DER MYTHOS DES GOTTESSOHNES IM CREDO HEUTE
(Pfingsten 2004)
Ein wesentlicher Grund für
religiöse Streitigkeiten unter und zwischen Christen, Juden, Muslimen und
Angehörigen anderer Religionen ist, dass Symbole – also auch Mythen – unterschiedlich
aufgefasst werden können.
Nachdem aber alle Menschen
die gleiche menschliche Natur teilen, also das, womit Gott die Menschen
ausgestattet hat, muss auch ein Verstehen möglich sein, durch das jede Gruppe
die Formulierungen jeder anderen Gruppe in einer positiven Weise begreifen und
sogar in der gleichen Weise und Intensität wertschätzen kann wie diese Gruppe
selbst, ohne in diese Gruppe überwechseln zu müssen. Dieses Grenzen
überschreitende Verstehen zu versuchen, sehe ich als den zentralen menschlichen
Teil des göttlichen Auftrags an die ganze Schöpfung, nämlich zunehmender
Bewusstheit – dem Licht – entgegenzustreben. In diesem Sinn ist das Folgende
gemeint.
Das originäre Verstehen
der anderen zieht dann jeweils eine Erweiterung und Vertiefung des Verstehens
der eigenen besonderen Wahrheit nach sich.
Durch diese Art des
Gesprächs – die weit hinausgeht über die gegenwärtig allein als korrekt
geltenden, sich abgrenzenden Formen des „Dialogs“ – kann jeder die eine,
beglückende Wirklichkeit hinter den unterschiedlichen Perspektiven in einer für
alle sehr fruchtbaren Weise entdecken. Es verlangt allerdings eine besondere
Bereitschaft, sich auf zunächst fremde Kategorien und Paradigmen einzulassen
und sich dazu, wenigstens vorübergehend, von den gewohnten eigenen
Vorstellungen zu lösen.
Ein Beispiel:
Im
lateinischen Credo gibt es die Behauptung, dass der Heilige Geist nicht nur vom
Vater, sondern auch vom Sohn ausgeht, also von der zweiten Person der
göttlichen Trinität. Diese Behauptung stammt aus Erfahrungen im Spanien der
allerersten Reconquista-Zeit und wurde von der römischen Kirche unter Papst
Benedikt VIII. im Jahr 1014 durch den Zusatz des
„filioque“ in das nicänisch-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis von
381 eingefügt, dem noch alle Kirchen zugestimmt hatten:
„Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und
lebendig macht,
der aus dem Vater - und dem Sohn - hervorgeht“
Durch
diese einseitige Erklärung hat die römische Kirche den Ostkirchen gegenüber
eine Vormachtstellung behauptet, die gesamte Orthodoxie brüskiert und eine
große Kirchenspaltung herbeigeführt.
Der
Streit, der damals vorwiegend aus politischen Gründen entstanden ist, kann
heute beigelegt werden – indem sowohl die Ost- wie auch die Westkirchen ihr
Verständnis von dem erweitern, was der „Filius“ ist, der Sohn, von dem im
Westen behauptet wird, dass der Heilige Geist auch von ihm ausgehe.
Möglicherweise wird dieses erweiterte Verständnis dann auch den Konflikt um die
Bedeutung der Patriarchate lösen helfen.
Die Gefahr der Hybris: Der
„Sohn Gottes“ im Wandel der Zeit
Der
„Filius“ des Credo wird von allen Kirchen als „die
zweite göttliche Person“ gesehen, die sich in Jesus von Nazaret
inkarniert hat. Das Verständnis dieser Formulierung wird aber gewöhnlich in der
Weise eingeschränkt, dass diese Inkarnation nicht nur einzigartig, sondern auch
numerisch einzig ist, sodass sich die zweite göttliche Person in der Geschichte
nur einmal inkarniert hat und zwar in dem historischen Jesus. Auch hierin sind
sich die christlichen Kirchen bis jetzt einig.
Genau
dieser Punkt allerdings bedeutet, wie ich gleich zu zeigen versuchen werde, in
der heutigen gesamtmenschlichen Perspektive eine Hybris, obgleich diese
Anschauung rein innerchristlich immer noch in der ursprünglich intendierten
Weise wirken kann. Wegen der Gefahr der Überheblichkeit aber kann es heute
notwendig sein, dieses Verständnis zu vertiefen und zu erweitern, weil es aus
einer vergangenen, kulturspezifisch und geografisch beschränkten Epoche stammt.
Nach
Aussage eines der führenden Bibelwissenschaftler der Gegenwart, Paul Hoffmann,
ist dieses eingeschränkte Verständnis beim Evangelisten Matthäus, der gerade
für dieses Verständnis als Kronzeuge herangezogen wird, noch gar nicht zu
finden. Dieses eingeschränkte Verständnis ist also später in diese Quelle
hineininterpretiert worden – weil es den Erfordernissen der Zeit, in der das
geschehen ist, entsprochen hat. Es entspricht aber nicht unbedingt den
Erfordernissen unserer Zeit.
Welche Aussagen können heute jemand
zur Nachfolge Christi inspirieren?
