Vielleicht zu gewagte Perspektiven für eine künftige sexuelle Kultur?
20. 4. 2002
Eine sexuelle Kultur muss heute neu entstehen, weil die restriktiven
alten sexuellen Kulturen nicht mehr funktionieren oder der heutigen Lage der
Welt nicht mehr angemessen sind.
Die heutige sexuelle Kultur beruht auf der Freiheit, die sich die Leute
heute ohnehin nehmen. Anstatt irgendetwas zu verdammen oder zu verbieten, muss
das, was getan wird, zunächst verstanden und dann auch „offiziell“ gewährt
werden – und gesichert.
Es muss klar sein, dass alles menschlich und möglich ist, dass es bei
allem eventuellen Restriktionen nur darum gehen kann, die Integrität der Person
unter allen Umständen zu schützen, d.h. dass Schaden abgewendet wird. Eine
freiheitliche Gesellschaftsordnung muss vor allem die Freiheit schützen und in
ihr logischerweise die Integrität [also wieder die Freiheit] der Person. Es
darf keine Übergriffe geben, keinen Eingriff in Rechte Dritter. Nur da ist
Zwang erlaubt, wo die Freiheit und die Integrität der Person in Gefahr sind.
Das bedeutet, dass heute jede Art von sexueller Freiheit nicht nur als
tatsächlich vorhanden, sondern auch in ihrer Eigenart respektiert werden muss,
solange eben nicht in die Rechte [die Integrität und Freiheit] eines anderen
eingegriffen wird.
Das bedeutet aber nicht, zu sagen, jede sexuelle Spielart sei für jeden
empfehlenswert. Jeder muss das selbst finden, was für ihn/sie in Wahrheit
Frieden und Zufriedenheit bringt. Jeder trägt die Verantwortung dafür selbst
und allein.
Keiner ist ein Opfer, außer der, der Opfer sein will und nur solange er
es will. Es gibt für jeden [und für jede Entwicklungsstufe der Bewusstheit]
etwas, das passt.
Gerade aus dieser Freiheit wird sich möglicherweise wieder irgendeine
Art von Ordnung herauskristallisieren. Das ist der natürliche Vorgang. Der
Unterschied zur alten Ordnung aber besteht darin, dass jetzt die Freiheit und
die Integrität der Person den obersten Platz in der Wertehierarchie einnehmen.
Das bedeutet, dass bei jeder Partnerwahl eine Auseinandersetzung
stattfinden wird. Und dass auch in dieser Kommunikation Richtung und sozialer
Wert der Person nach dem tatsächlichen, gefühlten Wert bemessen werden wird.
Der sexuelle Wert ist auch ein sozialer Wert, aber eher ein
instinktiver – deshalb aber umso unumstößlicher. Um das zu veranschaulichen:
Der sexuelle Wert einer Person nimmt normalerweise mit der Vitalität zu und mit
dem Alter ab, er kann unter Umständen aber zunehmen, wenn der betreffende
Mensch eine Entwicklung zu größerer Bewusstheit durchgemacht hat und er nimmt
außerdem noch zu durch den sozialen Wert [damit meine ich Geld und Ansehen, die
den sozialen Wert ja spiegeln] dieser Person.
Durch diese natürlichen Vorgaben sind die Möglichkeiten der Partnerwahl
eingegrenzt. Eine Filmschauspielerin wird kaum einen ungebildeten Hilfsarbeiter
zum Partner wählen – es sei denn dieser wäre von ungewöhnlicher Attraktivität,
also Sex Appeal. Und dann [weil Sex-Appeal ja eine soziale Kompetenz
einschließt] hat er auch die Fähigkeit mit ihr auf einer Ebene zu kommunizieren.
Es geht um Kommunikation. Darauf beruht die neue sexuelle Kultur. Alles
ist erlaubt, außer jemandem zu schaden. Aber die Bedürfnisse müssen
kommuniziert werden. Korrespondierende Partner müssen gefunden werden. Und
dieses Finden ist ein fortwährender Prozess. Nichts kann als gesichert gelten
im Leben. Wir müssen daher stets neu finden. Auch in einer bestehenden
Partnerschaft. Sonst hört sie auf, zu leben, zu bestehen.
Dieser Prozess ist ein sich ständig erneuernder Prozess.
Egal welchen Perversionen jemand frönen mag, er/sie muss Partner dafür
finden. Und wenn einer allein leben will, dann muss er eben mit diesem
Schicksal zu Recht kommen. Auch das erfordert Kommunikation.
