Das Dialogische Prinzip des Universums
Grundlage aller ("religiöser Erfahrung" =
"Religion")
200 Jahre nach Schleiermacher
Ein
Theologe und Philosoph namens Schleiermacher schrieb vor fast genau 200 Jahren
sein "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern" - gemeint waren Leute wie Goethe, den diese Reden tatsächlich
sehr beeindruckt haben.
Zum ersten Mal gibt es damit im christlichen
Raum eine Art der Betrachtung der Religion, die wir sonst nur von spirituellen
Meistern östlicher Religionen kennen, und die in der christlichen Theologie bis
jetzt einzigartig geblieben ist. Für mich geht es im Folgenden vor allem darum,
zu zeigen, welch gewaltige Folgen diese Art der Betrachtung für unser Religionsverständnis
haben könnte und dass dieses Verständnis helfen könnte, völlig neue Formen
christlicher Religiosität zu entwickeln – soweit sich solche nicht ohnehin
("incognito") bereits entwickelt haben.
Für Schleiermacher gibt es Religion nur in
Form einer "Anschauung des Universums", wobei "Anschauung"
eine Art unmittelbarer persönlicher Erfahrung des Ganzen ist.
Das Zitat (aus Schleiermachers Darstellung der jüdischen
"Anschauung" des Universums):
"...
belohnend, strafend, züchtigend das Einzelne im Einzelnen, so wird die Gottheit
durchaus vorgestellt. Als die Jünger einmal Christum
fragten: Wer hat gesündiget, diese oder ihre Väter,
und er ihnen antwortete: meint Ihr, daß diese mehr
gesündigt haben als Andere. - Das war der religiöse Geist des Judenthums in seiner schneidendsten
Gestalt, und das war seine Polemik dagegen. Daher der sich überall
durchschlingende Parallelismus, der keine zufällige Form ist, und das Ansehen des
Dialogischen, welches in Allem, was religiös ist, angetroffen wird. Die
ganze Geschichte, so wie sie ein fortdauernder Wechsel zwischen diesem Reiz und
dieser Gegenwirkung ist [also zwischen
der menschlichen Handlung und der göttlichen Vergeltung - in diesem Wechsel
sieht Schleiermacher die Grundzüge der jüdischen Anschauung des Universums (aaO. S 287)], wird sie vorgestellt als ein Gespräch
zwischen Gott und den Menschen in Wort und That,
und alles was vereinigt ist, ist es nur durch die Gleichheit in dieser Be-|handlung. Daher die
Heiligkeit der Tradition in welcher der Zusammenhang dieses großen Gesprächs
enthalten war, und die Unmöglichkeit zur Religion zu gelangen als nur durch
die Einweihung in diesen Zusammenhang, und noch in späteren Zeiten der
Streit unter den Sekten ob sie im Besiz dieses
fortgehenden Gesprächs wären."
["Über die Religion", aaO., Originalpaginierung, S 288f., kursiv: meine
Einfügung, Hervorhebungen von mir]
Schleiermacher meint allerdings, dass das
Dialogische, so wie es sich seiner Ansicht nach in der jüdischen Anschauung
präsentiert und wie es sich insbesondere im Medium der Weissagung äußert, durch
die tatsächliche historische Entwicklung, nämlich durch die Verstreuung
der Juden in alle Welt [ebd. 289f.], außer kraft
gesetzt worden sei.
Zitat:
"Der
eingeschränkte Gesichtspunkt gewährte dieser Religion, als Religion, eine kurze
Dauer. Sie starb, als ihre heiligen Bücher geschlossen wurden, da wurde das
Gespräch des Jehova mit seinem Volk als beendigt angesehen ...|... nachdem
Leben und Geist längst gewichen ist." [ebd. 290f.]
Allem Anschein nach bezieht sich
Schleiermacher bei seinem Argument des Todes der jüdischen Religion aber nicht
auf die Anschauung selbst, nämlich die beobachtbare Aktion-Reaktion (eben das
Dialogische), sondern nur auf die Weissagung (die seiner Ansicht nach in einer
letzten großen Anstrengung den Glauben an den Messias hervorgebracht hat [ebd.
289f.]), bzw., damit zusammenhängend, auf den "eingeschränkten
Gesichtspunkt" [ebd. 290] dieser Anschauung, nämlich des völkisch
überschaubaren Bezugsrahmens, innerhalb dessen Offenbarung im alttestamentlichen
Sinn stattfinden konnte. Was Schleiermacher in seine Überlegungen allerdings
nicht mit einbezog, war die Möglichkeit, dass der Dialog, erzwungen durch die
veränderte historische Situation, die seiner Ansicht nach eben die Rolle der
Juden als Volk Gottes beendet hat, mit einem erweiterten Bezugsrahmen
fortgesetzt werden könnte - etwa in der Art des Dialogs, der u.a. in
chassidischen Gemeinden, bzw. von chassidischen Weisen tatsächlich bis auf den
heutigen Tag fortgesetzt wird.
Meines Erachtens musste es für Schleiermacher
so aussehen, als ob der jüdische Dialog beendet wäre, weil er sonst allzu große
Schwierigkeiten gehabt hätte, seine Ansicht von der Überlegenheit der
christlichen Anschauung zu begründen:
Schleiermacher meint, dass Jesus gegen das
jüdische Reiz-Reaktions-Schema protestiert [ebd. S 288] und eine überlegene
Anschauung dargelegt hätte, nämlich die des Erbarmens und der Erlösung: "Herrlicher,
erhabener, der erwachsenen Menschheit würdiger ... ist die ursprüngliche
Anschauung des Christenthums. Sie ist keine andere
als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles
Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie ... der größer werdenden
Entfernung Grenzen setzt durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut
welche zugleich ... Menschliches und Göttliches sind. Das Verderben und die
Erlösung ... sind die beiden ... Seiten dieser Anschauung" [ebd. S 291]. Schleiermacher lässt aber außer
acht, dass all das ganz wesentlich auch zur jüdischen Anschauung gehört,
denn wer sind denn diese "Punkte" als die biblischen Patriarchen und
Propheten und die späteren Lehrer (es könnten höchstens auch noch spirituelle
Lehrer anderer Kulturen gemeint sein). Das Neue an der Anschauung Jesu ist daher
nicht dieses, ja überhaupt nichts Inhaltliches, sondern es ist die
Überschreitung der völkischen Grenze und die Anwendung der jüdischen Anschauung
(deren tatsächliche universelle Weite Schleiermacher eben von Anfang an
nicht sehen will) auf alle Menschen - deshalb ja der Missionsbefehl in
seiner ursprünglichen Intention (Mt 28,19). Der
spätere missionarische Kolonialismus hat mit dieser Anschauung natürlich nichts
zu tun; er beruht ja gerade nicht auf einer Anschauung des Universums, sondern
- im Gegenteil - er beruht auf politischer Macht, bzw. der
separiert-egoistischen Intention des recht-haben-Wollens gegen andere, des sich
über andere Erhebens und sie Bezwingens.
