Die Emmausgeschichte
9. 5. 2004
Die
Geschichte [Lukas 24, 13-33] ist bekannt, den meisten aber rätselhaft, wenn sie
sie nicht schon wegen ihrer so märchenhaften erscheinenden Züge einfach zu den
unbrauchbaren Zeugnissen abgelegt haben. Ich will versuchen zu zeigen, dass die
irreal erscheinenden Elemente verstanden werden können und dass die Geschichte
dann einen außerordentlich realistischen Einblick in das gibt, was mit
„Auferstehung“ gemeint ist.
Die
Geschichte:
„Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern
auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem
entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet
hatte.
Während sie redeten und ihre Gedanken
austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. Doch sie waren wie mit
Blindheit geschlagen, so dass sie ihn nicht erkannten.
Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über
die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen, und der
eine von ihnen - er hieß Kleopas - antwortete ihm:
Bist du so fremd in Jerusalem, dass du als einziger nicht weißt, was in diesen
Tagen dort geschehen ist?
Er fragte sie: Was denn?
Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus
Nazaret. Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen
Volk. Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und
ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel
erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles
geschehen ist. Aber nicht nur das: Auch einige Frauen aus unserem Kreis haben
uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe beim Grab, fanden aber
seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel
erschienen und hätten gesagt, er lebe.
Einige von uns gingen dann zum Grab und
fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie
nicht.
Da sagte er zu ihnen: Begreift ihr denn
nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt
haben. Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit
zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Moses und allen Propheten,
was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.
So erreichten sie das Dorf, zu dem sie
unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen, aber sie drängten ihn und
sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon
geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben.
Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er
das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen.
Da gingen ihnen die Augen auf, und sie
erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.
Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht
das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der
Schrift erschloss? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach
Jerusalem zurück, und sie fanden die Elf und die anderen Jünger versammelt.“
An
dieser Geschichte sind einige äußerst Dinge sonderbar, um nicht zu sagen
unmöglich:
Die
beiden Jünger, die jahrelang mit Jesus unterwegs gewesen waren, sollen viele
Stunden mit ihm unterwegs gewesen sein und tiefe Gespräche geführt haben und
ihn während all dessen nicht erkannt haben?
Das
ist kaum zu glauben. Eher kommt diese Darstellung daher, dass sie eine spätere
Sicht des Ereignisses zurückprojiziert worden ist auf das Ereignis selbst, dass
also in einem geistigen Sinn gesagt wird „es war Jesus“.
Was
hätte ein journalistischer Begleiter der Gruppe beobachtet? Hätte er
beobachtet, wie Jesus sich nach dem Brotbrechen in Luft auflöst? – denn „dann
sahen sie ihn nicht mehr“! Was hat sich da also abgespielt?
Im
Rahmen der damaligen begrifflichen Möglichkeiten konnten geistige
Wirklichkeiten nur als physisch-faktische Ereignisse beschrieben werden. Das
klingt heute, als handle es sich um Ereignisse der alltäglichen Wirklichkeit –
obwohl es sich um Ereignisse einer anderen Wirklichkeit handelt. Von einer
anderen Wirklichkeit zu reden hätte damals niemand verstanden, denn für die
Menschen dieser Zeit und Kultur gab es nur eine Wirklichkeit. Erst heute steht
uns die Möglichkeit offen, geistige Wirklichkeiten als solche zu beschreiben
und sie damit von der Alltagswirklichkeit zu unterscheiden.
Wenn
wir die Geschichte mit diesem Instrument der Unterscheidung betrachten, das in
unserer gegenwärtigen Kultur allgemein akzeptiert ist, sehen wir vielleicht das
Folgende:
Die
beiden Jünger befinden sich auf der Flucht. So wie die in Jerusalem
zurückgebliebenen Apostel sich einsperrten aus Angst, das gleiche Schicksal wie
Jesus zu erleiden, so wollten diese beiden weg aus der Gefahrenzone, weg aus
der Hauptstadt, in der ihr Meister getötet worden war und in der es jederzeit
geschehen konnte, dass die Behörden nun nach dessen Schülern fahnden würden.
Daher wollten sie die Gefahr hinter sich lassen und nach Hause gehen.
Weil
es damals wohl kaum öffentliche Verkehrsmittel gab, mussten viele Menschen auch
weitere Strecken zu Fuß zurücklegen – auch Jesus war mit seinen Jüngern zu Fuß
von Galiläa nach Jerusalem gegangen.
Es
dauerte daher nicht lange, bis sie auf ihrem Weg jemand trafen, der in die
gleiche Richtung ging. Es heißt, sie trafen Jesus, erkannten ihn aber nicht.
