Der Totalangriff gegen jede Moral:
Das Gleichnis vom
Barmherzigen Samariter
(2002-05-15)
Meistens wird das Gleichnis Jesu vom Barmherzigen Samariter (Lk 10, 25-37) als Beispiel der ganz neuen Moral des Neuen
Testaments gebracht. Das ist ein grobes Missverständnis. Dass dieses
Missverständnis kaum je von jemand bemerkt wird, liegt an der Gehirnwäsche, die
fast alle Bibelleser hinter sich haben. Wegen verfestigter Begriffskopplungen
können sie die Zusammenhänge nicht mehr erkennen. Sie sind durch ihre religiöse
Erziehung unfähig gemacht worden, das Offensichtliche zu sehen. Sie sind also
in der gleichen Situation wie die Zuhörer Jesu, denen er dieses Gleichnis
erzählt, nur dass diese Geschichte durch die vorangegangene Umprogrammierung
für die heutigen Zuhörer viel von ihrer Kraft verloren hat.
Die Zuhörer Jesu sind von Moral geprägt. Als Archetypen der
Moralgeprägten verwendet Jesus in seiner Geschichte einen Priester und einen
Schriftgelehrten. Er verwendet zwei, um die unterschiedlichen Färbungen der
Gehirnwäsche, denen sich die beiden unterzogen hatten, zu berücksichtigen und
um sich nicht dem Einwand der Parteinahme für eine der beiden Richtungen
auszusetzen, die ja beide unter seinen Zuhörern gegenwärtig waren.
In die heutige Zeit übersetzt, müsste man vielleicht an einen
fundamentalistisch gebildeten Kirchenfunktionär und an einen kirchlich liberal
sozialisierten Fachmann denken oder überhaupt nur an einen Fundamentalisten und
einen Liberalen, beide aber gehobene Bildungsstufe, etwa Universitätsabschluss.
Am Schwierigsten ist es, heute ein Äquivalent für den Samariter zu
finden. Er war als Kaufmann immerhin also auch nicht ungebildet, außerdem muss
er erfolgreich gewesen sein, denn er hatte Geld, das er entbehren konnte. Aber
er war ein verhasster Ausländer, der von den religiösen Gesetzen der Juden
keine Ahnung hatte. Ihm fehlte also die Gehirnwäsche, die den Priester und den
Gesetzeslehrer auszeichneten [dieses Wort verwende ich hier keineswegs abschätzig,
denn in Kreisen von Gesetzeslehrern und Priestern gilt es ja damals wie heute
als ein Zeichen gefährlicher Unzuverlässigkeit, wenn es bei einem Menschen
Anzeichen dafür gibt, dass diese Gehirnwäsche entweder nicht stattgefunden oder
nicht ausreichend gewirkt hat]. Er hatte nicht, wie das heute vielleicht gesagt
werden würde, die Nächstenliebe „verinnerlicht“ [was nur ein anderer Ausdruck
für Gehirnwäsche ist]. Er war wohl eher kein religiöser Mensch, sondern einer,
der an Geschäften interessiert ist, der sich dabei aber nicht an irgendwelche
anerkannten Methoden der Profitmaximierung hält [seine Berufsgenossen mögen ihn
deswegen für ein bisschen beschränkt halten], sondern der auf seine eigene
Wahrnehmung vertraut.
Das also sind die drei Akteure der Geschichte. Zwei von ihnen sind vollgestopft mit Moral und genauesten
Gesetzeskenntnissen, also im besten Sinn gebildet, der dritte von absolut
unzuverlässiger, ja gefährlicher Herkunft.
Seltsamerweise ist es in unserer Geschichte aber gerade der moralisch
ungebildete Ausländer, der von der Situation zum Handeln bewegt wird – nicht
zum moralischen Handeln, sondern zum morallos-menschlichen Handeln, zu einem
Handeln der menschlichen Natur gemäß, während beide Sorten der moralisch
Gebildeten ihre barmherzige Natur durch ihre Bildung wegrationalisiert hatten.