Dem
Auftrag Jesu gemäß geht es darum, seiner Weisheit Gehör zu verschaffen. Die
dogmatischen Formulierungen sind eine Hilfe dazu, nicht mehr, aber auch nicht
weniger. Es ist daher nicht nur ein Recht, sondern die Aufgabe der Nachfolger
Jesu, also der Christen, das Verständnis seiner Aussagen in der Sprache ihrer
jeweiligen Zeit auszudrücken und es damit für sich selbst zu realisieren. Auch
ein noch sehr ursprüngliches Verständnis, wie das des Evangelisten Matthäus,
musste daher späteren Zeiten und anderen Kulturen angepasst werden. Derartige
Vertiefungen des Verständnisses haben durch die Jahrhunderte hindurch in den
Formulierungen der Dogmen ihren Niederschlag gefunden. Auf diese Weise ist „die
Lehre der Kirche“ entstanden, immer weiterentwickelt und von vielen Konzilien
entsprechend der Sprache der jeweiligen Zeit und Kultur immer neu formuliert
und vertieft worden. Auch heute muss dieses Verständnis wieder erneuert und
vertieft werden.
Die
heutigen Gegebenheiten verlangen, dass sich das Verständnis wegbewegt von den
Kategorien der hellenistischen Weltanschauung, in der die Formulierungen der
ersten großen Konzilien entstanden sind, weil die dort gebrauchten Kategorien
und Paradigmen heute nämlich – jedenfalls in der abendländischen Welt –
weitgehend nicht mehr in der damals intendierten Weise verstanden werden. Es
braucht ein neues Verständnis, das in unserer Kultur und Zivilisation wieder
die ursprünglich beabsichtigte Wirkung erzielt. Die numerische Beschränkung des
Verständnisses des Ausdrucks „Sohn Gottes“ auf Jesus von Nazareth wirkt heute
nicht mehr in der dieser Weise.
Ist der Gottessohn präexistent? Der Bedeutungswandel des Begriffs „Sohn
Gottes“ durch den Hellenismus
Wenn
Matthäus vom „Sohn Gottes“ spricht, spricht er von seiner Wertschätzung. Jesus
war für ihn ein, nein der exemplarische Sohn Gottes, weil Gott für Matthäus
selbst und für sehr viele andere Menschen durch ihn erfahrbar geworden ist.
Matthäus dachte dabei aber nicht an die logische Kategorie einer zweiten
göttlichen Person oder an eine Präexistenz Jesu vor aller Schöpfung. Und auch Origenes verwendet den Ausdruck „Sohn Gottes“ noch so. In
seinem Matthäuskommentar spricht er davon, dass geisterfüllte Menschen leben
„wie ein Sohn Gottes“, also so wie Jesus lebte.
Im
Johannesevangelium gibt Jesus selbst eine Erklärung der Bezeichnung „Sohn
Gottes“, die noch ganz im Sinn von Genesis 1,26 das Göttliche in jedem Menschen
betont. Jesus wird angegriffen, weil er sich als „Sohn Gottes“ bezeichnen lässt.
Er antwortet mit einem Zitat aus Psalm 82,6 „Wenn er jene Menschen Götter
genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, ... dürft ihr dann von dem,
den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott,
weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? ... Glaubt wenigstens den Taten ...
dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im
Vater bin.“ (Joh 10, 35-38). Die Definition die Jesus
hier ganz im johanneischen Stil vom Begriff „Sohn Gottes“ gibt, stimmt noch
vollkommen überein mit dem islamischen Begriff „Gesandter“ und hat noch nichts
von der späteren hellenistischen Bedeutung.
Mit
zunehmender zeitlicher Entfernung wurde es für die Prediger des christlichen
Evangeliums aber offenbar wichtig, die Autorität des historischen Jesus über
das Menschliche hinaus noch weiter zu verstärken. Der reale Jesus wurde zu
einer mythischen Gestalt. Und das wurde möglich, ja sogar notwendig durch die
Vorstellungswelt der hellenistischen Zeit, in der Götter in der Gestalt von
Menschen auf Erden erscheinen, um die Helden auf den richtigen Weg zu führen.
Und nachdem die Christen nur einen Gott kennen, musste Jesus eben der Sohn
dieses einen Gottes sein.
So
wurde der, durch den Gott für viele sichtbar wurde, selbst zum Gott und zum
Einzigen seiner Art – und das obwohl Jesus selbst unermüdlich gerade davon
gesprochen hatte, dass alle Menschen Kinder Gottes sind und dass er
ihnen einen Weg zeigt, genau das zu begreifen. Das Vaterunser ist der
deutlichste Hinweis darauf. Für Jesus sind alle Menschen unmittelbare
Abkömmlinge dieses einen Gottes, sonst würde die vertrauensvolle Anrede „Vater“
für niemand stimmen außer für ihn.
Die
Menschen der hellenistischen Zeit aber hatten mit dem nun auf ihre Weise
verstandenen Begriff „Sohn Gottes“ einen Ausdruck gefunden, der ihnen die
Bedeutung Jesu in der Sprache ihrer Kultur adäquat beschrieb. Das
hellenistische Verständnis des neuen Mythos war für die hellenistische Zeit und
Kultur korrekt – wir dagegen können dieses hellenistische Verständnis nur durch
eine besondere Anstrengung des Verstehens erreichen, eben indem wir eintauchen
in diese uns inzwischen ferne Welt mit ihren uns inzwischen fremd gewordenen
Vorstellungen und Paradigmen. Und dadurch relativiert sich sein konkreter
Inhalt.