Diese neue Intention (die ab der staatlichen
Anerkennung des Christentums auch politische Durchsetzungskraft erlangte)
charakterisiert und motiviert m.E. auch viele dogmatische
Ausschlusserklärungen. Das Dialogische wird eingeschränkt. Sagt Jesus etwa
noch, man solle andere, die in seinem Namen Teufel austreiben, nicht daran
hindern (Mk 9,39), so versuchen spätere dogmatische
Erklärungen genau das zu bewirken, ja man bringt nicht wenige sogar um, um sie
daran zu hindern, in Jesu Namen irgendetwas zu tun, "und glaubt noch, Gott
damit einen heiligen Dienst zu erweisen" (Joh
16,2).
Wie schon gesagt - Schleiermacher sieht das
Dialogische als ein Grundprinzip alles Religiösen an (vgl. Hervorhebung im
Zitat ganz oben). Das "Personale" ist damit für Schleiermacher ein
wesentlicher Gesichtspunkt seiner Anschauung. Schon von Anfang an betont
Schleiermacher ja den Dialog, der vom Universum ausgeht. Nur - Schleiermacher
kann spielend auch auf die andere Ansicht umwechseln, in der das Universum eben
nicht personal, sondern apersonal erscheint. Damals
hat man davon noch nichts gewusst, sonst hätte er sicher auf die doppelte Natur
des Lichts verwiesen, das eben einerseits Wellenform andererseits aber Korpuskelform hat, denn in ähnlicher Weise kann auch
"das Universum" als Ganzes und als solches als apersonal
gesehen werden - so wie es in den fernöstlichen Religion gewöhnlich geschieht
(wohl aus dem Wissen um die Gefahr der Mystifizierung personaler Bilder),
während es - so wie es in den vorderorientalischen Religionen gewöhnlich üblich
ist - als "Gott" oder als die allbewegende Kraft im Bewusstsein der
Menschen als an sich personal erscheint. Diese beiden Ansichten sind nicht sich
ausschließende Gegensätze, sondern sie ergänzen einander. Schleiermacher sagt
dazu deshalb: "Auch
sind dieser beiden Vorstellungsarten gar nicht verschiedene Anschauungen des
Universums im | Endlichen, nicht Elemente der Religion, sondern verschiedene
Arten das Universum, indem es im Endlichen angeschaut wird, zugleich als
Individuum zu denken, da denn die eine ihm eigenthümliches
Bewußtsein beilegt und die andere nicht." [ebd.
257f.]
Die Christen, mit denen ich über
Schleiermacher gesprochen habe, tendierten überwiegend dazu, personal und apersonal als sich
ausschließende Gegensätze einander gegenüberzustellen, bzw. das Dialogische dem
Personalen zuzuordnen und die apersonale Ansicht entsprechend
(als Irrglauben) abzuwerten - ohne zu sehen, dass es sich dabei nicht unbedingt
um Alternativen handelt. Ist das Motiv für diese Sicht aber nicht eine
Rechtfertigung des üblicherweise behaupteten unüberbrückbaren Gegensatzes
zwischen den östlichen Religionen und dem Christentum? In diesem Dilemma
befindet sich beispielsweise auch der Präfekt der römischen
Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger und er wagt es bis jetzt nicht, den
erlösenden Schritt zu tun, während er doch betont, dass er die Hoffnung für
neue theologische Entwicklungen gerade in der Auseinandersetzung mit Hinduismus
und Buddhismus sieht, nämlich "das Gemeinsame des Mystischen (die negative
Theologie)" und "daß ...aus Inhalten der religiösen Philosophie Asiens ganz
neue Elemente in das theologische Denken einströmen können ..., die neue
Chancen des theologischen Denkens und der religiösen Lebensgestalt
eröffnen" ["Salz der Erde", S 281]. Seltsamerweise sieht Ratzinger aber genau das als ein
Defizit des Hinduismus, was für Schleiermacher etwas ganz Wesentliches an jeder
religiösen Anschauung ist, nämlich das immer Unvollendete, dass eben niemand
behaupten kann, er habe die ganze Wahrheit [aaO.
240]. Anstatt es als Vorzug zu bezeichnen (was er m.E. in dem oben Gesagten
einschließend tut), fühlt sich Ratzinger nun verpflichtet Anstoß daran zu
nehmen, dass der Hinduismus ein Religionsverständnis hat, "in dem die
Gottheit in verschiedenen Bildern und Gestalten erscheint, deren keine
endgültig ist" [ aaO. 275]. Schleiermacher dagegen sieht: "Nie hat er
[Jesus] die Anschauungen und Gefühle, die er selbst mittheilen konnte, für den
ganzen Umfang der Religion ausgegeben ..." [aaO.
S 304] und: "so wie nichts irreligiöser ist
als Einförmigkeit zu fordern in der Menschheit überhaupt, so ist nichts
unchristlicher als Einförmigkeit zu suchen in der Religion. Auf alle Weise
werde das Universum angeschaut und angebetet." [aaO.
S 310] Das sind erlösende Worte!
Ein leider nicht gerade erlösender Geist
spricht aber, wenn Ratzinger dann sagt: "Dabei kann der Christ in den
religiösen Bildern der Weltreligionen durchaus tastende Versuche erkennen, die
auf das Christentum zugehen." [aaO. 275]. Solche Worte sind eine Beleidigung! Könnte es nicht
sein, dass das Motiv für die Beleidigung in der Frustration liegt, die
entsteht, wenn man sich der Aufgabe widmen muss, einen Teil der Wirklichkeit
aus dem Bewusstsein auszuschließen (und dabei insgeheim doch zu wissen, dass
andere genau durch das an der Ganzheit teilhaben, was man selbst nicht
wahrhaben darf)?