Die Unterschiede werden sichtbar und sie werden respektiert.
Kommunikation bewirkt Toleranz. Das heißt nicht, dass sich jeder auf alles
einlassen muss, denn jeder ist frei. Freiheit ist die oberste Direktive – und
die Integrität der Person, besonders der eigenen natürlich.
Die neue sexuelle Kultur mag zunächst chaotisch erscheinen, aber sie
wird sich gesellschaftlich klären in dem Maß, in dem die sexuelle Kommunikation
zunimmt, in dem Maß, in dem jeder sich zeigt [wie die Tiere das stets tun], so
wie er ist, ohne Angst.
Dazu, diese [krank machende] Angst zu nehmen, braucht es die neue
sexuelle Kultur. Jeder darf sein, auch die perversesten Perversionen, solange
niemand damit geschadet wird. So gibt es beispielsweise eine
Indianergeschichte, die erzählt, wie es dazu kam, dass ein Sohn mit seiner
Mutter geschlafen hat, und dass das letzten Endes, nachdem das bekannt wurde,
niemand mehr im Stamm verurteilt hat.
Die eventuell befürchteten psychischen Schäden durch solche Erlaubnis
besonders die Jugend betreffend [Sokrates ist ja als „Verführer der Jugend“
hingerichtet worden], werden gerade vermieden durch die frühe Aufforderung
schon an das Kind, auf das zu achten, was da ist, was heraus will. Nur indem
das herauskommen darf, kann sich die Spreu vom Weizen sondern. Wenn es aber
nicht herauskommen darf, wird sich ein innerlicher Druck anstauen, der das Fass
irgendwann zum Platzen bringt. Und das ist dann ein wirklicher Schaden. Also
braucht es keine Einschränkungen der [sexuellen] Freiheit, außer in dem
genannten Bereich der sozialen Sicherung der Freiheit und der Integrität der
Person.
Jeder muss für sich selbst prüfen, was gut ist, was sie/ihn zufrieden
macht.
Und wenn das in einer fortgesetzten Reihe von Eroberungen bestünde und
wenn sämtliche Treueschwüre gebrochen würden! Niemand hat ein Recht auf einen
anderen Menschen. Eine Beziehung muss errungen und gepflegt werden – durch
Kommunikation natürlich, egal welcher Art diese Beziehung ist. Und darüber
sollte sich jeder im Klaren sein. Es gibt keine Garantie. Es gibt nur die
Möglichkeit einer Vereinbarung von Fall zu Fall – wobei natürlich immer alles
mitschwingt, also beispielsweise auch die emotionalen und realpolitischen
Gründe für eine stabile Zweierbeziehung.
Und natürlich spielen auch die Möglichkeiten der Ansteckung durch
Krankheiten eine Rolle. Wie sagte schon der Apostel Paulus? „Alles ist erlaubt,
aber nicht alles tut gut.“
Jeder muss ständig prüfen und alles tun, um nicht ein Opfer zu werden –
und wenn er es geworden ist, sich aus dieser Opferrolle befreien. Es ist nötig zum
Gestalter, zum Schöpfer des eigenen Lebens zu werden. Das ist der göttliche
Schöpfungsauftrag an den Menschen, deshalb heißt es ganz realistisch am Anfang
der Bibel, Gott habe den Menschen nach seinem Bild gemacht, als eine Kopie von
ihm. Das ist ein Auftrag, ein Schöpferauftrag für das ganze Leben.
Gott kommuniziert ständig mit allem. Gemäß dem biblischen
Schöpfungslied hat er den Menschen gefragt, welche Art Gefährtin er möchte und
sie entsprechend geschaffen aus einem [als ein] Teil von ihm als das korrespondierende
Gegenüber. Das bedeutet Kommunikation.
Und was soll denn kommuniziert werden, wenn nicht die Wahrheit? Alle
andere Kommunikation ist doch der Kommunikation nur abträglich. Die Wahrheit
ist das, was der Fall ist. Deshalb heißt es in der Bibel ja immer „sie
erkannten einander“, wenn zwei Partner sich gefunden haben.
Und natürlich müssen wir mit Täuschungen rechnen. So wie die Spinne im
Netz Fliegen fängt, so werden auch Menschen anderen Menschen auf den Leim
gehen. [Dracula ist das Symbol dafür]. Das wird so bleiben, aber [auch bei uns
persönlich] abnehmen in dem Maß, in dem sich Bewusstheit verbreitet. Indem wir
mit Täuschungen rechnen, wird sich unsere Bewusstheit erweitern und wir werden
Täuschungen erkennen.
