Das Ostergeheimnis – und wer es erfährt
oder
Warum Petrus Jesus verleugnet
(für Frau Rosenberger)
Alle
vier Evangelisten berichten in leicht variierenden Erzählungen, dass Petrus in
der Nacht, als Jesus verhaftet wurde, ihn drei mal verleugnet habe – in den
knappen Worten des Evangelisten Johannes (Joh 18, 17.25–27):
"Da
sagte die Pförtnerin zu Petrus: Bist du nicht auch einer von den Jüngern dieses
Menschen? Er antwortete: Nein. ...
Simon
Petrus aber stand (am Feuer) und wärmte sich. Sie sagten zu ihm: Bist du nicht
auch einer von seinen Jüngern? Er leugnete und sagte: Nein.
Einer
von den Dienern des Hohenpriesters, ein Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr
abgehauen hatte, sagte: Habe ich dich nicht im Garten bei ihm gesehen? Wieder
leugnete Petrus und gleich darauf krähte ein Hahn."
Bei Markus und Matthäus flucht Petrus dabei sogar.
Wie
ist es möglich, dass genau dieser Mensch dann das Fundament der daraus
entstehenden Bewegung werden konnte?
In
Petrus ist offenbar zwischen jener Nacht und seinem ersten öffentlichen
Auftreten zu Pfingsten eine radikale Wandlung erfolgt. Diese Wandlung erinnert
an das legendäre Gespräch zwischen Jesus und einem Pharisäer namens Nikodemus
(Joh 3, 1–11):
"Wenn
jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich
Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus
dem Geist geboren ist, das ist Geist. ... Der Wind weht, wo er will; du hörst
sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit
jedem, der aus dem Geist geboren ist."
In
der Nacht der Verhaftung Jesu war Petrus noch nicht aus dem Geist geboren, zu
Pfingsten war es geschehen – wie war das geschehen?
Der
Tod Jesu hat ihn (und die anderen Apostel – was mit Judas ist, muss weiter
unten noch extra geklärt werden) so sehr erschüttert, dass er nicht mehr so
weiterleben konnte:
Bis
zu diesem Zeitpunkt hatte er, wie fast alle Menschen, geglaubt, er müsse das
Leben aus seiner eigenen Kraft heraus meistern, und das Leben schien ihn zu
bestätigen. Jesus hatte zwar immer schon davon gesprochen, dass er nicht aus
seiner eigenen Kraft heraus lebe, sondern aus der Kraft des Vaters, aber seine
Schüler waren zu sehr verwurzelt in der "normalen" Sicht des Lebens.
Sie konnten das nicht in dem wörtlichen Sinn verstehen, wie Jesus es gemeint
hatte und vor allem konnten sie sich nicht vorstellen, dass das auch für sie
selbst wahr sein könnte. Jesus war für sie zu sehr aus ihrer eigenen
Alltags–Welterfahrung entrückt. Für sie war er wie ein Wesen aus einer anderen
Welt – und das war er auch, aber nicht so wie sie gedacht hatten und wie die
meisten Christen heute noch denken. Von Ostern an aber haben sie diese andere
Welt selbst kennengelernt (und viele Christen haben sie nach ihnen ebenso
kennengelernt) – ohne allerdings den mythischen Nimbus, den sie Jesus verliehen
hatten, je zu revidieren, zu sehr hatte sich dieser Eindruck des Unglaublichen
bei ihnen eingeprägt. Heute allerdings können wir – müssen wir – auch diese Stellung
Jesu neu betrachten. Zunächst aber wieder zurück zu Petrus und den Jüngern:
Nach
dem Tod Jesu konnte Petrus (und die anderen) nicht mehr so weiterleben wie
vorher. Er (wie die anderen auch) war von Jesus völlig eingenommen. Er hatte
sich ihm völlig ausgeliefert und überantwortet, weil er täglich neu erfuhr,
dass Jesus eine viel tiefere Einsicht in Menschen und Dinge hatte, als er sich
auch nur vorstellen konnte.
Nun
aber war der, dem er die Verantwortung für sein Leben übertragen hatte, nicht
nur räumlich von ihm abgesperrt, sondern ihm für immer entzogen, weil tot!
Nachdem
der unmittelbare Schock der Verhaftung und Hinrichtung Jesu abgeklungen war,
erkannten er und die anderen Apostel, dass sie nun wieder auf sich gestellt
waren. Dieses Ich, auf das sie nun wieder gestellt waren, hatte sich aber in
der Zeit, in der sie mit Jesus zusammen gewesen waren, als ungeeignet für diese
Aufgabe herausgestellt. Sie hatten daher jetzt nichts mehr, auf das sie sich
stellen konnten. Sie waren am Ende. Sie konnten nur noch ihre absolute
Hilflosigkeit und Unfähigkeit und ihre Verzweiflung eingestehen.