Die Ablösung von den Idealen
der Antike
Bereits
Mohammed sah sich veranlasst, heftig gegen die Bezeichnung Jesu als „Sohn
Gottes“ Stellung zu nehmen, weil dieser inzwischen hellenistisch geprägte
Ausdruck in seiner Kultur nur falsch verstanden werden konnte.
Gleichzeitig
aber konnte das hellenistische Verständnis dort gültig und korrekt bleiben, wo
das mythische Weltbild der Griechen und Römer noch gültig war – und das war
zumindest im Westen noch sehr lange der Fall.
Als
sich das römische Reich unter dem Ansturm der Barbaren auflöste, blieb die
römisch-hellenistische Kultur weiterhin gültig, weil die Barbaren, die Rom zu
Fall gebracht hatten, ja erst die Kulturstufe der Römer erreichen mussten, und
dazu viele Jahrhunderte brauchten. Und sie erreichten den evolutionären
Aufstieg ihres Bewusstseins, indem sie die Kultur der höheren Zivilisation in
ihre eigene integrierten.
So
blieb die hellenistische Kultur bestimmend bis zur Entwicklung der nächsten
evolutionären Stufe der Zivilisation, also etwa bis zur Renaissancezeit.
Von
da an gewann im Bereich der europäischen Kultur ein wissenschaftliches Weltbild
immer mehr an Bedeutung, in dem Begriffe wie „Sohn Gottes“ als Mythen
verstanden werden, bzw. als symbolische Beschreibungen, die etwas Wesentliches
anhand eines analogen Vergleichs hervorheben und die deshalb nicht als
Beschreibungen von Fakten verstanden werden dürfen.
Diese
Mythen koexistierten von da an mit dem wissenschaftlichen Weltbild der
Aufklärung und wurden von diesem mehr und mehr durchdrungen – eben in dem Sinn,
dass der grundsätzliche Unterschied zwischen mythischer und wissenschaftlicher
Beschreibung klar gemacht wurde. Dieser Prozess gereichte den Mythen nicht zum
Schaden, sondern er führte als eine Horizonterweiterung auch zu einem besseren
Verständnis der Religionen.
Heute
stehen wir durch die Globalisierung an einer neuen Schwelle, an der ein neuer
Entwicklungsschritt unbedingt notwendig geworden ist. Weil alle Kulturen und
Religionen einander sehr nahe gekommen sind, müssen Brücken zwischen ihnen
gefunden werden. - Wie notwendig dieser Schritt ist, zeigt nicht zuletzt der
Konflikt im Nahen Osten, der im Kern ein Religionskonflikt ist.
Wie sehen die Mythen im
Zeitalter der Wissenschaft aus?
Im
Weltbild der Wissenschaften, das die westliche Welt heute prägt, gibt es keine
Götter mehr – und es gibt auch keinen Gott, es sei denn, „er“ würde als eine
Kraft verstanden, als die Kraft, die alles bewegt. – Und erstaunlicherweise
finden wir dieses Verständnis bereits in der Bibel. In der Version des Matthäus
sagt Jesus vor dem Hohen Rat (Mt 26,64): „Ihr werdet
den Sohn des Menschen zur Rechten der Kraft sitzen sehen“.
Abgesehen
davon, dass Matthäus an dieser Stelle ausdrückt, dass er die Messiasvision des
Daniel in Jesus erfüllt sieht, sagt Jesus hier nicht nur etwas über sich selbst
aus, er macht eine symbolisch zu verstehende Aussage über die Menschheit als
Gattung, er sieht sie gewissermaßen als rechte Hand der Kraft.
Der
Jesus, der so spricht, passt durchaus in das wissenschaftliche Weltbild als
einer der sehr ungewöhnlichen Menschen, die Unglaubliches zustande gebracht
haben. Er ist aber kein Gott, und wenn „Sohn Gottes“, dann noch in einem
anderen Sinn als dem der hellenistischen Zeit.
Das
hellenistische Weltbild steht zwischen dem Weltbild der Bibel und unserem
wissenschaftlichen Weltbild. Es ist in einem evolutionären Sinn Basis und
Vorstufe des Weltbilds unserer jetzigen Zivilisation. Und seine evolutionäre
Entwicklung kann auch auf den in hellenistischer Zeit definierten, dogmatischen
Begriff „Sohn Gottes“ in unserer Kultur angewandt werden.
Was
kann die Bedeutung des Ausdrucks „Sohn Gottes“ in unserer wissenschaftlichen
Zeit sein?