Was Schleiermacher "Anschauung"
nennt, ist die reale menschliche Erfahrung der Ganzheit der Welt und des
Lebens. Es ist immer eine Anschauung der ganzen Wirklichkeit - und sie schließt
das Wissen um die grundsätzliche Erlöstheit ein. Ein
Leben nach ausgewählten Überzeugungen dagegen ist nur eine Vorstufe dazu, eine
Etappe auf dem Weg der Suche nach der Anschauung. Der subjektiven Empfindung
nach bleibt es in der Dualität, in der Entfremdung, außerhalb der (in
Wirklichkeit illusionären) Grenzen des Paradieses. Die Überzeugung ist gut für
das, was man im heutigen Sprachgebrauch eine "Konfession", ein
"Bekenntnis" nennt. Sie bildet immerhin schon eine Gemeinschaft
solidarischer Menschen, aber die Wirklichkeit ist größer. Genau auf dieses
Bewusstsein hat ursprünglich der Beiname "katholisch" (deutsch:
"aufs Ganze hin", "allgemeingültig") gezielt, der zwar
schon seit Ende des 2. Jahrhunderts zum unbestrittenen christlichen Glaubensgut
gehört, heute aber praktisch von keinem christlichen "Bekenntnis"
mehr verstanden wird. Eine Konfession kann auch niemals Anspruch auf
Allgemeingültigkeit erheben - nur die "Anschauung" kann das. Der
Konfession fehlt die Erfahrung des Ganzen. Außerdem kann jeder verständige
Mensch leicht einsehen, dass die Konfession eines Menschen nur ein geografischer
Zufall ist und nichts zu tun hat mit einer mehr oder weniger göttlichen (und
das würde bedeuten "allgemeingültigen") Herkunft jener Konfession.
Sonst müsste man sich ja wirklich fragen, wie die bisher nicht Missionierten
den Zustand ihrer Unerlöstheit so lange aushalten
konnten, bzw. woran sich denn die Erlösung bei den Missionierten zeigen würde.
Sicherlich haben die zivilisatorischen Umstellungen viele Menschen entwurzelt
und die sind dann froh, in einer neuen Konfession eine neue Heimat zu finden,
aber Anzeichen der Erlöstheit finden sich bei
Christen nicht mehr und nicht weniger als bei Anhängern anderer Religionen,
bzw. die Erlöstheit hat weniger mit dem Bekenntnis zu
tun als eben mit dem Ergriffensein durch das Universum, also mit der Teilhabe
an dessen Dialog und den gibt es wohl in jeder Religion.
Ich selbst habe Hindus, Buddhisten, Shintoisten, Moslems, Christen verschiedener
"Konfessionen", Juden, Indianer und andere Menschen kennengelernt,
die mit Sicherheit an dem Dialog teilhatten und ich habe Anhänger dieser Völker
und Gruppen kennengelernt, die nicht daran teilhatten, weil sie erst auf der
Suche waren. Und ich habe auch die Ignoranz kennengelernt (besonders natürlich
unter denen, die erst auf der Suche waren), die geringschätzig über andere
Anschauungen denkt und die die Anhänger anderer Anschauungen am liebsten
ausrotten würde - genau so wie es in Wirklichkeit ja
oft genug geschieht. Beleidigungen haben immer mit Ignoranz zu tun - auch die
Beleidigung der Juden durch Schleiermacher.
Das Dialogische ist ein Gespräch, in das im
Prinzip alle Menschen eingebunden sind - jeder für sich und manche
Gemeinschaften auch noch als solche (z.B. die Juden als Volk Gottes, andere
spirituelle Gemeinschaften, aber auch Paare, Familien, Stämme ...) - das aber
nicht alle Menschen als solches wahrnehmen können. Die Voraussetzung für die
Wahrnehmung dieses Dialogs ist eine Art "Gnade", andere würden sagen
der "Zufall" der Geschichte, der erstaunlicherweise und ohne
erkennbaren Grund gewisse Personen in den Zustand einer derartigen Wahrnehmung
versetzt, während andere, die anscheinend viel mehr "Recht" auf eine
"Anschauung" hätten (etwa Fachtheologen oder geistliche
Würdenträger), von ihr doch oft ausgeschlossen sind. Nun, Jesus hat sehr scharf
formulierte Aussagen in diesem Sinn gemacht - aber es finden sich natürlich
immer Gründe für Personen, die eben nicht mit einer Anschauung bedacht worden
sind, diese Aussagen nicht auf sich beziehen zu müssen und sich weiterhin dazuzuzählen, ohne sich je wirklich ehrlich zu prüfen - und
dann vielleicht gerade beim Feststellen des Nicht-Bestehens der Prüfung mit
einer Anschauung beschenkt zu werden.
Der Dialog ist nämlich im Prinzip jederzeit
allen Menschen zugänglich, er ist biologisch verankert - obwohl
"Michael" den Baum des Lebens bewacht und vor jedem unbefugten
Zugriff sichert. Der unbefugte Zugriff besteht ja nur darin, dass jemand
aufgrund seiner Urteile über "gut" und "schlecht" das
Paradies (als etwas "Gutes") erreichen möchte [um hier etwas
vorwegzunehmen: Hier wird schon klar, dass die bildhafte (also mythische)
Darstellung der philosophischen Frage nach dem Ursprung des Übels etwas anderes
ist als das für-Fakt-Halten legendärer (nachträglich aufgrund eines Mythos
erfundener) Ereignisse - und ich will damit keinesfalls etwas gegen die
Berechtigung des Mythos selbst einwenden oder gegen das Erdichten
inspirierender Geschichten!]. So jemand kann nicht eingelassen werden, denn
er/sie erhebt sich ja über die Natur, in der es das eine nicht ohne das andere
gibt. Es fehlt die Demut, d.h. die Anerkennung der Realität der vollkommenen
Abhängigkeit des Geschöpfes vom Schöpfer. Erst jemand, der Gott nicht als ein
Wissender, sondern als ein Unwissender gegenübertritt, kann in den Dialog
eintreten, denn ein Wissender kann natürlich nur seine eigene Stimme hören, und
er wird der Stimme Gottes nicht glauben.