"Wenn
ich nicht gehe, kann der Tröster nicht zu euch kommen" (Joh 16, 7), hatte
Jesus zu ihnen gesagt, aber sie hatten es nicht verstanden – wie sie auch nicht
verstanden hatten, aus welcher Kraft heraus Jesus lebte. Doch nun – mitten in
ihrer Verzweiflung, genau an dem Punkt, an dem sie schon jenseits ihres ersten
Jammergetöses einfach nüchtern ihre aussichtslose Lage betrachteten (und Gott
ohne Worte baten, ihnen doch Rat zu schicken), geschah das Wunder: Sie spürten
eine Welle von Kraft in sich einströmen, die sie in der Vergangenheit zwar in
wenigen erlesenen Augenblicken bereits ansatzweise kennengelernt hatten, von
der sie aber nie zu träumen gewagt hätten, dass sie einmal ihre Lebensquelle
sein würde, aber jetzt wurden sie zur Gänze von ihr erfüllt und die Welle
dieser göttlichen Kraft schwemmte jede Spur der Verzweiflung weg und ließ nur
das Bewusstsein, dass ihr Meister nun wieder bei ihnen war – und zwar so real,
dass die späteren Berichte es als geradezu "körperliche" Anwesenheit
beschrieben, obwohl aus den älteren Berichten ganz klar hervorgeht, dass eine
geistige Präsenz gemeint ist, die sie aber körperlich erlebten.
Genau
dieser Vorgang wiederholte sich nun über einen gewissen Zeitraum immer wieder,
bis sie "am fünfzigsten" Tag (Pentecoste) als neue Menschen selbst an
die Öffentlichkeit treten konnten, wie es zuvor nur Jesus gekonnt hatte.
Dieses
Geschehen war es, das später als die "Auferstehung Jesu" bekannt
geworden ist, obwohl es weniger mit Jesus zu tun hat, als mit seinen Schülern.
Für sie war es nämlich ihre "Wiedergeburt aus dem Geist". Auf dem
Berg Tabor hatten sie einen Vorgeschmack davon bekommen, zu Ostern hatte sie
real begonnen und zu Pfingsten war ihre Transformation abgeschlossen.
In
heutigen Worten (deren Wirklichkeit wir aber bereits im Alten Testament
beschrieben finden, insbesondere in der vielfach wiederkehrenden Kritik an der
Haltung des Königs Saul) können wir den Vorgang so beschreiben:
Als
Petrus seinen Meister verleugnete, war er noch in seinem alten Ich. Er lebte
noch aus seiner "eigenen" Kraft. Aus dieser Kraft konnte er der
Belastung nicht standhalten, die die Frage nach seiner Zugehörigkeit zu Jesus
bedeutete, nämlich der damit verbundenen Lebensgefahr. Solange Petrus (und das
gilt natürlich genauso für die anderen Apostel) aus dieser "eigenen"
Kraft heraus lebte, konnte das, was Jesus tat, nur als
"übernatürlich" erscheinen und sie konnten sich nicht vorstellen, was
Jesus ihnen des öfteren gesagt hatte, nämlich dass "sie noch größere Dinge
tun" würden, als er sie getan hatte (Joh 14, 12).
Als
sie ihren Meister aber verloren hatten und sie vor dem absoluten Nichts
standen, mussten sie einsehen, dass sie aus ihrer "eigenen" Kraft heraus
überhaupt nicht mehr leben konnten. Sie konnten nur noch Gott in ihrer
Verzweiflung bitten, ihre nicht mehr vorhandene Kraft doch mit seiner zu
substituieren. Und da von ihrer "eigenen" Kraft in diesem Moment
wirklich keine Spur mehr vorhanden war, war es als ob ein absolutes Vakuum die
absolute Fülle ansaugt, das absolute Nicht–Sein das absolute Sein.
Der
Prozess verlief in Wellen und brauchte einige Zeit, bis nach und nach jede noch
versteckte Illusion der eigenen Kraft aus ihnen entwichen war – und vielleicht
ist bis zuletzt nicht restlos alle Illusion entwichen – jedenfalls aber genug,
um ihre vorher dominierende Todesangst zu überwinden und jeden Zweifel darüber
zu beseitigen, dass es nun an ihnen war, die Botschaft, die Jesus ihnen
gebracht hatte und die sie in diese Lage versetzt hatte, weiterzugeben. Auf der
neuen Grundlage ihres Lebens war das nun möglich. Die Kraft des Schöpfers
selbst war es jetzt, die sie trug und die sie leitete auf allen ihren weiteren
Wegen. Und sie konnten nun auftreten, wie Jesus aufgetreten war.