Zunächst
ist in dem Ausdruck „Sohn Gottes“ ausgesagt, dass die schöpferische Kraft sich
nicht nur in einem anfänglichen Schöpfungsakt, sondern auch in der Geschichte
manifestiert. Wissenschaftlich eingestellte Menschen können darin die Evolution
sehen, die in uns Menschen gipfelt und in ihr die Tendenz zu immer mehr Bewusstheit
– ganz so, als ob in der Geschichte durchgehend eine bewusste, schöpferische
Kraft wirkt. Diese Tendenz setzt sich fort in der kulturellen Entwicklung der
Menschheit als ganze. Und sie ist offenbar auch vorhanden in der persönlichen
Entwicklung der einzelnen Menschen. Diese Tendenz zu mehr Bewusstheit drängt
die Menschen, die Wirklichkeit aus der Perspektive der größeren Ganzheit
wahrzunehmen, deren Teil sie sind, und sich in ihren persönlichen Intentionen
mit den evolutionären Intentionen dieser Ganzheit zu vereinen. Durch eine
solche Vereinigung der Intentionen können Menschen über sich selbst
hinauswachsen und dadurch, wenn die Zeit dafür reif ist, der ganzen Gattung den
Sprung in eine höhere Kulturepoche ermöglichen. Auch bereits in jenen oft
geradezu unglaublichen Kooperationen zwischen Tieren und Pflanzen, die
Naturforscher uns heute im Fernsehen vorführen, kann eine derartige Vereinigung
der Intentionen beobachtet werden.
In
all dem zeigt sich die unausgesetzte Gegenwart schöpferischer Kraft,
theologisch ausgedrückt: der Sohn – ganz im Sinn des „gezeugt, nicht
geschaffen“ des Konzils von Nicäa im Jahr 325.
Bis
hierher können Menschen mit einer wissenschaftlichen Weltanschauung problemlos
mitgehen.
Ein neues Verständnis der
Heilsgeschichte
Ohne
dies so zu bezeichnen, sehen auch die Religionen in der menschlichen Geschichte
die Tatsache der Evolution am Werk. Sie nennen diese Wirkung der schöpferischen
Kraft „Heilsgeschichte“. Weil die Evolution aber in periodischen evolutionären
Sprüngen kulminiert, ist die Auffassung entstanden, dass „Gott“ nur
gelegentlich in die Geschichte „eingreift“, um die Menschen zu „retten“. Als
einen solchen Eingriff verstehen die Christen jeweils die Auftritte der Propheten,
insbesondere aber „die Inkarnation des Sohnes Gottes“.
Dieses
Verständnis eines gelegentlichen Eingreifens Gottes ist mit dem
wissenschaftlichen Weltbild nicht vereinbar. Die Vorstellung von einem
gelegentlichen „Eingreifen“ setzt nämlich ein dichotomisches Weltbild voraus.
„Gott“ ist „draußen“ und wir sind „drinnen“. Und von dort draußen greift Gott
in den ansonsten von ihm nicht beeinflussten Lauf unserer Geschichte ein.
Ein
Naturwissenschaftler kann diese Zweiteilung nicht nachvollziehen. Er kennt nur
eine Welt und kein Eingreifen von außen. Er kennt aber sehr wohl das Konzept
der Evolution, das auch in der Theologie die Schizophrenie des dichotomischen
Weltbilds überwinden kann.
Das
zweigeteilte Weltbild hilft heute niemand mehr. Es führt nur dazu, dass sich
ein großer Teil der aufgeklärten Anhänger des wissenschaftlichen Weltbilds von
der Religion abwendet, weil sie wegen dieser mit der Religion verknüpften
Spaltung alles an der Religion für Unsinn halten. Hier liegt ein wesentlicher
Grund, warum heute auch der Ausdruck „Sohn Gottes“ nicht mehr adäquat
verstanden wird.
WIE KANN „DER GOTT DA
DRAUSSEN“ EINFLUSS NEHMEN? Berechtigung und verhängnisvolle Konsequenzen des
dichotomischen Weltbilds
Das
dichotomische Weltbild ist nicht einfach falsch. Es ist ein mythisches
Gedankenkonstrukt, das eine wichtige Erfahrungstatsache enthält, nämlich die
Erfahrung der Transzendenz, des Wirkens „geistiger“ Kräfte – das im
wissenschaftlichen Weltbild als das „Wirken größerer Ganzheiten“ gesehen werden
kann. Ein Beispiel dafür sind die Religionen selbst und ihr Verhältnis
zueinander:
Die
Religionen (wie andere Ganzheiten) verhalten sich wie lebende Organismen. Sie
versuchen zu überleben, sich an die Gegebenheiten der Zeit anzupassen und doch
ihre Identität zu wahren. Aus dem Überlebenswillen der Ganzheit fließt die
schöpferische Kraft auch in den Religionen in vielfältigster Weise – von
akribischster Liebe im Detail bis hin zu brutalst
zerstörerischer Aggression. Gleichzeitig sind diese Organismen konfrontiert mit
der übergeordneten Ganzheit, die alle Religionen einschließt. Aus deren
Perspektive würden viele Elemente dieses innerhalb ihrer selbst stattfindenden
Konkurrenzkampfs grotesk anmuten, wäre da nicht die von dem großen Ganzen
gestellte „Aufgabe“, das Tauglichste zu finden und das Untaugliche absterben zu
lassen.
Für
diejenigen, die die unterschiedlichen Ganzheiten sehen können, hebt sich die
Spaltung der Wirklichkeit in Natur und Übernatur von selbst auf, wie ein „Koan“, das gelöst ist. [Ein „Koan“
ist im Zen-Buddhismus ein logisch unlösbares Rätsel, das gerade durch seine
Unlösbarkeit die menschliche Kreativität mobilisiert und den betroffenen
Menschen aus seiner Froschperspektive heraushebt hinein in die Perspektive des
Ganzen.] Solange die Dichotomie aber nicht als Koan
gesehen wird, sondern dogmatisch selbst schon als Tatsache, können sich daraus
nur verhängnisvolle Missverständnisse ergeben.