Jesus formuliert daher nicht ein neues Gebot, sondern im Gegenteil, er
formuliert ein Anti-Gebot. Das wird auch aus seiner Umkehrung der Fragestellung
sichtbar: Der Gesetzeslehrer will eine Auskunft über eine moralische
Anforderung an ihn. Jesus aber verweigert die moralische Auskunft. Er antwortet
ihm nicht wie wir es erwarten würden: „Der Überfallene wäre der Nächste zu
allen drei Passanten gewesen“. Er fragt statt dessen:
„Wer von den Dreien ist dem Überfallenen am nächsten gekommen“? In heutigen
Worten hätte er auch fragen können: „Zwischen welchen der drei Paare hat die
Kommunikation funktioniert?“ Der Priester und der Schriftgelehrte hatten ihre
Kommunikationsfähigkeit verstellt (blockiert) durch ihr moralisches Wissen. Die
Kommunikationsfähigkeit des Kaufmanns war nicht verstellt, seine fühlende Natur
war intakt. Deshalb konnte er berührt werden vom Schicksal des Überfallenen.
Die Moral ist also nicht die Lösung, sondern sie ist die Ursache des Problems. Durch
sie geht das natürliche Mitgefühl verloren. Das ist die Aussage Jesu.
Jesus formt die Frage des Pharisäers, die eine moralische ist – „was
muss ich tun, wer ist mein Nächster, also bei wem muss ich meine Moral anwenden
- und bei wem brauche ich sie nicht anwenden“ - um in eine Frage der Faktizität
und damit formuliert er eine antimoralische Perspektive.
Faktizität hat mit Moral nichts zu tun. Es besteht keine Steuerung
durch ein Ideal, durch einen Wert, sondern die Steuerung erfolgt durch das
Fühlen. Es ist auf das Angenehme gerichtet, auf das sich Wohl Fühlen. Der
Kaufmann fühlte sich wohl, indem er half. Das war sein Motiv. Es hatte kein
Ideal, keine begrifflich definierten Werte. Er war in keiner Weise
außengesteuert, wie der Priester und der Schriftgelehrte es waren, er trachtete
nach nur Harmonie in seinem Inneren. Der Priester und der Schriftgelehrte
hatten diese Harmonie in ihrem Inneren durch ihre Moral aus den Augen verloren.
Der Kaufmann hätte sich ohne sein natürliches Mitleid nicht wohl gefühlt.
Mit Wohl Fühlen meinte ich nicht die Abwesenheit von Schmerz oder eines Mangels
oder eines Überschusses, ich meine die innere Integrität. Nur in ihr ist ein
Wohl Fühlen möglich, auch wenn die äußere Situation sehr unkomfortabel sein
mag. Es geht nur um die innere Integrität, die innere Übereinstimmung, die
Wahrheit. Das ist es, was Jesus erreichen will bei seinen Zuhörern.
Mit Moral geht das nicht, denn Moral ist immer etwas Eingebildetes – im
strikten wie im übertragenen Sinn des Wortes. Sie ist etwas von außen kommendes
Künstliches, das das natürliche Empfinden behindert. Moral entspringt einem
grundlegenden Misstrauen gegen die Natur, also gegen die Schöpfung. Moral ist
immer ein grundlegendes Misstrauen gegen Gott. Jesus dagegen sieht Gott als seinen
Vater und er vertraut ihm und seiner Schöpfung unbedingt. Daher braucht er
keine Moral. Und daher entlarvt er die Moralisten immer wieder als Ungläubige.
Die Geschichte, die Lukas erzählt, ist zwar vielleicht gar nicht von
Jesus, sondern wieder „nur“ so eine Legende, die einfach etwas immer wieder
Kehrendes, Typisches in die Form dieser Geschichte kleidet. Aber sie beschreibt
das Wesentliche der Lehre Jesu.
Die andere Seite dieser Lehre findet sich in der nun mit Sicherheit von
Jesus selbst aufgeworfenen Forderung des Nicht-Urteilens.
Die Moralisten sind ja bekannt für ihre moralischen Verurteilungen, die
sie – wie könnte es anders sein – gewissermaßen aus Rache für die
Unannehmlichkeiten der Selbstbeschränkung, die ihnen die Moral auferlegt, denen
überbraten, die sich den Zwang der Moral nicht antun. Deshalb sagt Jesus
„urteilt nicht“ und er macht sich zum Anwalt der Morallosen, der
Prostituierten, der Ehebrecher, der Zöllner etc..
„Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“, hatte es ja immer schon geheißen.
Manche wundern sich aber, wie Jesus angesichts seiner eigenen obersten
Direktive, nicht zu urteilen, sich selbst nicht den geringsten Zwang dabei
antut, gewisse Leute in Grund und Boden zu verdammen und wie er dazu kommt,
manchen von den Menschen so etwas wie ewige Verdammnis anzudrohen.
Das hat mit der Gehirnwäsche und mit der mit ihr zusammenhängenden Eingebildetheit der gehirngewaschenen Menschen zu tun, also
mit deren Glauben, sie wären über die „Sünder“ erhaben. Jesus hat bei seinen
Gerichtsankündigungen nicht die Absicht irgendwelche Aussagen über irgendwelche
künftigen Ereignisse zu machen, er greift nur die vorhandenen Bilder auf – und
wendet sie gegen ihre Benützer, die mit diesen Bildern ja nur andere Menschen
abqualifizieren wollten. Jesus sagt gewissermaßen nur: Nein, nicht diese
„Sünder“, sondern ihr selbst, ihr, die ihr euch für gerecht haltet, werdet euch
am Ende als Verdammte finden, wenn ihr euch durch das Gesetz das Hirn so sehr
vernebeln lasst, dass euch das Menschliche nicht mehr bewegt.
Jesus urteilt dabei nicht von einem moralischen Standpunkt aus, sondern
für ihn ist die Fassade der Menschen durchsichtig, weil er selbst in Einklang
mit seinem Wesen steht, weil er nichts „glaubt“, sondern weil er wahr nimmt,
was ist. Er glaubt nicht an den Vater, sondern er weiß sich eins mit ihm. Er
glaubt nicht an die Propheten, weil es ihm so anerzogen worden wäre, sondern er
kennt die Propheten aus seiner eigenen Erfahrung. Und deshalb durchschaut er
jeden angelernten „Glauben“ und alles sonstige Unechte.
Er urteilt nicht moralisch, sondern er nennt die Dinge nur beim Namen –
so wie Lao-tse es sagt: „Der Weise nennt das Kranke
‚krank’“.
So ein Weiser ist Jesus, nicht mehr und nicht weniger. Eine Verurteilung
kommt dabei nur heraus für die, die selber mit dem Mittel der Verurteilung
arbeiten. Sie schlägt er mit ihren eigenen Waffen. Zur Ehebrecherin sagt er
bloß „Tu es nicht mehr“.
Er durchschaut natürlich die „Pharisäer“ [als Archetypen der religiös
Gebildeten, derer, die das Gesetz verinnerlicht haben] in ihrer Hohlheit, die
gegeben ist, weil sie nicht fühlen, sondern alles im Leben nur nach den
Kriterien ihres Denkens beurteilen.
Und natürlich macht Jesus klar, dass nicht nur die Pharisäer in dieser
Weise hohl und unecht sind, sondern dass das Urteilen [das Abqualifizieren
durch Einordnen in gewisse Kategorien] eine Volkskrankheit ist, von der alle
mehr oder weniger betroffen sind [, dass „die Pharisäer“ diese Krankheit aber
schüren].
Er fordert auf zu einem neuen, zu einem bewussten Leben, das eben
zuerst ein Sterben des Menschen voraussetzt, der sich mit seinen [aus der
Gehirnwäsche stammenden] Urteilen identifiziert. Wenn dieser urteilende [mit
Früchten vom Baum der Erkenntnis gespeiste] Mensch gestorben ist [der
gleichzeitig ohnehin bloß ein wandelnder Toter ist], dann gibt eine Neugeburt,
ein neues Leben. Und das ist dann schon das ewige Leben, nicht weil es nach dem
Tod des gesamten Menschen käme, sondern weil sich dieser Mensch nicht mehr absondert
vom Fluss des ewigen Lebens – so wie sich die Urteilenden absondern [und damit
das Lebendige, die Lebensquelle in sich selbst abtöten].