Ein Täuschungsmanöver ist allerdings auch gefährlich für den, der
täuscht, er/sie riskiert damit unter Umständen seine Existenz, wenn seine
Täuschung nicht im Einklang ist mit seinem Gegenüber.
Auf diese Weise gibt es nur freiwillige Opfer. Denn auch die, die
unfreiwillig Opfer geworden sind, werden ihre Perspektive sofort ändern und
ihre Situation annehmen, so wie sie ist, und von da aus in eine bessere Zukunft
gehen. Sie werden die Energie des Schmerzes nutzen zur Veränderung.
Das bedeutet sexuelles Lernen. Es ist eigentlich kein Lernen, sondern
ein sich Öffnen für die Vielzahl an Möglichkeiten, es ist eine Art Sehen Lernen
durch Beseitigen der Scheuklappen verschiedenster Art, beispielsweise die
Auffassung, eine Ehe begründe einen Besitzanspruch oder die Auffassung,
Homosexualität oder Prostitution sei etwas Abscheuliches. Es gibt nur ein
Kriterium und das ist die persönliche Wahrheit. Das Sehen ist natürlich immer
schon da, aber es ist uns durch unsere Scheuklappen nur im beschränkten Umfang
möglich. Wenn die Scheuklappen weg sind, ist die Sicht frei. Das ist nichts
Mysteriöses. Das ist rein logisch.
Deshalb sagt Lao tse, es sei nicht nötig zu
lernen, sondern es gehe darum, zu verlernen. Die Scheuklappen sind uns ja nicht
angeboren, sondern erlernt.
Wenn ich von der Integrität der Person sprach, meinte ich darin
eingeschlossen natürlich die Kinder, die aus Beziehungen der verschiedensten
Art hervorgehen. Ihr Aufwachsen muss gesichert werden. Dafür ist nach den
Eltern vor allem die Gemeinschaft zuständig, die auch dafür neue Wege finden muss.
Auch das gehört zur sexuellen Kultur, da die Sexualität ja doch hauptsächlich
für den Fortbestand der Menschheit da ist. Auch diese Tatsache wird ihren
Niederschlag im sexuellen Verhalten finden.
Ganz von selbst werden Menschen immer wieder Familien gründen und sich
um ihre Kinder kümmern und zwar in der Weise, dass es die Kinder möglichst
einmal besser haben als ihre Eltern, dass sie also von ihnen profitieren in
jeder Hinsicht. Wir brauchen keine Angst haben, dass die Menschheit ausstirbt.
Die Kinder werden auch das bekommen, was sie brauchen, vor allem Liebe, also
das Bewusstsein, dass jemand sie mag und für sie da ist. Das gehört ja zur
menschlichen Natur.
Aber darüber hinaus müssen neue/alte soziale Formen für das Aufwachsen
der Kinder [wieder]gefunden werden. In alten Stammeskulturen war es oft der
ganze Stamm, der sich um den Nachwuchs gekümmert hat, wer halt gerade Zeit
hatte. Und deshalb sind da vor allem die Alten zu den Erziehern der Jungen
geworden. Und das war gut, denn die Alten haben natürlich schon den weiteren
Horizont.
Etwas Ähnliches muss sich heute entwickeln – vielleicht rein praktisch
als Kombinationen von Kindertagesstätten und Altenheimen. Um sexuelle
Übergriffe zu vermeiden, könnten die Kontakträume ja für alle gemeinsam sein,
also entsprechend groß angelegt mit Kontrollen an den Ein- und Ausgängen. Und
da würde sich die ganze Kommunikation abspielen, frei, ohne jeden Zwang. Ganz
von selbst würden da ähnliche Strukturen entstehen, wie in den alten
Stammeskulturen. Geschichtenerzähler würden sich finden und Zuhörer für sie.
Andere würde die Kinder praktische Dinge lehren, beispielsweise musizieren oder
singen oder etwas bauen oder etwas zerlegen, je nach dem, was gerade ansteht.
Was zwei Menschen miteinander machen, geht sonst niemand etwas an, es
sei denn, einem wird Unrecht zugefügt, also körperlicher Schaden.