Daher kommt es, dass oft Menschen, die am
Boden ihrer Existenz angelangt waren, plötzlich zu Mittlern
wurden, und dass kaum je einer zu einem Mittler wurde, dem diese Erfahrung (des
am Ende Seins) fehlt. Naturwissenschaftler untersuchen dieses Phänomen
mittlerweile und halten es für ein biologisches Notprogramm, das einsetzt, wenn
alle auf Gedanken basierenden Ideen versagen, also für eine Art Rückgriff auf
eine instinktive Basis, doch das Erstaunliche für sie würde sein – wenn sie es
wagen würden dieses Phänomen wirklich eingehend zu betrachten –, dass die
Ideen, die solchen Situationen entspringen, geradezu unglaublich
situationsbezogen informiert sind, akkurat und letzten Endes höchst rational,
rationaler als jede Überlegung es je sein könnte (vgl. Gideon, Ri 6-8). Und außerdem, dass dem, der sich "auf diesen
Dialog hörend" verhält, (auch nach erfolgter Entscheidung) die ganze
(unbewusste) Natur zu Hilfe kommt (vgl. die ägyptischen Plagen, Ex 7-11, so
legendär diese auch sein mögen). Und das sind Erfahrungen (andere würden hier
vielleicht von "Wunder" sprechen), die von allen, die in der
Anschauung leben, als ihre eigenen persönlichen Erfahrungen bestätigt werden.
Sie wissen dadurch, wie Schleiermacher [aaO.
118], dass alles (der ganze Verlauf des Lebens und der
Evolution) ein Wunder ist.
Eine weitere Frage, die für Schleiermacher
wichtig ist, ist die nach der Moral:
Schleiermachers Anschauung zeigt ihm die
Moral nur als Bestandteil der Konfession und [u.a. aaO.
43] nicht der Religion. So sehe ich das auch. Das Problem mit der Moral ist
nicht das durch den Kodex geforderte Verhalten, das kann ja durchaus dem
Dialogischen entsprechen, es ist auch nicht der Kodex selbst, sondern es ist
die absolut formulierte Forderung nach Orientierung [solange keine
Anschauung besteht, besteht diese Forderung zurecht, indem die Forderung aber
absolut formuliert ist und der Hinweis auf eine höhere Ordnung (als die der Moral)
fehlt, behindert sie nicht nur den Vollzug der anfänglichen Anschauung, sondern
die gesamte persönliche spirituelle Entwicklung auf die Anschauung hin] an
etwas, das zur Dimension des Denkens gehört und nicht (und hier gehe ich über
Schleiermacher hinaus) zu der des Fühlens. Erlösung kann ja nur vom Ewigen her
kommen, also nur von der Wahrnehmung des ewigen Dialogs im Fühlen. Wenn die
Steuerung des Handelns vom Denken ausgeht, geht sie von der Dimension aus, die
das Paradies verspielt hat. In dieser Dimension ist der Dialog nicht möglich.
In dieser Dimension herrschen gedankliche Ideale, also fremde Götter (im Sinn
des ersten Gebots handelt es sich bei der Moral daher um eine Art
"Polytheismus"). Von hier aus ist Erlösung nicht möglich.
Die Moral folgt zwei Göttern, der eine heißt
"Ordnung" und bezieht sich auf die Gesellschaft (extrem verkörpert in
Dostojewskis "Großinquisitor" oder im Hohen
Rat, der Jesus verurteilt etc.), der andere heißt "Freiheit" (als
Ansporn natürlich in Ordnung, als "ich schaffe es aus eigener Kraft"
aber ein Idol). Beides sind gedankliche Ideale, die von den Zwängen, in denen
die realen Individuen stehen, nichts wissen. Aus diesem Grund ist die Moral,
wie Schleiermacher auch zu sehen scheint [aaO 51f.],
eine Überforderung (und daher nicht dem Dialog gemäß) in mehrfacher Hinsicht.
Es ist daher nicht überraschend, bei genauerem Hinsehen zu sehen, dass ein
großer Teil der (körperlich und auch der psychisch) Kranken an ihrer Moral
erkranken, die ihnen die Lebensenergie nimmt (das sage ich aus meiner Erfahrung
als Psychotherapeut und als Seelsorger für psychisch Kranke.) Sie sind nicht
stark genug, den Absolutheitsanspruch der Moral über Bord zu werfen und noch
weniger, ihn einzuhalten. Sie geraten dadurch in einen schweren Zwiespalt mit
sich selbst. Sie sind nicht imstande, klar zu fühlen, was das Richtige ist für
sie. Aber ihr Organismus zeigt durch seine Krankheit, dass die Moral ein
falscher Gott ist für sie, weil sie das Lebendige in ihnen zu ersticken droht.
Und selbst das Kriminelle ist oft nicht mehr als ein verzweifelter Ausbruch aus
dieser tödlichen Enge.
Aus diesem Grund (weil sich - auch der
Einsicht Schleiermachers nach [aaO. 103] - die
Wirklichkeit bzw. das Universum immer zur Wehr setzt gegen künstliche
Eingriffe) ist es (beispielsweise) durch dominante Subkulturen zu der heute für
jeden beobachtbaren Umwertung aller Werte gekommen, durch die es eben als
"cool" gilt, sich über alle Autoritäten und Codices
hinwegzusetzen. Aus diesem Grund konnte man in den Siebzigerjahren, als diese
Subkulturen sich durchzusetzen begannen, an unzähligen Häuserwänden
amerikanischer Ghettos in riesigen Buchstaben das Wort "BAD" lesen,
hingeschrieben von Leuten, die damit zu erkennen geben wollten, dass das, was
bisher für gut gehalten worden ist, jetzt schlecht ist und das bisher Schlechte
jetzt gut.
Diese Entwicklung ist eine Folge des
Dualismus, weil eben Moral und andere einschränkende Formulierungen der Welt
der Dualität, der Entfremdung, entstammen und entsprechenden Widerstand des
Lebendigen auslösen. Das Dialogische kennt keine Dualität (es kennt natürlich
auch keine gedanklichen Ideale als solche, obwohl es solche vielleicht
gelegentlich benützt), vielmehr ist es gerade die Ganzheit, innerhalb derer der
Dialog stattfindet. Es ist die Einheit, die sich an jedem Punkt ihrer Existenz
so äußert, dass das Ganze eben aus der Perspektive dieses Punkts erscheint und
unter den Aussichten, die das Einzelne (die individuelle Form) dieses Punkts
charakterisieren, und in dem daher auch spontan sämtliche konkreten und
optimalen Handlungsweisen für das betreffende Individuum erscheinen. (Hier
liegt der Ursprung und das ursprünglich intendierte {in verbeamteten
Priesterreligionen aber leicht vergessene} Ziel jeder Moral.) Und genau das
ist sogar die Quelle der gesamten Evolution von Anfang an. Das
"Sehen" des richtigen Weges ist nämlich charakteristisch für alle
Wesen, die aus dem ewigen Dialog heraus leben. Könnte es nicht sein, dass sich
schon vor Photonen und Elektronen alles Existierende auf diese Weise resonant
verhält - mit seinem je eigenen Spielraum an Freiheit?
