Der Teufelswahn
26. 6. 2002
Menschen mit Teufelswahn
leiden daran, dass sie immer wieder glauben, sie wären der Teufel und sie wären
in der Hölle.
Diesem Wahn zugrunde liegen
frühkindliche Schlüsselerlebnisse, in denen die Eltern des betroffenen Kindes
diese Begriffe verwendet haben oder gar das Kind selbst als „Teufel“ bezeichnet
haben.
Diese Bezeichnung hat wohl
der Erfahrung und den Ausdrucksmöglichkeiten der Eltern entsprochen, die sich in
den betreffenden Situationen einfach nicht mehr zu helfen wussten. Das Kind
aber war in diesen Situationen ebenso hilflos, weil es sich vollkommen
ignoriert und missverstanden fühlte und seinem Gefühl nach völlig zu Recht
verrückt spielte.
Um einen Teufelswahn
loszuwerden, ist es nötig diese Zusammenhänge zu verstehen. Es handelt sich um
einen Teufelskreis einander bedingender Missverständnisse und Fehlhaltungen
aufgrund von Prägungen fehlerhafter Begriffsbildungen [auch bei den Eltern],
deren [fehlerhafte] Elemente durch starke Sanktionen [extreme Schuldgefühle,
Höllenängste] geschützt sind.
Das Zentrale an der
fehlerhaften Begriffsbildung ist, dass nicht verstanden wird, was „böse“
bedeutet, nämlich dass jeder Mensch in gewissen Situationen böse wird, wie das
jeder von sich selbst und von anderen kennt.
Bei Menschen mit einem
Teufelswahn ist das „böse“ abgelöst von dem natürlichen böse
Werden und zu einer selbständigen [philosophisch-moralischen] Kategorie
geworden, die dem als solches gedachten „Bösen“ oder dem „Teufel“ zugeordnet
ist. Diese Kategorie bildet den Kern eines jeden Teufelswahns. Sie ist eine
irreale Kategorie, der allerdings eine [nicht als solche erkannte]
archetypische Wirklichkeit entspricht, die sämtliche Wirkungen des natürlichen
böse Werdens einschließt. Das natürliche böse Werden aber kommt eben nicht aus
einer dem „Guten“ entgegen gesetzten „bösen“ Welt, sondern es ist ein
natürlicher [instinktiver] Verteidigungsmechanismus, der einsetzt, wenn alle
anderen zur Verfügung stehenden Mittel versagen.
Ein Ausweg aus dem
Teufelswahn ist nur möglich durch Verstehen.
Zunächst müssen wir das
Verhalten der Personen verstehen, die die Prägeerlebnisse auslösen. Wir müssen
also verstehen, was beispielsweise bei einer Mutter [oder einem Vater] abläuft,
die ihr Kind schlägt, nämlich, dass sie mit dem Verhalten des Kindes in der
speziellen Umgebung vollkommen überfordert ist. Ihr Repertoire an
Verhaltensstrategien ist erschöpft. Daher wird sie böse und schlägt das Kind –
oder nennt es darüber hinaus gar noch einen „Teufel“. Das ist bedauerlich, aber
verstehbar. Eine Lösung [für die Mutter und für das Kind] besteht nicht in der
moralischen Verurteilung ihres Verhaltens, sondern sie kann nur darin bestehen,
ihre Hilflosigkeit zu sehen und ihr zusätzliche
Verhaltensmöglichkeiten zu zeigen.
Als Betroffene [als Kinder
einer solchen Mutter] sind Menschen mit Teufelswahn aber zunächst unfähig,
dieses Verhalten zu verstehen. Sie identifizieren sich ja mit dem Kind, das das
Verhalten der Mutter auch nicht verstehen, sondern nur verurteilen kann.
Das Kind ist böse geworden,
weil es sich nicht verstanden fühlte, weil die Mutter es nicht verstanden hat,
dem Kind zu erklären, warum sie so und nicht anders handeln muss.
Wenn eine Mutter es immer
wieder nicht versteht, ihr Verhalten dem Kind zu erklären und dem Kind auch zu
erklären, warum manche seiner Wünsche im Moment nicht erfüllt werden können,
kann es leicht geschehen, dass das Kind vor lauter Nichtverstandensein
ausflippt und vollkommen verrückt spielt, so verrückt, dass die Mutter auf die
Idee kommt, ihr Kind einen „Teufel“ zu nennen.
Und wenn dies oft geschieht,
kann es sein, dass dieses Kind später, wenn es erwachsen geworden ist, und
wieder in eine Situation kommt, in der es sich so vollkommen unverstanden fühlt,
wieder am liebsten ausflippen würde, sich das mittlerweile aber nicht mehr
getraut. Es spürt nur den Hass gegen diese nichtverstehenden Menschen oder gar
gegen die nichtverstehende Welt [hier liegt auch der Grund für Amokläufe].
Gleichzeitig erlebt es sich selbst als unschuldig [an der Situation], und baut
sich in seiner Phantasie eine ideale heile Welt auf, in der seine Wünsche
erfüllt werden. Weil es sich diese Welt doch so sehr wünscht, will es deren
Bedingungen überall einfordern, natürlich vergeblich, was seine Frustration
noch steigert. Und so kann es geschehen, dass sich dieses Kind, erwachsen
geworden und gerade in Umkehrung seiner unrealistischen Vorstellungen,
plötzlich und ohne Vorwarnung selbst als wirklichen Teufel erlebt.
