Die Würde des Menschen und die
moderne Sklaverei
"Die Würde des Menschen
ist unantastbar", heißt es – und doch wird sie nichts als angetastet – und
gelegentlich sieht es so aus, als ob sie dort, wo sie ganz massiv angetastet
wird (z.B. in den Ländern der dritten Welt), mehr vorhanden ist als dort, wo
ihre Unantastbarkeit offiziell geachtet wird (z.B. in unserer technisierten
Zivilisation), wo der Mensch in Wirklichkeit nämlich nicht wie ein fühlendes
Wesen, sondern wie ein bloßes Werkzeug behandelt wird (entweder er funktioniert
oder er ist störender Müll) – nicht offiziell natürlich, aber praktisch, denn
praktisch wird er trotz der deklarierten "Freiheit" unserer Welt
geistig versklavt, d.h. ausgeliefert an die Illusion, daß der Sinn des Lebens
das gute Leben ist, der Genuß.
Da der Genuß offizielles
Lebensziel ist, wird er von den Menschen logischerweise eingefordert, aber die
Mittel fehlen, sind immer zu wenig, und wenn sie da sind, braucht es immer mehr
davon, damit die Leere nicht ins Bewußtsein dringt, die folgt auf den Genuß.
Nicht daß ich etwas gegen den Genuß sagen möchte, um Gottes willen, gut daß wir
etwas genießen können, und es ist schön, wenn wir viel genießen können, aber
wenn der Genuß zum Sinn des Lebens wird, dann wird gleichsam über den Glanz des
Daseins Asche gestreut; ein fahles Grau breitet sich unter den Spitzen des
Genusses aus, besonders überall dort, wo er fehlt, da, wo ge-molocht werden
muß, um ihn zu ermöglichen und da, wo die anderen Menschen nur noch als seine
Objekte zählen.
In dieser Art von Welt
fühlen die Menschen keine Beziehungen mehr, an ihrer Stelle knüpfen sie
Zweckgemeinschaften für die Dauer des Zwecks. Und der Zweck ist der Genuss.
Beziehungen dagegen bringen immer eine Art "commitment", eine gefühlte
Verpflichtung mit sich. Sie rühren von unserer fühlenden Seele her, der unter
der Bedingung des Zwecks nicht mehr erlaubt wird, zu sein. Im Dienste des
Genusses schneiden wir uns daher von unserer Seele ab. [Ähnliches gilt
natürlich auch vom Dienst am "Guten" oder an jedem anderen Wert.
Jeder Dienst an irgendeiner Art oberstem Wert trennt uns von unserem innersten
Wesen. Indem wir ein Detail für das Ganze nehmen, vergewaltigen wir uns.] Und
nur durch immer größeren Genuß [immer größeres "Gutes" etc.] ist es
uns möglich, den inneren Schmerz, den Hilferuf unseres Wesens von unserem
Bewußtsein fernzuhalten.
Wenn wir diesen größeren
Genuß nicht bekommen, dann spüren wir den Schmerz, aber anstatt ihn dort
einzuordnen, von wo er kommt, führen wir ihn auf den fehlenden Genuß zurück und
unterwerfen uns der Mühle von Anstrengung und Erfolg im Dienste des Genusses
nur noch mehr. Und anstatt dort die Lösung zu sehen, wo sie ist, nämlich in den
realen Beziehungen, deren Gewebe unsere Seele von Anfang an sieht und sucht,
sehen wir in den Bindungen, die sie mit sich bringen, nur Hindernisse für
unseren Genuß. Und so bringen wir uns um die echte Lebensfreude, die nämlich
ausschließlich ein Ergebnis unserer Beziehungen ist, unserer absichtslosen
Kommunikation. (Darin erst wird auch der Genuß zu dem, was wir uns stets davon
erhoffen und ohne schalen Nachgeschmack.)
Wir befinden uns in einem
Teufelskreis, aus dem wir irgendwann, "wenn es der Teufel so will",
wie man sagt, ins Bodenlose fallen und dort zerschellen – es sei denn, einer
der Lichtstrahlen, die aus den Beziehungen unserer Seele kommen, regt unser
Herz, so daß wir rechtzeitig Halt machen und schauen, was da jetzt eigentlich
ist.
[Da haben wir jetzt gleich
"Teufel" und "Engel" und "Gott" und die ganze
mythologische Sprache religiöser Dogmatik. Es geht dabei um die Kräfte, die uns
bewegen. Die Namen, die wir ihnen geben, verführen uns zu meinen, sie wären
etwas, das sie nicht sind, und dann – ihre Existenz zu leugnen. Aber wer könnte
leugnen, daß es Kräfte gibt, die uns auslaugen und solche, die unsere eigene
Kraft wecken? Da sind wir beim Ursprung und von mehr wollen wir gar nicht
reden.]
"Gott, wo bist
du?" ist in diesem Sinn eine mythologische Frage, "Seele, wo bist
du?" kommt schon näher an die Wirklichkeit, die eigentliche Frage aber
heißt: "Von meinem innersten Wesen aus betrachtet, was will ich [wohin
drängt, zieht "es" {= natürlich das Ganze, in dem ich mich bewege}
mich] jetzt wirklich?" Da brauche ich dann weder Moral noch einen religiösen
Glauben, denn mein innerstes Wesen [biblisch: der "Menschensohn"]
führt mich von Natur aus so, daß ich dann für andere den Eindruck erwecke, als
hätte ich Moral und Tugend und all die später abstrahierten Standards, die
Menschen, die ihre Beziehung zu ihrem Inneren [und natürlich gleichzeitig zum
Ganzen der Welt] verloren haben, aus jenen anderen Menschen, die sie offen oder
insgeheim bewundern [weil sie jene Beziehung eben noch haben oder
wiedergefunden haben], herausdestilliert haben, um sie dann sich selbst oder anderen
[in Form von Moral] vorzuschreiben, wodurch die Verwirrung natürlich nicht
geringer, sondern größer wird – so groß schließlich, daß die von der Moral
Verwirrten, den ganzen moralischen Schrott auf ihre geistige Müllhalde werfen
und sich voll und ganz dem Genuß verschreiben und dazu, alles in ihrem Leben
diesem Ziel zu unterwerfen, d.h. sich selbst und die anderen zu
instrumentalisieren usw..
Und damit sind sie wieder
dort, wo wir angefangen haben. Es wird eine Weile dauern, bis sie die Realität
hinter ihrem Ärger entdecken, nämlich ihre sogenannte "Seele", also
das, was sie ihrem innersten Wesen nach eigentlich sind, nämlich eine sehr
persönliche und individuelle Kraft, die darauf drängt, sich einsetzen zu
können, zuerst, um die Welt zu entdecken und dann, um sich in ihr zu verströmen
zur Freude aller.