Menschen, die noch nicht aus diesem
dialogischen "Sehen" heraus leben, sondern aus den Kategorien ihres
Verstandes, kennen die Ganzheit noch nicht, sondern nur die Millionen von
Kategorien und sie kennen auch die Gegenwart noch nicht, sondern nur die Summe
ihrer Erfahrungen und die Projektion der Daten ihrer Vergangenheit auf die
Zukunft. Sie leben - noch - in der Dualität. Für sie ist Gott noch keine
erfahrbare Realität, sondern ein von ihnen selbst erschaffenes Gedankending
(oder eins, das ihnen in den Kopf gesetzt worden ist), das sie sich als
Gegenüber vorstellen und mit dem sie auf diese Weise in einen fiktiven Dialog
treten. Sie nennen das dann "Gebet" [- ganz anders verhält es sich
natürlich mit dem vertrauensvollen unschuldigen Gespräch einfacher Menschen zu
ihrem himmlischen Vater oder auch zu den Heiligen, denn das wirkt auf seine
eigene Weise durch das Vertrauen, den Glauben. Für Menschen in der
"Anschauung" ist "Gebet" aber vor allem jene Stille, in der
sie das jeweils Gegenwärtige berühren kann, in der sie den Dialog
"hören" können, und diese Sicht gilt für alle Religionen -] und
sie wundern sich, wieso es nach jahrzehntelangem "Gebet" keine
Erhörung gibt. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich sind, werden sie früher
oder später erkennen, dass ihr Gegenüber nur eine Idee ist. In dem Moment
werden sie aufhören, sich etwas auf ihr Ideengebäude einzubilden. Sie werden
ankommen auf dem Boden des Nicht-Wissens, auf dem das Eine dann endlich die
Chance hat, gehört zu werden. Dann ist der Dialog plötzlich Wirklichkeit. Und
es ist keine Dualität mehr, sondern eine Einheit zwischen Individuum und dem
Ganzen (also dem Universum).
Nun wird auch klar, dass es für den
gefallenen Menschen (abgesehen von der reinen Gnade) nur zwei Wege zur
"Anschauung" gibt, nämlich die rückhaltlose Ehrlichkeit
(Schleiermacher erwähnt diesen Weg nicht eigens, aber er benützt ihn, indem er
den gebildeten Religionsverächtern ihre Denkfehler aufzeigt) oder die
"Einweihung" durch einen Menschen, der das Ganze und die treibende
Kraft des Ganzen aus eigener Anschauung, also aus eigener Erfahrung kennt. In
jedem Fall wird Religion erst als Erfahrung Realität. Was vorher war (z.B.
jahrelange Frömmigkeit oder ein Doktorat in Theologie), so stellt sich dann
heraus, ist nur so etwas wie der Kaffeesatz aus einer Espressomaschine. Im
Geruch gibt es Ähnlichkeiten und auch im Geschmack, aber ein frisch gemachter
Espresso ist doch etwas anderes.
Der Zustand der Einheit oder der "Anschauung"
(the real thing) ist etwas,
das bei seinem ersten Erscheinen unbeabsichtigt irgendwann plötzlich da ist und
meist nach wenigen Augenblicken ebenso unerklärlich verschwindet, wie es
gekommen ist. Da dieser Zustand aber das beglückende Gefühl des zu-Hause-angekommen-Seins
enthält, bleibt ein Mensch, der ihn erfahren hat, diesem Erlebnis auf der Spur
- doch es kommt nicht so einfach wieder. Vielleicht vergehen Jahre bis zum
nächsten Erlebnis. Gewöhnlich jedoch werden die Abstände im Lauf der Jahre geringer,
denn ein Mensch mit dieser Erfahrung richtet sein Leben mehr und mehr auf
diesen Einklang aus. Er stellt sich darauf ein, wie man ein Radio auf den
Sender einstellt. Für mich waren in diesem Einstell-Prozeß
der moralische und der dogmatische Kodex eine Hilfe (eine Art "Koan" - für andere dagegen könnten sie ein Hindernis
sein!) und darin sehe ich auch ihre Berechtigung. Die Formulierungen waren
immer ein Prüfstein für mich, an dem ich feststellen konnte, ob meine Sicht des
Lebens und der Welt eventuell eine manische Note hatten, ob ich also in Gefahr
war, den Boden zu verlieren, oder ob ich mich in dem abgesteckten Rahmen
bewegen konnte. Ich habe daher jeden meiner Gedanken am Gerüst der Kodizes
geprüft. (So sehr mir die "Anschauung" das Denken auch als die
Fehlerquelle zeigte, sah ich doch, dass es nicht darum geht, das Denken
auszuschalten, sondern ihm den Platz zuzuweisen, der ihm zukommt, nämlich den
eines Hilfsinstruments.) In diesem Prozess der Überprüfung der Validität
aller Gedanken und Verhaltensweisen, der auf dem Weg zum Bewusstwerden niemand
erspart bleibt, wird schließlich klar, dass die ganze Welt ein Ergebnis des
inneren Dialogs des Universums ist. Und Genesis 1,27 (Gott erschafft die
Menschen "wie eine Kopie" von sich selbst) bestätigt nur, was durch
die Anschauung schon bekannt ist, nämlich dass die menschliche wie auch die
göttliche Natur des Menschen aus diesem Dialog hervorgehen ("gezeugt,
nicht geschaffen", wie es im Credo heißt), bzw. dass sie die zwei Pole
dieses Dialogs sind, die wir beide in uns haben. Aus diesem Grund können alle,
die bewusst an diesem Dialog teilhaben, von sich sagen (wie Jesus - sofern er
selbst das je wirklich von sich gesagt hat), "wer an mich glaubt, glaubt
nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat" (Joh
12,44), aber sie werden auch wissen, dass sie, wie er, ein "Stein"
sind, "den die Bauleute verworfen haben" (Mt
21,42).