Aber wenn wir ihre reale Situation betrachten – im Gegensatz zu der geistigen
Wirklichkeit, die erst später offenbar wird – dann treffen sie einen Fremden.
Immerhin ist er ja so fremd, dass er nicht weiß, was sich in den letzten Tagen
in Jerusalem abgespielt hat. Das ist die Alltagsrealität. In der
Alltagsrealität begegnen sie einem Fremden.
Da
dieser Fremde keine Ahnung hat, was geschehen ist, müssen die Jünger ihm alles
erklären. Der Fremde weiß zwar nichts über die Tagesaktualitäten, aber er hat
eine Menge Ahnung von der Bibel und vom menschlichen Leben. Er begreift daher
schnell, was die Jünger ihm erzählen. Er begreift, wie die Beiden dazu kommen
in diesem Jesus den Messias zu sehen, und er begreift auch ihre Verzweiflung,
ihre zerstörten Hoffnungen. Er möchte ihnen helfen, indem er ihnen erklärt,
dass die Sache nicht so hoffnungslos ist, wie sie meinen. Deshalb sagen sie
später, dass ihnen das Herz brannte in ihrer Brust – besonders, weil er ihnen
begreiflich macht, dass dieses Ende, das sie so verzweifelt macht, von Anfang
an geplant war, dass es so kommen musste, dass Jesus offenbar einer war, der
den göttlichen Plan erfüllte, und dass sie daher sicher sein konnten, dass die
Geschichte nicht mit seinem Tod endete.
An
diesem Punkt scheinen die Wanderer ihr Ziel erreicht zu haben, das Dorf Emmaus.
Da der Fremde sich verabschieden will, bitten ihn die Jünger, doch bei ihnen zu
bleiben – nachdem sie durch ihn wieder Hoffnung gefasst hatten – auch wenn sie
noch nicht wussten, wie die Geschichte weiter gehen konnte.
Er
blieb. Und nachdem in dem Haus, in dem sie eintrafen, die Neuigkeiten ausgetauscht
waren, vor allem die vom Tod Jesu – und von dem winzigen Pflänzchen Hoffnung,
dass der Fremde in ihnen erweckt hatte – gab es etwas zu essen.
Beim
Essen bekam der Fremde, der ihnen schon so weit die Augen geöffnet hatte, den
Ehrenplatz zu Tisch. Und wie das damals üblich war „nahm er das Brot, sprach
den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen“ – genauso wie Jesus es mit ihnen
schon so oft gemacht hatte.
In
diesem Augenblick sahen sie daher Jesus das Brot brechen. Und nun ereignete
sich eine ganze Kaskade von Erkenntnissen, die schließlich darin gipfelte, dass
sie Jesus als einen Lebenden erlebten.
Doch
diese Kaskade von Erleuchtungen begann mit einer grauenhaften Erkenntnis, die
sie am Boden zerstörte: Nachdem sie Jesus in dem Fremden gesehen hatten,
während er das Brot brach, wurde ihnen nämlich mit einem mal klar, dass Jesus
tot war und begraben und dass er nie wiederkehren würde, nie, nie, nie. Tote
kehren nicht zurück. Alle Hoffnung, die sie auf den Menschen gesetzt hatten,
dessen Leiche jetzt in Jerusalem in ihrem Grab lag, mussten sie nun ein für
allemal begraben.
Aber
genau an diesem Punkt, als sie an der Talsohle ihrer Verzweiflung angelangt
waren mit den Erkenntnis dieses endgültigen, unwiderruflichen Endes Jesu, kam
die Erinnerung, dass Jesus ihnen tatsächlich all das angekündigt hatte. Aber in
diesem Augenblick war diese Erinnerung nicht einfach eine Erinnerung, sondern
sie war ein Schock, der ihre bisherige Existenz auslöschte – und diesen Wesen,
die sie auch ohne jedwede Identität immer noch waren, eine völlig neue Welt
zeigte, in der das bisher Unverständliche und vollkommen Unakzeptierbare
plötzlich mit einem Schlag vollkommen klar war. Die Leiche im Grab hatte mit
dem Jesus, den sie als Messias kennen gelernt hatten, nichts zu tun. Der Jesus,
den sie gekannt hatten, war nicht in dieser Leiche, er war in dem Geist, aus
dem heraus er gelebt hatte – und der war nicht tot, sondern er lebte – und zwar
mehr denn je. Er hatte sie soeben gerufen zu einer Art Leben, das sie bis jetzt
als für sie unmöglich angesehen hatten.
