann diesen Weg beträchtlich abkürzen. Denn dann
wird nicht mehr über die Härten des Schicksals gejammert, sondern das Schicksal
wird angenommen, was immer es sein mag. Solange ein Mensch jammert, bleibt er
in seiner Entwicklung stehen – bis die Folgen dieses Stehenbleibens derart
unangenehme Wirkungen haben, dass sie ihn veranlassen, weiterzugehen, sein
Jammern zu überwinden und zu beginnen, sein Schicksal zu durchdringen und nach
Auswegen zu suchen. Das ist das natürliche Entwicklungs-Programm, das die
Evolution insgesamt und auch in uns Menschen vorantreibt. Das Übel [in Form
unserer inneren und äußeren Widersprüche] treibt uns voran – bis es nicht mehr
das Übel ist, das uns treibt [weil wir über es hinausgewachsen sind, weil wir
unsere persönlichen Widersprüche aufgelöst haben], sondern unsere genuine Rolle
im Ganzen.
Manchmal
kann es geschehen, dass unsere inneren Widersprüche [vor allem der Widerspruch
zwischen unserer persönlichen Programmierung, die wir durch unsere Erziehung
erfahren haben und unserem menschlichen Instinktprogramm einschließlich der
Rückkopplungen in unseren sozialen Kontakten] uns krank machen, sei es
körperlich oder seelisch. Dann ist es dieser neue Zustand der Krankheit, der
unsere Herausforderung darstellt. Dann [spätestens] müssen wir dem Problem auf
den Grund gehen, also den Widerspruch finden, der uns krank macht.
Am
Eingang der Krankheit kann manchmal ein Erleben stehen, das in anderen Zusammenhängen
gewöhnlich als ein „Erleuchtungserlebnis“ beschrieben wird. Es ist ein echtes
Erleuchtungserlebnis, weil für einen Moment oder eine Weile die persönliche
Programmierung aufgehoben wird, weil unsere ganze Welt aufgehoben wird. Eine
ähnliche Wirkung können gewisse Drogen haben oder andere Konstellationen von
Ereignissen, die unserem Organismus eben klar zeigen, dass er sich gegenüber
dem Verhalten, das von dem konditionierten Verhaltensprogramm stammt und den
gesamten Menschen nicht leben lässt, wehren muss, dass er diese Programmierung
ausschalten, zunichte machen muss oder, wenn wir dazu nicht imstande sind, dass
dieses biologische Selbstkorrektur-Programm eben unsere Programmierung zunichte
macht. So sind wir gebaut, dass das Menschliche sich durchsetzen will.
Irgendwann stellt etwas im Organismus fest, dass dieses Leben [im Widerspruch]
nicht lebenswert ist und stellt sich auf Selbstzerstörung ein, als Warnung
zuerst, aber wenn darauf keine erlösende Veränderung folgt, dann endgültig. Und
es ist nicht nur das menschliche Tier, das leben will, es ist der ganze Mensch.
Wenn er nicht mehr imstande ist, die auftretenden Widersprüche aufzulösen,
verliert er Lebenssinn und Lebenskraft. Und das bedeutet das Ende. Aber eben
nicht sehr schnell, sondern der Organismus ist sehr zäh, er versucht immer
wieder auf verschiedenste Weisen, einen Ausweg zu finden. So sind wir gebaut.
Es ist ein automatisches Suchprogramm, das da in uns arbeitet. „Was Du suchst,
ist das, was sucht“, sagte Franz von Assisi.
Die
Sehnsucht des Menschen ist es, frei zu sein. Wenn klar ist, dass er nicht
[wenigstens innerlich] frei sein kann, stirbt er. Aber die Sehnsucht arbeitet
gegen die Unfreiheit, sie ist stets auf der Suche nach einer Lösung, und zwar
immer wieder. Deprogrammierung schafft die Basis für
die Erlösung, die vom Leben selbst bewerkstelligt wird.
Natürlich
kann die Deprogrammierung letzten Endes nicht durch
irgendeine ideologische Institution erfolgen. Ein Bild kann anfangs helfen,
sich auf die größere Realität einzustellen, doch es sollte nie aus den Augen
verloren werden, dass es nicht um das Bild, sondern nur darum geht, sich auf
die größere Realität einzustellen, die uns selbst als das biologische Wesen
sieht, das wir sind und die uns gleichzeitig eine Rolle im Gesamt der Evolution
zuschreibt.
Hier
ist es wichtig anzumerken, dass es egal ist, auf welcher Stufe der Evolution
sich ein Mensch befindet, ob er mehr dem Stein ähnelt oder mehr dem Geist, auf
eben dieser Stufe der Evolution ereignet sich für ihn der Schritt darüber
hinaus. Es gibt daher kein besser oder schlechter unter den Menschen [das gibt
es nur in Bezug auf eine Leistung im Tauschhandel], sondern es geht nur um die
Frage, ob sich ein Mensch letzten Endes einlassen kann auf die
Herausforderungen des eigenen Lebens. Wenn er sich nicht darauf einlassen kann,
weil irgendein eingeprägter Befehl es verhindert, dann entstehen Probleme mit
unangenehmen Wirkungen, also neue Herausforderungen, die zu den bestehenden
noch hinzugefügt werden, um so eine Ladung zu erreichen, bis eine Reaktion
erfolgt, entweder Zusammenbruch oder Abschütteln durch einen Sprung auf eine
andere Ebene. So ist das auf allen Ebenen der Bewusstheit, wahrscheinlich ist
es schon bei den Elektronen so. Ich vermute das, weil ja bereits auf diesem
Niveau der Bewusstheit [die sich ja in einer bestehenden Struktur, etwa der
Atomstruktur samt ihrem Beziehungsgeflecht, äußert] ganz offenbar evolutionäre
Kräfte wirken, sonst hätte Evolution ja überhaupt nicht stattfinden können,
natürlich hatte sie auf dieser Ebene längst begonnen. Sie zielt auf den Geist,
auf Bewusstheit, auf ein sich bewusstes Einblenden in das Ganze und darauf, es
und durch es wahrzunehmen.
Wer
könnte behaupten, die Elektronen könnten das nicht oder die Amöben oder die
Viren – und wären also nicht im Vollsinn des Wortes genauso „Kinder Gottes“ wie
wir? Wir sind natürlich anders und in diesem Anderssein müssen wir es doch
wieder sein und es leben! Aus seiner Totalität heraus leben, in der, wie
gezeigt, alles seinen idealen, evolutionären Platz hat, die Schrecken genauso
wie die Freuden des Lebens.