In dem Zusammenhang möchte ich die
Aufmerksamkeit noch auf eine bedenkenswerte (heilsgeschichtliche) Entwicklung
lenken, die, von Propheten angekündigt, heute bereits vielerorts (zumindest in
einer anfänglichen Phase) Wirklichkeit ist und die Schleiermacher vorhergeahnt
zu haben scheint:
Für Schleiermacher haben die Propheten als
die Verkünder der jüdischen Anschauung der Vergeltung den Menschen
gewissermaßen ständig zugerufen: "Bedenkt die Folgen eures Tuns,
betrachtet das Diagramm (die historische Kurve von Identität und Entfremdung
und ihrer Folgen), das sich aus der Geschichte des Volkes Gottes ergibt:
Wenn ihr den Bund mit Gott haltet, werdet ihr siegreich sein, wenn ihr ihn
vergesst, werdet ihr vernichtet werden." Das ist es ja, was die Propheten
des Alten Testaments (auftragsgemäß) als die Wirklichkeit verkünden. Angefangen
mit Abraham haben sie daher immer wieder eine nüchterne Bilanz gezogen (besonders
deutlich und explizit wird dieses Bilanz-ziehen dann nochmals in Zusammenhang
mit dem Babylonischen Exil). Sie haben sich einfach gefragt - jenseits
aller Mythologie und Superstition: Was wirkt und was wirkt nicht? Durch ihre
ehrliche Betrachtung der Wirk-lichkeit haben sie
entdeckt, dass zwar das ganze theologische Lehrgebäude nur eine Illusion ist,
um die zu motivieren, denen die eigenen Erfahrung fehlt [das steckt hinter Jesu
Aussage: "der Sabbat ist für die Menschen da ..."], dass es aber
keine Alternative gibt zum Glauben, d.h. zum Vertrauen, also dazu, sich der
schöpferischen Kraft vollkommen auszuliefern. Das Vertrauen auf die eigene
Klugheit und Stärke dagegen, genauso wie der Kult der Kraft (im Alten
Testament: des "Baal" bzw. "der fremden Götter"), so sahen
sie, ist ebenso nur eine Illusion, letztlich purer Aberglaube. Die eigene Kraft
(= ohne die "Kommunikationsverbindung" {den Dialog} mit dem All)
hätte es von Anfang an nicht geschafft und die Zauber-Kraft der Götter stand
den Menschen nicht zur Verfügung [so sehr die Mythenbildung auch den
Eindruck des Gegenteils zu erwecken suchte - so sehr dass beispielsweise heute
als Quintessenz des Besonderen an Jesus von gewöhnlichen Pficht-Schülern
dem Sinn nach fast ausnahmslos gesagt wird, er wäre ein großer Zauberer gewesen]!
Im Gegensatz zu den anderen Leuten waren die Propheten einfach nur so ehrlich,
es einzugestehen. Vielleicht hat ihnen das Leben aber auch einfach keine Wahl
gelassen. Sie mussten jeglichen anerzogenen Aberglauben daher ablegen. Und so
kommt es, dass der "Glaube" der "Väter" von Anfang an
entmythologisierend ist.
Spätere Generationen haben daraus jeweils
wieder einen Mythos (biblisch auch: "ein goldenes Bild"[vgl. Ri 8,27]) gemacht (der ebenso natürlich bald wieder nicht
mehr funktioniert hat) und es hat weitere Propheten gebraucht, um auch diese
neuen Mythen wieder aufzulösen und erneut eine nüchterne Bilanz zu ziehen.
Jesus hat diese Entmythologisierung so sehr
forciert, dass die religiöse Obrigkeit sich durch ihn in ihrer Existenz bedroht
fühlte. Er hatte dadurch aber eine derart starke persönliche Wirkung (die
letzten Endes sogar die von Mose übertraf), dass er selbst zum Gegenstand des
Mythos wurde. So konnte es geschehen, dass man nach ihm glaubte, mit ihm wäre
die Offenbarung abgeschlossen, alles Sagbare wäre im Prinzip gesagt, man müsse
es nur noch weiter ausformulieren und systematisieren - und man könne daher auf
die prophetischen Bilanzen verzichten! Tatsächlich hat man aber gerade dadurch
eben eine neue Ideologie (neue fremde Götter) geschaffen (die natürlich später
wieder abgeschafft werden müssen). Im Eifer der Systematisierung des Wirkenden
hatte man den Prozess der Wirk-lichkeit und in ihm
die wirk-liche Rolle der Propheten aus den Augen
verloren. Und so konnte es geschehen (was in solchen Fällen immer geschieht,
weil dieses Geschehen eben einem der Gesetze des Universums entspricht):
Das nun so schön geordnete "System des Wirkenden" wirkt nicht mehr!
(Es hat gewirkt und gelegentlich wirkt es noch - ähnlich dem Gesetz des Mose -
aber vom "kairos" der Welt, also
von der Heilsgeschichte aus betrachtet, gehört die Wirk-lichkeit
dieses Mythenkomplexes heute, jedenfalls für unsere Breiten, der Vergangenheit
an - in Gegenden der Welt, in denen heute noch eine Art
"Voodoo"-Glaube herrscht, mag das anders sein.)
Immer wieder gab es dazwischen (seit dem
Abschluss der Niederschrift der letzten als "Offenbarung" anerkannten
Schrift) natürlich Menschen, denen "vom Universum" (schließlich hat
das Universum ja tatsächlich jene von Schleiermacher festgestellte - und durch
keine Theologie zu verniedlichende - dialogisches Basis) die Aufgabe zugedacht
wurde, auf diese Tatsache aufmerksam zu machen. Sie wurden, solange dies
möglich war, wie Jesus, als Störenfriede mit administrativen, polizeilichen
oder militärischen Mitteln beseitigt. Als dies nicht mehr möglich war,
entstanden neben den alten "Orthodoxien"
die immer neuen Reformationen. Schleiermacher nahm das dann als Äußerung eines
reformatorischen Prinzips, das er im Kern der höchsten Anschauung des
Universums (die das Christentum für ihn verkörpert) von Anfang an verankert
sieht [aaO. S 293f.]. Für andere - etwa für die alte
"Orthodoxie" - ist dieser Vorgang dagegen das enttäuschende
Auseinanderbrechen und die schuldhafte Zerstörung der Einheit. Tatsächlich aber
ist es genau das Fehlen des prophetischen Elements, das Fehlen der nüchternen,
entmythologisierenden Bilanz, das eine Abspaltung derer provoziert und
notwendig macht, die diese Bilanz gezogen haben und die die Unwirksamkeit der
alten Bilder festgestellt haben.