Das Kind hat unbewusst und
unfreiwillig die Begriffe der Eltern übernommen und es wendet diese Begriffe,
die die Eltern in Bezug auf das Kind noch bildlich verwendet hatten, nun
buchstäblich auf sich selbst an und glaubt nun, tatsächlich der Teufel zu sein.
Damit sind wir beim
Teufelswahn mit seinen unendlichen Varianten von Höllenerlebnissen. Eine
Befreiung daraus ist mit normalen psychiatrischen Mitteln kaum möglich, weil es
sich ja um tiefe frühkindliche Prägeerlebnisse handelt, die durch schwere
Sanktionen geschützt sind vor Veränderung oder Löschung.
Eine Aufhebung ist nur
möglich durch eine gleichzeitige allmähliche Annäherung an das Verstehen von
verschiedenen Seiten.
Zunächst gilt es, das Paradox
der Situation zu sehen: Menschen mit Teufelswahn erleben ja das Verhalten
vieler anderer Menschen als ihrem Ideal nicht gemäß und daher zu verurteilen.
Sie erleben gewissermaßen sich als die Unschuldsengel von lauter Teufeln
umgeben, die ihnen Übles wollen und die ihnen das Gute, das sie ihnen, wie sie
glauben, schulden, vorenthalten. Sie sind daher oft endlos damit beschäftigt,
sich über das Verhalten der anderen Menschen zu ärgern und es zu verurteilen.
Wie schon gesagt, haben sie
sich eine der Realität entgegen gesetzte Idealwelt aufgebaut und sie halten mit
allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln fest an dem Glauben, so müsste es
eigentlich sein: Die Menschen müssten immer lieb und nett zueinander sein,
hilfsbereit, immer für sie da, nichts verlangend, aber alles gebend. In dem
Maß, in dem die Realität von diesem Ideal abweicht, sind sie enttäuscht [ohne
je ihre Täuschung aufzugeben] und daher endlos beleidigt – und dann schlägt ihr
Beleidigtsein [in dem sie sich doch als unschuldige
Opfer fühlen] plötzlich und ohne erkennbaren Grund um in die Vorstellung, sie
selbst seien der Teufel.
Für einen nicht Betroffenen
Menschen ist das ein vollkommen logischer Vorgang, der in der
Widersprüchlichkeit der phantasierten Idealwelt begründet ist, für den
Betroffenen aber liegt der Zusammenhang vollkommen im Dunkeln. Seine Logik muss
daher sichtbar gemacht werden.
Jedes Ansprechen solcher
Zusammenhänge wird aber von einem Menschen mit Teufelswahn gleichzeitig immer
als eine existentielle Bedrohung erlebt. Es muss daher äußerst achtsam
geschehen – und doch immer das Maß von Rücksichtnahme überschreitend. Der Teil,
der schmerzt, ist es ja, der heilt. Und so geht die Heilung dann zwar sehr sehr langsam und mit vielen Rückschlägen, aber doch Schritt
für Schritt voran.
Etwas vom Wichtigsten dabei
ist es, klar zu machen, dass Verurteilungen nicht nur einen eskalierenden
Effekt haben, sondern dem Verstehen direkt entgegengesetzt sind, das Verstehen
und damit die Heilung also behindern, dass es daher immer und überall äußerst
wichtig ist, Verurteilungen zu vermeiden.
Dazu müssen alle Situationen,
in denen Verurteilungen gewohnheitsmäßig auftauchen, neu gesehen werden unter
dem Gesichtspunkt des Verstehens. Dabei wird nach und nach klar, dass ein Teil
dessen, was als jetzt Verletzung erlebt wird, in Wirklichkeit gar keine
Verletzungen sind, sondern eben Versuche, den Teufelskreis zu durchbrechen und
dann wird außerdem klar, dass die abscheulichen Monster, von denen die
wirklichen Verletzungen ausgehen, selbst nur arme Teufel sind, die leider
[wegen all der Frustrationen, die sie selbst ständig erleiden] sich nicht
anders zu helfen wissen als damit, um sich zu schlagen. So entsteht Mitgefühl
mit denen, die bisher für „böse“ gehalten worden sind.
Gleichzeitig muss geübt
werden, zu sich selbst zu stehen, ohne sich über irgendjemand zu überheben, vor
allem auch zu den eigenen Schwächen zu stehen, sie also nicht zu verbergen,
sondern zu sagen, wann die Grenze erreicht ist – sich also auch selber nicht zu
verurteilen, sondern sich auch selber zu verstehen und zu akzeptieren.
So bewegt sich nach und nach
das Leben eines Menschen mit Teufelswahn weg vom ständigen sich gegenseitig
Verurteilen und Niedermachen hin zu einem sich gegenseitig Verstehen und
Aufbauen. Der Wendepunkt ist da, wo dem Betroffenen klar wird, dass er nicht
damit rechnen kann, dass die Anderen sich an sein Idealbild halten, sondern
dass er selbst damit beginnen muss, zu verstehen, zunächst sich selbst und
parallel damit auch die Anderen.