Um die Psyche muss sich jeder selbst kümmern. Verantwortung ist
gefragt. Wer in eine Sucht oder in eine andere Abhängigkeit hineinschlittert
[früher hätte man gesagt „in einen Götzendienst“], sollte sich dessen bewusst
werden. Und wer ein Opfer geworden ist, muss alles tun, um sich zu befreien –
oder sich nicht weiter beklagen über sein Opferdasein, weil er es dann ja
offensichtlich selbst will. Nur – niemand kann und darf beurteilen, ob jemand
alles tut, außer die Person selbst. Aber eben auch ein Opfer hat Verantwortung,
auch ein Opfer, das schon alles getan hat, und trotzdem Opfer geworden ist,
muss weiter alles tun, bis es frei ist. Das ist die Regel auf allen Ebenen.
Und diese Regel stimmt überein mit den obersten Werten einer jeden
Religion. Konflikte mit sozialen Werten [der Religionen] sind unter dieser
Perspektive als untergeordnet zu betrachten.
Wer in einer Partnerschaft abhängig geworden ist, sollte sich dessen
bewusst werden und dann entscheiden, ob er in dieser Position bleiben will oder
ob er sich verändern will. Die anderen zu verändern ist ja bekanntlich nicht
möglich. Die anderen können sich nur freiwillig ändern, vielleicht aber ändern
sie sich durch unser angenehmes oder herausforderndes Beispiel.
In der sexuellen Kultur spielt natürlich auch die Gentechnik eine
Rolle, eine gestaltenden Rolle. Was spricht dagegen, dass versucht wird
Gendefekte auszuschließen? In dieser heutigen Debatte über die Gentechnik mit
dieser großen Angst vor Manipulation und vor der Abtötung von vollkommenen
Menschen muss klar sein, dass sich diese Technik ohnehin durchsetzen wird, weil
sie einfach eine Möglichkeit ist. Und es ist sinnlos, zu spekulieren über den
Zeitpunkt der Erschaffung [der „Seele“] eines Menschen, etwa im Augenblick der
Befruchtung des Eies. Selbst Thomas von Aquin meinte ja noch, dass die Seele
erst in einen Menschen einkehre, wenn sich die Knochen formten und ähnliches
habe ich von islamischen Sufis gehört.
Die Methode des Familienstellens hat außerdem gezeigt, dass jede
Abtreibung eine Trauer zur Folge hat und dass sich Schäden einstellen, wenn die
Trauer nicht zugelassen wird, weil ihre Wahrnehmung aus ideologischen Gründen
ausgeschaltet wird. Das ist, was der Fall ist. Es geht ja um eine erweiterte
und vertiefte Wahrnehmung. Daher ist es nur nötig, diese Zusammenhänge zu
erkennen und selbstverantwortlich zu lösen. Es kann keinen gesellschaftlichen
Schutz des Embryos geben. Dieser Bereich gehört in die Sphäre der Eltern, es
geht um deren Verantwortung für ihren eigenen Seelenfrieden. Den müssen sie
finden. Und das geht nur durch Vertrauen in den Prozess von Versuch und Irrtum.
Das betrifft auch die Gentechnik. Was die Eltern – unter Beachtung
gewisser allgemein gültiger Regeln etwa dem Hippokratischen Eid entsprechend –
wünschen und erlauben, soll möglich sein – und wenn die Eltern künftiger
Langzeitraumfahrer sich ihre Kinder etwa mit vier Armen und ohne Beine wünschen
würden. Wer weiß, welche Notwendigkeiten oder Bedürfnisse noch entstehen
werden? Alles ist möglich, auch in dieser Beziehung. Und selbst wenn es dabei
gelegentlich zu Fehlern kommt. Auch heute werden behinderte Kinder geboren, das
wird durch den Einsatz der Gentechnik sicherlich nicht vermehrt, sondern
verringert werden. Wir brauchen also keine Angst davor haben. Wir können sie
begrüßen als eine positive Erweiterung unserer Möglichkeiten.
Und selbst wenn es eines Tages so kommen würde, dass alle Kinder nur
noch im Labor wachsen würden von der Befruchtung bis zu ihrer Geburt, auch das
würde nur kommen können, wenn es sich bewährt.
Wir brauchen keine Angst haben, dass die Menschen aufhören Menschen zu
sein. Sie werden immer fühlen, was ihnen nicht gut tut und sie werden das
meiden und sich in die Richtung orientieren, die ihn gut tut. Daran wird alle
Gentechnik nichts ändern. Sonst wären die Menschen nicht lebensfähig.