Wenn Sie erlauben, werde ich das an einem
Beispiel verdeutlichen: An einem afrikanischen Stand der internationalen
Handwerksmesse in München wurde mir eine Halskette aus schwarzen Tierhörnern
gezeigt mit der Bemerkung, diese Kette habe "Kraft". Als ich mich in
meiner Phantasie in eine entsprechende Umgebung hineinversetzte, konnte ich
diese Kraft auch spüren. Um diese Kraft aber in unserer Kultur einzusetzen,
wäre es notwendig, jene ursprüngliche Umgebung ebenfalls zumindest in der
Phantasie der Beteiligten zu erschaffen. In der Umgebung der Handwerksmesse,
inmitten von Verkaufsständen anderer Aussteller nämlich hatte die Kette absolut
keine Kraft. - Solange die gesamte Welterfahrung der Menschen unserer Gegend
christlich geprägt war, hatten die theologischen Bilder Kraft. Heute fehlt
dieser Hintergrund. Um eine Wirkung zu erzielen, muss das ganze alte
Mythengebäude neu erschaffen werden. Doch das ist ein größerer Aufwand, als das
Erlösende gleich in neuen, aus unserem heutigen alltäglichen Erleben stammenden
Bildern zu entdecken, denn zu jedem alten Bild muss man gleichzeitig auch den
ursprünglichen "Sitz im Leben", also die Lebenssituation miterklären, aus der das Bild stammt. Das ist zwar
grundsätzlich möglich und mit dieser Methode kann man heute auch Elemente
anderer antiker Religionen verstehen und sogar effektiv benützen und doch denkt
wohl kaum jemand ernsthaft daran, eine der antiken Religionen als solche
wiederzubeleben. Ähnliches gilt natürlich für die Adaption anderer Religionen
in unserer Kultur (etwa des Islam oder anderer hierzulande fremder Religionen).
Oder - man stelle sich vor - Jesus hätte sich nur auf Ereignisse berufen
können, die Jahrtausende zuvor stattgefunden haben, wer hätte sich dann für ihn
interessiert? Dann wäre seine Lehre so kraftlos gewesen wie die der anderen
Lehrer seiner Zeit. Er war doch nur deshalb so attraktiv, weil er authentisch
(also aufgrund persönlicher Erfahrung) aus der Fülle der Gegenwart schöpfen
konnte.
Deshalb - umso schwieriger und unökonomischer
der Übersetzungsprozess für alte Überlieferungen wird, umso spannender sind die
Entwicklungen, die sich hier bei uns heute vollziehen, wie das Folgende:
Weil man sich (außerhalb der alten Kirchen)
seit der Reformation erklärtermaßen auf keine Mutter Kirche mehr verlassen
konnte, hat sich eine immer größere Selbständigkeit, Mündigkeit und Reife
entwickelt. Immer kleinere Gruppen haben sich losgelöst und auch viele Einzelne
haben nach Wegen gesucht (ohne eine leitende Institution), ihr Leben im Rahmen
jener begeisternden Anschauung, die die Autoren der Bibel vermitteln, zu leben.
Ein angestrebtes Ideal war dabei
notwendigerweise die Prophezeihung des Propheten Jeremia vom Neuen Bund: "... Keiner wird mehr den andern
belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!,
sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen - Spruch des
Herrn". [Jer 31,31-34]
In diesem Sinn haben sich im Besonderen im
Verlauf des letzten Menschenalters ganz heimlich, still und leise überall auf
der Welt Menschen zusammengefunden, die eine Art "Evangelium" alleine
umsetzen: Ein Volk von Priestern, aber ohne Tempel, von Gott gerettet, aber
ohne die Hilfe einer Kirche, voll Vertrauen, aber ohne Mythos: Statt andere zu missionieren
und zu ihnen zu sagen "erkenne Gott!", sagen sie ganz bescheiden:
"Wir haben erkannt ...":
Schleiermacher scheint eine Entwicklung
dieser Art geahnt zu haben. Wie ein Prophet weissagt er - obwohl er selbst das
Zeitalter der Weissagung für längst beendet erklärt hat: "neue Bildungen
der Religion müssen hervorgehen, und bald, sollten sie auch lange nur in
einzelnen und flüchtigen Erscheinungen wahrgenommen werden. Aus dem Nichts geht
immer eine neue Schöpfung hervor, und Nichts ist die Religion fast in Allen der
jetzigen Zeit, wenn ihr geistiges Leben ihnen in Kraft und Fülle aufgeht. In
vielen wird | sie sich entwickeln aus einer von unzähligen Veranlassungen, und
in neuem Boden zu neuer Gestalt sich bilden." [Ebd. S 311f.].
Diese Weissagung hat sich erfüllt - unbemerkt
von den großen Bewegungen der Welt - in Form kleiner, unscheinbarer Gruppen,
die aber bereits heute wie ein Netz die ganze Welt umspannen: Es sind die
Treffen der sogenannten "Anonymen Alkoholiker" und verwandter Gruppen,
die ähnlich arbeiten.
Entwickelt, wie Schleiermacher sagt,
"aus einer von unzähligen Veranlassungen" - sind sie eine (inzwischen
auch nicht mehr ganz) neue Form der Religiosität, die doch ganz klar und in
genau der Weise, die Schleiermacher sieht, der alten entspringt. Die Basis der
"Anonymen" ist, auch wenn sie das so nicht sagen, ein barmherziger
Gott, der sie, die Verlorenen, die aus sich keine Chance mehr haben, rettet.
Die AA's beziehen sich nicht auf die Bibel, denn sie
wollen für alle Religionen offen sein, und doch ist der überaus starke Anklang
der "Schritte" eins bis drei von ihren berühmten zwölf Schritten [: "1. Wir haben
zugegeben, dass wir Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr
meistern konnten. 2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht - größer als wir
selbst - uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. 3. Wir fassten den
Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir Ihn
verstanden - anzuvertrauen."] an
Paulus (2 Kor 8f.) nicht zu überhören: "Wir wollen euch die Not nicht
verschweigen, Brüder, die ... uns über alles Maß bedrückte; unsere Kraft war
erschöpft, so sehr, dass wir am Leben verzweifelten. Aber wir haben unser
Todesurteil hingenommen, weil wir unser Vertrauen nicht auf uns selbst setzen
wollten, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt."