Er
hatte es ihnen längst angekündigt: Sie könnten noch größere Dinge tun, als er
getan hatte. Sie hatten das weder verstehen noch akzeptieren können, aber
jetzt, in diesem Augenblick, wurde es Wirklichkeit für sie, eine Wirklichkeit,
die sie bis in die letzte Faser ihrer Existenz spüren konnten: Sie waren es
jetzt, die seinen Lebensauftrag fortführen mussten – und die es auch konnten,
weil er nicht nur mit ihnen war, sondern weil seine Mission zu ihrem Wesen
geworden war und weil die Kraft, die ihn gelenkt hatte, nun auch sie lenkte.
Der
Fremde war jetzt nicht mehr wichtig. Sie sahen ihn nicht mehr und auch Jesus
sahen sie nicht mehr im Außen. Er war jetzt in ihnen. Sie erlebten ihn
unmittelbar. Sie wussten daher, dass Jesus lebt – und das mussten sie den
anderen Jüngern mitteilen, die sie ratlos und verzweifelt zurückgelassen
hatten.
Und
so liefen sie zurück nach Jerusalem und sie fanden die elf und die übrigen
Jünger – und sie erfuhren, dass diese selbst schon erfahren hatten, was sie
ihnen erzählen wollten.
Und
so ist die Erfahrung von der Auferstehung des Messias zur Grunderfahrung der
Bewegung geworden, die Jesus nachfolgte.
Wenn
wir nun diese Erfahrung mit der Frage verknüpfen, was Auferstehung ist, was
Wiedergeburt ist und was bei unserem Tod geschieht, kommen wir von hier
geradewegs zu dem, was Paulus im fünfzehnten Kapitel des ersten Korintherbriefs
schreibt.
Paulus
unterscheidet etwas mehr als Lukas die geistige Wirklichkeit von der
Alltagswirklichkeit, daher gibt es in seiner Erklärung keine groben
Ungereimtheiten, es gibt nur Fragen, die geklärt werden müssen – aber die
Antworten des Paulus sind an manchen Stellen nicht leicht zu verstehen.
Paulus
leugnet nicht die Realität des Todes, wie es manche Berichte von den
Erscheinungen des Auferstandenen zu suggerieren scheinen. Das „rühr mich nicht
an!“, das der Auferstandene Maria Magdalena sagt, deutet schon in diese
Richtung. Paulus aber ist noch klarer. Er legt Wert darauf, festzustellen, dass
das, was stirbt, nicht das ist, was aufersteht.
Was
stirbt, ist das Körperliche, was aufersteht, ist etwas Geistiges – und doch
muss dieses Körperliche diese Auferstehung bewirken (oder zumindest
ermöglichen), indem es, wie er sagt „eintaucht ins Unverwesliche und dies
Sterbliche muss eintauchen ins Unsterbliche“ (15,53).
Genau
das ist bei den Jüngern in Emmaus geschehen: Mit ihrem sterblichen Geist sind
sie eingetaucht in den unsterblichen Geist, in den Willen des Vaters, und darin
gewissermaßen neu geboren worden und sie leben von da an nicht mehr aus ihrem
sterblichen Geist, der in dem Moment gestorben ist, sondern sie leben von jetzt
an aus dem unsterblichen Geist, aus dem heraus auch Jesus gelebt hatte, der
ihnen dieses Vermächtnis hinterlassen hatte – und der dadurch für sie für immer
in ihnen leben würde.
Wir,
die wir keine Zeugen der damaligen Ereignisse sind, sind durch die
Überlieferung dennoch Zeugen der damaligen Ereignisse und wir können wie die
Jünger in Emmaus mit unserem sterblichen Geist eintauchen ins Unsterbliche und
dadurch verwandelt werden – und uns von da an nicht mehr fragen, was das ewige
Leben ist, weil wir von da an darin leben.
Diejenigen
aber, die noch nicht an diesem Punkt waren, können nicht wissen, was
„Auferstehung“ bedeutet, für sie gibt es nur mysteriöse Berichte – wie es der
Bericht der Frauen für die beiden Jünger war, die nach Emmaus gingen – oder wie
es für die heutigen Menschen die Berichte des Neuen Testament über die
Auferstehung sind. Sie sind noch in ihrem sterblichen Fleisch, noch nicht
eingetaucht in die Unsterblichkeit, daher haben sie Fragen über Fragen und
können die Antworten doch nicht verstehen. Sie haben nur die Kunde, eine vage
Hoffnung, vielleicht lebenslang, die sich schließlich aber doch erfüllt,
spätestens in dem Moment, wo ihr Leben zuende geht,
wo sie also keine Wahl mehr haben, als loszulassen. Dann nämlich werden sie
tatsächlich mit ihrem sterblichen Geist eintauchen ins Unsterbliche und
wenigstens in diesem ewigen Moment eins werden mit dem ewigen Willen des
Vaters, aus dem heraus Jesus sein Leben gelebt hat genau so wie alle seine
wirklichen Nachfolger.