Damit
ist nichts darüber gesagt, wie der persönliche Weg Jesu weitergegangen ist. Der
persönliche Weg interessiert nicht, denn wenn die "eigene" Kraft weg
ist und die göttliche Kraft "an ihre Stelle getreten" ist (hier ist
bereits klar, dass es nie eine "eigene" Kraft gegeben hat, sondern
nur eine Illusion davon), gibt es nur noch ein Interesse, das Göttliche. Die
Auferstehung Jesu hat also, genau genommen, nichts mit Jesus persönlich zu tun,
sondern nur mit der Intention, die ihn getragen hatte, und die nun, da er nicht
mehr auf Erden weilte, in seinen Schülern weiterwirkte.
Ähnliches
gilt auch für den Schüler, der ihn "verraten" hat und der sich, den
Worten des Evangelisten Matthäus nach, umgebracht hat (Mt 27, 3–11), in der Variante
des Lukas in der Apostelgeschichte "stürzte er vornüber zu Boden, sein
Leib barst auseinander, und alle Eingeweide fielen heraus" (Apg 1, 18).
Judas
steht für die Weigerung, zu kapitulieren. Auch er steht vor dem Nichts, und
auch er kann diese Realität nicht aushalten, aber er hält fest an seinen
Vorstellungen von der Welt und an der Idee von der "eigenen" Kraft.
"Die Eingeweide", also das Symbol des Ursprungs der eigenen Kraft,
können nicht in ihm bleiben angesichts der Realität, dass es keine eigene Kraft
gibt, sondern nur eine Kraft, nämlich die des Schöpfers. Unter diesen Umständen
kann es nicht anders sein. Die Quelle der vermeintlichen eigenen Kraft muss den
Menschen verlassen, der sie nicht loslässt. Die Wirklichkeit demonstriert sich
selbst.
Was
da geschildert wird, ist eine Art Traum, eine Komposition von Symbolen, ein
metasprachlicher Ausdruck der Wirklichkeit von der unbedingten Realität der
einen Kraft. Sicherlich liegt es nicht in der Absicht der Autoren, eine Aussage
über das persönliche Schicksal des Judas zu machen. Denn das persönliche
Schicksal des Judas interessiert genauso wenig wie das persönliche Schicksal
Jesu. Auch wenn später von Jesus gesagt wird, Gott habe ihm "einen Namen
gegeben, der über alle Namen ist" (Eph 2, 9) etc. – all diese Attribute
kommen Jesus ja zu, aber es geht nicht um das weitere persönliche Schicksal
Jesu, sondern um die Intention, die ihn bewegte, um seinen Auftrag und um die
Treue, in der die göttliche Kraft in ihm wirken konnte. Judas dient nun als das
abschreckende Gegenbeispiel. An ihm wird sichtbar, was geschieht, wenn jemand
nicht loslassen kann: Er muss zerbrechen. Es gibt nur die zwei Möglichkeiten:
Entweder von da an Gott als "Herrn" akzeptieren oder zerbrechen.
Genau
diese Erfahrung wird heute bestätigt von der inzwischen weltweit vertretenen
Bewegung der "Anonymen Alkoholiker" und aller weiteren Gruppen, die
auf der Basis ihrer Erfahrung arbeiten:
Der
erste Schritt, den sie tun müssen, um gerettet zu werden, ist die
"Kapitulation". Eines Tages in ihrer Trinkerkarriere stehen sie am
Scheidepunkt: Entweder sie geben zu, dass sie es aus ihrer eigenen Kraft heraus
nicht schaffen, mit dem Trinken auszuhören und sie vertrauen darauf, dass es da
eine andere Kraft gibt, die ihnen helfen kann – oder sie werden sich zu Tode
trinken. Ohne Kapitulation folgt unfehlbar der Tod. Unausweichlich zerbrechen
sie an sich selbst. Es gibt keine dritte Möglichkeit. Was aber die erleben, die
es wagen, zu kapitulieren und ihr Leben Gott anzuvertrauen, ist genau jene
Wiedergeburt aus dem Geist, von der Jesus dem Nikodemus erzählte, die dieser
damals nicht verstand und die viele (besonders Würdenträger wie Nikodemus) auch
heute noch nicht verstehen – gerade Würdenträger haben ja wenig Anlass zu
kapitulieren, sie befinden sich ja gerade nicht in der Situation, in der sich
die Schüler Jesu befanden, als ihr Meister getötet wurde, und sie haben auch
nicht die Kontrolle über ihr Leben verloren. Aus diesem Grund bleibt vor ihnen
(den Klugen) möglicherweise verborgen, was gerade den "Unmündigen"
(!) aber geoffenbart wird (Mt 11,25).