Genau auf diesen Gott, der die Toten erweckt,
vertrauen auch die Anonymen, weil sie wissen, dass es sonst nichts mehr gibt,
auf das sie vertrauen könnten. Inzwischen gibt es die verschiedensten Varianten
der ursprünglichen AA's, z.B. "Messies Anonymus", also Menschen, die ihren
"Saustall" nicht in Ordnung halten können, weiters
solche, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle haben, einschließlich der
jeweiligen Angehörigengruppen, und viele, viele
andere Selbsthilfegruppen.
Letzten Endes zeigt die Bewegung, dass es gar
nicht um "Alkohol" oder um irgendein anderes der Übel geht, nach
denen sie sich benennen, sondern um die Überwindung genau des
"Widersachers", mit dem sich seit je her alle Religionen auseinandersetzen
- "Alkohol" ist nur einer der vielen Namen dessen, womit Menschen
nicht fertig werden.
Die Anonymen haben einen Weg zur
"Anschauung" und zur Erlösung gefunden und auch neue Formen der
Gemeinschaft. Ihr ganzes Evangelium hat auf einer halben DIN A4-Seite Platz und
doch wirkt es mehr als die tausend Therapien, die seine Anhänger vorher
probiert haben und sogar mehr als die Tausenden Seiten Heiliger Schriften, die,
weil sie zu einem Mythos gemacht worden sind, den nüchternen Menschen unserer
Zeit oft nicht mehr helfen können.
Damit möchte ich auf keinen Fall sagen, dass
das Christentum keine Bedeutung mehr hätte, aber doch, dass seine Bedeutung
auch heute erst wieder neu entdeckt werden muss und dass es dabei sehr
hilfreich sein kann, zu sehen, welche Schritte der Heilige Geist in unserer
Welt sonst noch gemacht hat, die wir bisher, in überheblicher Ignoranz aus
unserer Betrachtung der Heilsgeschichte ausgeschlossen haben.
Noch etwas zu Politik und Religion.
Schleiermacher führt ja die Perversionen der Religion mit Recht auf den
Einfluss der Politik zurück [aaO. 210ff.].
Das Zeitalter menschlicher Majestäten hat die
Mythen auch als Distanzhalter geschaffen. Schließlich sollten die Untertanen ja
in Ehrfurcht erstarren, wenn sie auch nur einem subalternen Beamten seiner
Majestät begegneten. Das ist nur durch einen Mythos möglich. Zeitweise sah man
es in diesen Zeiten sogar als notwendig an, dass auch die Kinder mit ihren
leiblichen Eltern nur über Hausangestellte kommunizieren durften. Und genau so
wurden auch die Kinder Gottes behandelt - und sie werden es immer noch, denn
mag der Monarchismus auch überall in der Welt der Vergangenheit angehören, in
der Kirche lebt er weiter. [Zur Illustration ein typisches persönliches
Beispiel für diese Art von Distanz: Erstaunlicherweise war es nämlich mir
(abgesehen von rein liturgischen Anlässen) trotz Theologiestudium und fast fünf
Jahren Priesterseminar nur zwei mal in meinem Leben
kurz vergönnt, einem Bischof zu begegnen, und auch das waren mehr
Demonstrationen des Machtgefälles als Gelegenheiten des sich Kennenlernens -
was bei meinen späteren Begegnungen mit Meistern anderer Religionen durchaus
anders war, was mir wiederum zeigt, dass diese Art des Distanzhaltens nichts
mit dem Amt des "episcopus" an sich zu tun
hat, sondern nur mit europäisch-aristokratischen Konventionen.] - Dabei wäre
das Demokratische der Kirche im Prinzip nicht fremd, ja das Monarchische ist
ihr im Grund viel fremder, aber 2000 Jahre Monarchie und 1800 Jahre davon
selbst in einer Position der Macht gehen an keiner Institution spurlos vorüber.
Und natürlich haben die, die oben sitzen, wie üblich wenig Interesse, Macht
abzugeben und Revolutionen wie im Staat kann es in der Kirche ja nicht geben.
Was den Menschen bleibt, ist ein stillschweigender Rückzug; wenn die da oben
nicht gehen, dann gehen halt die unten. Das ist die Bewegung, die wir im Moment
erleben. Aber plausible andere Erklärungen (etwa der mit den
Konsummöglichkeiten zunehmende Materialismus etc.) sind leicht bei der Hand und
so kann alles (noch eine kleine Weile) bleiben, wie es jetzt schon (nur
unterbrochen von prophetischen Störungen) seit sehr sehr
langen Zeiten ist.
In allen Kulturen jedoch arbeitet der Geist
stets an immer neuen Möglichkeiten, zu den Menschen durchzudringen, sie zur unmittelbaren
"Anschauung" zu führen, in der sie die wahren Relationen erleben und
sich besinnen auf das, was ihnen von Anfang an ins Herz geschrieben ist.
Zitate aus
Die Bibel, Einheitsübersetzung, (Katholische Bibelanstalt GmbH)
Stuttgart 1980.
Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter
ihren Verächtern. (1799). Herausgegeben von Günter Meckenstock
(Verlag Walter de Gruyter), Berlin - New York, 1999.
194 Seiten [mit Paginierung der Originalausgabe von 1799, Berlin, Verlag Johann
Friedrich Unger, 312 Seiten]
Ratzinger, Joseph Kardinal: Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an
der Jahrtausendwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald. (Wilhelm Heyne Verlag),
Ungekürzte Taschenbuchausgabe, München 1998. 302 Seiten
Interessante Lektüre, 200 Jahre nach Schleiermacher:
Hoffmann, Paul: Die befreiende Erinnerung an Jesus von Nazaret.
Ein Interview mit dem Neutestamentler Paul
Hoffmann.
In: Orientierung 63 (1999) 165-171.
http://www.uni-bamberg.de/ktheo/nt/interview.htm
Hoffmanns Resümee:
"Ist
es wirklich als großer Fortschritt zu verbuchen, wenn mittlerweile der
Schöpfungsbericht kirchlicherseits nicht mehr als
empirischer Bericht verstanden [werden] muß? Aber was
400 Jahre nach Galilei gelungen ist, gilt auch für die vielen anderen
mythischen Elemente des Neuen Testaments, die wir angesprochen haben. Wir
können sie nicht mehr als "Fakten" ansehen. Den Lernprozeß,
den die Exegese durchmachte, müßte auch das Lehramt
auf sich nehmen." [ebd. 171]
Der
Geist spricht zu den Gemeinden! Ein neues Zeitalter ist angebrochen, die alten
Dinge müssen neu gesagt werden - erinnern wir uns also an die Ursprünge und
unterscheiden wir sie von den Verkleidungen.