Welchen Sinn hat der Mythos
von Gottes einzigem Sohn?
Ein
Mythos, wie der von Gottes einzigem Sohn, ist in einem wissenschaftlichen Sinn
ein Sinngefüge, das die Funktion eines Programms erfüllt: Er steuert das
Wahrnehmen und Verhalten eines Menschen. Durch diese Funktion kann der Mythos
für diejenigen, die sich seiner bedienen, eine außerordentlich wünschenswerte Wirkung
haben – in mythischer Sprache: in den Himmel führen. Gemäß Programm, räumen
seine Anwender den Aussagen Jesu in ihrem praktischen Leben höchste Priorität
ein und dadurch bekommen sie im Idealfall Zugang zu den Erfahrungen, die Jesus
zu seinen Aussagen und Handlungen geführt haben.
Solange
und so weit der Mythos vom einzigen Sohn Gottes als Motivationsgrundlage in
einem sozialen Gefüge auf eine derartige Weise als selbstverständlich gilt, ist
diese Auffassung von Jesus als praktische Wahrheit korrekt und positiv
effektiv. Sobald aber Bedingungen auftreten, die es zur Zeit der Entstehung des
Mythos nicht gegeben hat – etwa eine neue Weltbeschreibung, neue Paradigmen,
neue soziale Strukturen – verliert das Wahrnehmungs- und Verhaltens-Programm
des Mythos seine Wirkung oder die Wirkung verkehrt sich ins Negative oder eine
latent bereits vorhandene negative Wirkung tritt als solche zu Tage – wie die
Nebenwirkung einer Droge, die nicht ganz passt.
In
unserer Zeit wird eine außerordentlich destruktive Nebenwirkung des Mythos vom
einzigen Sohn Gottes sichtbar. Gewisse Aspekte des Mythos werden als Wahn
erkennbar, nämlich die Abwertung all derer, die seine Sicht nicht teilen. Unbemerkt von seinen Anwendern hat der Mythos in der
Weise schon sehr lange destruktiv gewirkt – beispielsweise in den
Missionierungen, die die Kolonisierung begleitet haben oder in den
Hexenprozessen.
Dass
sich Papst Johannes-Paul II. für dieses Verhalten der Kirche entschuldigt hat,
ist ein erster Schritt zur Korrektur, aber der wesentliche Schritt steht noch
aus: Der Papst konnte den ideologischen Zusammenhang noch nicht benennen, aus
dem dieses Verhalten logisch folgen musste. Er konnte noch nicht klar stellen,
dass das von ihm inkriminierte Verhalten damals moralisch durchaus einwandfrei
war, denn für jeden, der an den Mythos in der Form glaubt, in dem er damals
gegolten hat, sind Kreuzzüge oder Ketzer- und Hexenverbrennungen völlig logisch
und moralisch korrekt. Die Wurzel des heute zutage liegenden Problems liegt
nicht in der Moral, sondern im Verständnis des Mythos – das festzuhalten ist
auch sehr wichtig im Hinblick auf das, was uns heute von islamistischer Seite
begegnet: Es ist nicht ein moralischer Defekt, sondern ein ideologischer.
Durch
den für real in einem wissenschaftlichen Sinn gehaltenen Mythos von Gottes
einzigem Sohn kann die Geschichte vor Jesus nur als eine dunkle Zeit betrachtet
werden, in der die Menschen verloren waren und sich vergeblich nach einem
Erlöser sehnten. Genau das rechtfertigt dann Phänomene, ja es macht solche
Phänomene sogar notwendig, die im Angesicht des historischen Jesus völlig
undenkbar gewesen wären, wie Zwangsbekehrungen, Kriege oder Folter im Namen
Jesu.
Und
natürlich muss von einem derartigen Verständnis des Mythos her auch jede nach
Jesus erfolgte „Offenbarung“, wie die Mohammeds, als Irrtum abgelehnt werden –
mit allen Folgen, die diese Auffassung hat.
Die
Autoren der Bibel haben diese Situation vorhergesehen, in der ein Bild (ein
Mythos) mit der Realität verwechselt werden würde, und sie haben mit der
Formulierung des ersten Gebots davor gewarnt (Ex 20,4): „Du sollst Dir kein
Bildnis machen“. Diese Warnung ist eine Aufforderung an uns, die Bilder,
die wir benützen, immer wieder zu überprüfen auf die größere Ganzheit hin,
insbesondere wenn ihre Umsetzung grauenvolle Folgen hat. – In dem Zusammenhang
sollten wir uns aber auch klar machen, dass wir ohne Bilder nicht leben können,
auch die können es nicht, die vorgeben, es zu tun, ja die ikonoklastischsten
Religionen und religiösen Subkulturen werden von mythischen Bildern geradezu
suchtartig beherrscht – wie nicht zuletzt das Beispiel der Islamisten zeigt.