Der
mündige Petrus hat versagt. Der unmündige hat gesiegt. Aus dem unvermeidlichen
Ende ist ein Anfang geworden, der auch unser gegenwärtiges Heute noch
überdauern wird, denn es ist die alte Geschichte vom Paradox des Lebens, das
erst richtig beginnt, wenn es verloren scheint.
Bleibt
also noch die Frage nach uns selbst hier und heute oder nach dem Schicksal der
Menschen unserer Zeit. Wer in unserer Gesellschaft glaubt denn nicht, aus
seiner "eigenen" Kraft zu leben? Das ist doch das Um und Auf heutigen
Lebens! Jeder will besser sein als der Andere. Die "eigene" Kraft
wird doch geradezu angebetet. Werden wir also alle das Schicksal des Saul oder
des Judas haben?
Für
viele wird das tatsächlich so sein. Viele finden erst im Tod ihren Meister. Der
Spruch der Weisen lautet daher: "Stirb, bevor du stirbst!"
Zu
unserem Glück kündigt der Tod sich an. Es gibt viele kleine Tode, wenn wir
aufmerksam sind, jeden Tag, viele Gelegenheiten, die Realität anzuerkennen,
dass es nur eine Kraft gibt und dass wir keine Wahl haben, als ihr zu folgen.
Deshalb ist das Symbol von Ostern, das Lamm. Das Lamm folgt seinem Herrn, auch
wenn das seinen Tod bedeutet. Ohne Tod keine Auferstehung. Nur wer hineingeht
in das Wellental kann von der Welle emporgehoben werden. Wer ungeachtet der
Wellen seinen eigenen Kurs fährt, muss Schiffbruch erleiden. "Das
Balkenstarke stirbt keinen guten Tod", sagt der chinesische Weise Lao–tse.
Es bleibt uns also nur, unser Haupt zu beugen vor der Kraft, die alles lenkt.
Dann können auch wir sagen: "Und müsst ich auch wandern im Tal der
Todesschatten, ich fürchte kein Unheil, denn Du bist bei mir."
Weil
heute die Surfer so gerühmt werden: Das ist kosmisches Surfen: Sich tragen
lassen von der ewigen Welle in ihren momentanen Ausformungen und wenn eine
Welle zu Ende geht, mit ihr den Tod erleiden und mit der nächsten auferstehen
und das Ganze vielleicht mehr als zehn mal am Tag. Wer sein Haupt beugt, wer
loslässt, ist entspannt genug, in jeder Hinsicht wahrzunehmen, wo es wieder
aufwärts geht. Immer ist das in einer anderen Welt und irgendwann in einer ganz
anderen Welt.
Eines
sollten wir dabei aber nicht vergessen: Wenn es uns nicht gelingt, loszulassen,
wenn es uns nicht gelingt, unser Haupt zu beugen und die eine Kraft als unseren
Herrn anzuerkennen, dann liegt das daran, dass diese eine Kraft es uns noch
nicht erlaubt hat. Vielleicht gelingt es uns aber heute, uns selbst ein wenig
mehr zu verstehen. Wir gehen (irrtümlich!) meistens davon aus, dass wir frei
wären, aber wir sind es nicht, solange wir nicht kapituliert und uns dieser
Kraft freiwillig unterworfen haben, der wir ohnehin unterworfen sind. Wenn wir
die Strömungen betrachten, die familiären Verwicklungen unserer Ahnen und aller
psychischen und genetischen Linien, die zu uns führen und die uns zu dem
gemacht haben, was wir sind, können wir uns besser verstehen. Dann können wir
vielleicht sogar, wie Jesus, als er zu der Ehebrecherin sagte "auch ich
verurteile dich nicht", ähnliches zu uns selbst sagen und zu allen, mit
denen wir zu tun haben. Und dann werden wir auch nicht mehr automatisch meinen,
so einer wie Judas wäre verloren. Er hatte ein schweres Schicksal. Was aus ihm
persönlich geworden ist und wie er sich angesichts seines physischen Todes
entschieden hat, wissen wir nicht, aber könnte es nicht doch so sein, dass auch
er nur dem gefolgt ist, was er als richtig erkennen konnte? Eine Betrachtung
dieser Art könnte ein wichtiger Schritt sein auf dem Weg zu unserer eigenen
Ostererfahrung.