NIETZSCHES KRITIK Die
Degeneration des christlichen Mythos
Die
befreiend wirkende Geschichte (der erlösende Mythos) der Christen bestand in
der hellenistischen Welt darin, dass durch den Tod Jesu am Kreuz, also durch
ein Opfer, das gewissermaßen Gott sich selbst dargebracht hat, alle Menschen
für immer aus ihren Verhängnissen freigekauft sind.
Wissenschaftlich
betrachtet hat diese Aussage, wenn richtig verstanden, die Wirkung, dass ein
Mensch, der sich verloren fühlt, auf dieses Opfer vertrauen und sich befreit
fühlen kann – mit allen aus dieser Entspannung resultierenden heilenden
Konsequenzen.
Tatsächlich
aber hat Friedrich Nietzsche darauf aufmerksam gemacht, dass die Christen gar
nicht erlöst aussehen. Er hat damit festgestellt, dass die behauptete heilende
Wirkung in Wirklichkeit nicht eingetreten ist. Und damit hat er gezeigt, dass
der ehemals wirksame Mythos nicht mehr wirkt.
Dadurch
erhebt sich für uns die Frage, was an der Geschichte, die die Christen bis
jetzt erzählen, mit der Weltanschauung, in der sie leben, nicht mehr
übereinstimmt. Offenbar ist die Sprache nicht mehr adäquat. Weil sie nicht mehr
verstanden wird, muss eine neue Erklärung der Geschichte gefunden werden.
Gilt der Primat des
Christentums?
In
unserer wissenschaftlichen Zeit werden wir uns dazu auch fragen müssen, ob das,
was durch Jesus geschehen ist, wirklich so einzigartig war, wie behauptet, und
ob es nicht auch schon zuvor geschehen ist. Die Juden ärgern sich ja nicht zu
Unrecht darüber, dass die Christen ihnen mit ihrem Bild vom einzigen
inkarnierten Sohn Gottes Unerlöstheit bescheinigen
und die Offenbarungen ihrer biblischen Zeit als vergleichsweise minderwertig
abtun.
Das
gleiche trifft zu auf alle anderen Religionen, die von den Christen von dieser
Perspektive her gar nicht ernst genommen werden können.
Offenbar
sieht es also nicht nur für Nietzsche so aus, als ob aus dem christlichen
Mythos vom einzigen Sohn Gottes eine Hybris entsteht, indem ein Teil der
Menschheit, der offenbar nicht einmal sich selbst versteht – sonst müsste die
erlösende Wirkung ja eingetreten sein – sich über alle anderen Teile stellt.
Dadurch erinnert der christliche Mythos fatal an die Mythen mancher
Stammesreligionen, in denen nur die Mitglieder des eigenen Stamms „Menschen“
genannt werden, während alle anderen quasi den Tieren zugeordnet werden.
Solange
das Christentum unangefochten die einzige Religion seines Kulturkreises war,
war das natürlich nicht als Problem wahrnehmbar. Das wird es erst in unserer
Zeit, in der die Mitglieder anderer Religionen unsere Nachbarn sind, von denen
uns keine Grenze mehr trennt, weil die Kulturen sich vermischt haben. Wir
würden dieses Problem trotzdem noch immer nicht wahrnehmen, wenn die Mitglieder
anderer Religionen nur winzige Minderheiten wären, wie dies die Juden im
mittelalterlichen Europa waren, die als Minderheiten ignoriert werden konnten –
und wenn sie nicht ignoriert werden konnten, verfolgt wurden.
Diese
Minderheiten sind heute zu zahlreich geworden, als dass wir Christen sie
ignorieren oder verfolgen könnten. Daher drängt uns die Frage, ob nicht auch
sie so etwas wie „Erlösung“ in ihrer Religion erfahren haben – oder
möglicherweise sogar mehr davon als wir.
Erlösung neu erzählt
Dass
es so etwas wie „Erlösung“ geben kann, passt durchaus in unsere
wissenschaftliche Kultur. Es gehört zu unserer Lebenserfahrung, dass wir immer
wieder erlöst werden von irgendeiner Qual. Dafür gibt es heute die
verschiedenen Formen von „Therapie“.
Wenn
wir im Sinn unserer wissenschaftlichen Kultur auf das schauen, was Theologen
„die Heilsgeschichte“ nennen, können wir unschwer erkennen, dass die Menschen
immer schon auf der Suche nach Erlösung waren und sowohl individuell wie
kollektiv immer wieder Wege der Erlösung gefunden haben.
Es
waren immer wieder herausragende Einzelne, durch die sich ein Ausweg aus einer
Not aufgetan hat. Ihnen ist gewissermaßen das Leiden ihrer Mitmenschen zu
Herzen gegangen und sie haben in intensiver Kommunikation nach einer Lösung für
ihr Kollektiv gesucht – und sie haben durch ihre Suche eine Lösung gefunden.
Wie war das immer wieder möglich?
Juden,
Christen und Muslime glauben, Gott habe sich diesen einzelnen Menschen
geoffenbart. Aber was bedeutet diese Aussage in einer wissenschaftlichen
Kultur?
Offenbarung heute
Vor
vielen Jahren fragte ich den sudanesischen Sufi-Scheich Mohammed Osman, einen
bedeutenden Erneuerer des alten islamischen Burhania-Ordens,
wie denn Offenbarung verstanden werden könnte. Ich bezog mich dabei auf die
islamische Vorstellung, dass der Koran dem Propheten Mohammed vom Erzengel
Gabriel überbracht worden sei, während man gleichzeitig weiß, dass Mohammed die
einzelnen Abschnitte seinem Sekretär Abu Bakr diktiert hat. Ich schlug vor, den
„Erzengel Gabriel“ als die spirituelle Sehnsucht der Araber seiner Zeit zu
verstehen, deren Frustration Mohammed durch seine besondere Sensitivität dafür
wahrnehmen habe können. Gewissermaßen als ein „Medium“, so meinte ich, konnte
Mohammed aus der spirituellen Not der Araber eine Lösung formulieren, den Koran
und seine Vorschriften. Der Scheich stimmte meiner Deutung zu.
Damit
war für mich klar, was in einer wissenschaftlichen Weltanschauung Prophetismus (und letztlich auch eine „Inkarnation“) ist,
nämlich das Ergebnis der Mediation herausragender Einzelner zwischen der
größeren Ganzheit ihrer Gruppe und der menschlichen Natur, zur Lösung der Not
der durch eine begrenzte Perspektive eingeschränkten Menschen, die ausweglos
stöhnen unter ihrem schweren Schicksal.
So
verstehe ich auch die Bezeichnung „Menschensohn“, die Jesus für sich selbst
gewählt hat. Prophetismus oder eine „Inkarnation“ ist
damit das Produkt einer Sicht dieser Not aus dem Blickwinkel des den lokalen
und historischen Schranken enthobenen „ewigen“ und universellen Ganzen. Was die
Propheten (als Medien der Perspektive des Ganzen) verkünden – oder was der
menschgewordene Gott verkündet, ist dadurch genau das, was diese Menschen
brauchen, um einerseits ihr schweres Schicksal leichter ertragen zu können,
andererseits um im eigenen Schicksal die unter diesen Umständen möglichen
Verbesserungen vorzunehmen. Die Meister, Medien und Propheten drücken das in
der Sprache ihrer jeweiligen Zeit und Kultur aus. Und genau das tut auch „der
Sohn Gottes“.
Von
da her verstehen wir die „Heilsgeschichte“ nun so, dass es „ein Eingreifen
Gottes in die Geschichte“ immer schon gegeben hat und dass es nicht nur
punktuell stattfindet, sondern jederzeit und überall. Was einzugreifen scheint,
ist nämlich die jederzeit überall wirkende schöpferische Kraft, die schon lange
vor den Menschen jeden Sprung der Evolution hervorgebracht hat und lange vor
dieser irdischen Evolution die Entstehung des Universums.
Natürlich
waren es immer gewisse historische Konstellationen, durch die ein evolutionärer
Sprung in der Kulturgeschichte notwendig wurde, nämlich besondere Notzeiten,
die dadurch zu Notzeiten geworden waren, weil die alte Welterklärung nicht mehr
verstanden wurde, was bei den einen zu zwanghaften Verhärtungen führte und bei
den anderen zu einer Ablehnung der alten Welterklärung insgesamt mit der Folge
von Orientierungslosigkeit.
In
so einer Zeit lebte Jesus und so wurde er zum Brückenbauer. Er verknüpfte das
Alte mit dem Neuen in einer sehr menschlichen, allgemein verständlichen und
doch traditionell biblischen Sprache. Durch sein Schicksal passte er darüber
hinaus perfekt in die Gedankenwelt der hellenistischen Mythologie und wurde
dort zur zweiten göttlichen Person.
In
so einer Zeit lebte auch Mohammed, durch dessen Mediation sich die Araber auf
die Höhe der jüdisch-monotheistischen Welterklärung aufschwingen konnten,
natürlich auf eine ihrem Äon entsprechende Weise. Ähnliches gilt von Buddha mit
seiner mythenlosen Welterklärung (die zu manchen Zeiten aber ebenso wie die
anderen Welterklärungen zwanghaft verkehrt wurde).
Und
alle diese Lehren wurden später jeweils wieder durch menschliche Medien
(Heilige, Ordensgründer, Gurus, neue Propheten) immer wieder neu in die sich
wandelnden Kulturen eingebracht als die passende Antwort auf die Fragen ihrer
Zeit.
Evolution als schöpferisches
Geschehen: „Der Geist geht auch vom Sohn aus“ – oder genauer, „der Geist wirkt
durch den ‚Sohn’ hindurch“
Bis
jetzt können wir in der wissenschaftlichen Weltanschauung bereits bis an den
Punkt sehen, bis zu dem die Ostkirchen mit den Westkirchen mitgehen: Der
Heilige Geist geht vom Vater aus. Die schöpferische Kraft wirkt von Anfang an
in die Schöpfung hinein. Ihre allgegenwärtige Wirkung macht es seit je her
möglich, dass immer wieder Auswege aus jeder Not gefunden werden.
Geht
der Geist aber auch vom Sohn aus?
Was
ist „der Sohn“ in unserer wissenschaftlichen Zeit?
Zunächst
– um sexistische Missverständnisse auszuschließen – steht „Sohn“ natürlich für
„Kind“, und daher auch für jede Tochter. Der „Sohn“ ist das, was vom Vater
abstammt und dessen Wesen enthält. Das ist die Aussage des biblischen
Schöpfungslieds über den Menschen. Aber nicht nur der Mensch, die ganze
Schöpfung stammt von „ihm“ und enthält „sein“ Wesen, die schöpferische Kraft.
Dadurch ist schon vor den Menschen jede Evolution möglich geworden. Und damit
wirkt der Geist schon vor den Menschen durch den „Sohn“, nämlich durch alles,
in dem Gott sich abbildet, und das ist tatsächlich alles, was es gibt.
Als
reflexiv bewusste Wesen repräsentieren die Menschen die schöpferische Energie
in besonderer Weise. Deshalb „sagt“ „Gott“ in Gen 1,26, der Mensch sei ein Abbild,
ja eine „Kopie von Gott“.
Im
Lauf der zivilisatorischen Evolution sind es daher nicht nur die hervorragenden
Individuen, wie die Heiligen oder die Religionsstifter, in denen die
schöpferische Kraft wirkt, sondern sie wirkt in jedem Menschen. Aus allen
zusammen erst baut sich, wenn nötig, ein evolutionärer Sprung zu einer neuen
Kulturstufe auf. Zunächst wirkt die schöpferische Kraft (in der Sprache Jesu
„der Heilige Geist“) in jedem Menschen an seinem Platz und inspiriert ihn,
seine individuelle Not zu lösen. Und dadurch trägt jeder nach seinen
Möglichkeiten auch zur sozialen Veränderung bei – selbst zerstörerische
Menschen, wie die Nazis es waren. Sie haben Kreativität in der Destruktion
gezeigt und damit Gegenkräfte hervorgerufen, die ihnen schließlich den Garaus
gemacht haben. Wie schon zuvor in der Geschichte, musste sich der historisch
gewachsene Wahn, dem sie verfallen waren, als solcher zeigen, damit er
überwunden werden konnte.
Konsequenzen der
wissenschaftlichen Betrachtung für die Mythen
Das
vorhin am Beispiel des Propheten Mohammed besprochene, heutige Verständnis von
Offenbarung zeigt, in welcher Weise das, was als ein Eingriff von außen
betrachtet wurde, auf die Sehnsucht der Menschen der betreffenden Zeit und
Kultur zurückgeht.
Der
schöpferische Geist, der in jeder Phase der Evolution den Traum vom Paradies
erzeugt, wirkt durch die das Paradies träumenden Individuen hindurch und geht
dadurch auch von ihnen aus.
Manche
Menschen sind in besonderer Weise darauf eingestellt, diesen Traum vom Paradies
bewusst zu empfangen und in der Weise zu verarbeiten, dass sich daraus eine
kollektive Vision der Umsetzung entwickelt, die sie ihren Zeitgenossen in der
Sprache ihrer Kultur vermitteln. Diese Menschen wurden früher „Propheten“
genannt. In unserer wissenschaftlichen Zeit wäre es ratsam zu sehen, dass es
solche „Propheten“ oder geisterfüllte, „kreative“ Menschen in allen Bereichen
der Kultur gibt und dass ihre Einsichten immer eine Antwort auf die Fragen der
Zeit sind, weil sie die Konstante ihrer menschlichen Natur jeweils in Einklang
zu bringen versuchen mit den konkreten Gegebenheiten ihres Lebens.
Gerade
deshalb aber, so weit reichend und kulturbegründend beispielsweise die durch
den Propheten Mohammed übermittelte Offenbarung auch ist, das „Siegel der
Propheten“, zu dem ihn der islamische Mythos macht, kann er in einer
wissenschaftlichen Betrachtung nur in dem Sinn sein, dass der von ihm
beschriebene Geist der Hingabe, der seiner Religion den Namen gibt, ein Ideal
ist, das für alle Zeiten gültig bleibt. Außerdem bleibt auch seine
Darstellungsweise, seine Poesie, für alle Zeiten unübertrefflich; die von ihm
übermittelten konkreten mythischen Formulierungen und Regeln dagegen können nur
für seine Epoche gelten mit ihren besonderen Lebensbedingungen und ihrer
Weltanschauung, für die sie eine Antwort darstellen – was für weite Gebiete des
Islam allerdings noch sehr lange sein kann. Sobald jedoch gravierende
Änderungen eingetreten sind, gilt: Die schöpferische Kraft, der Heilige Geist,
der Erzengel Gabriel, entwickelt durch die konkret lebenden Menschen neue
Formulierungen und Regeln, die dann einen neuen Äon bestimmen.
Und
wie sich in einer wissenschaftlichen Betrachtung die Bedeutung der mythischen
Rede vom „Siegel der Propheten“ als begrenzt zeigt, so bleibt Jesus in dieser
Betrachtung auch nicht der einzige Sohn Gottes.
Eine
Betrachtung aus dieser neuen Perspektive macht sichtbar, dass die Attribute,
die Jesus im Laufe der Geschichte zugeordnet worden sind, auch auf alle anderen
Menschen zutreffen, zumindest ihrer Anlage nach. Auf diese Weise wird kein
einziges der Dogmen geleugnet und doch wird uns damit ein Verständnis möglich,
das auf den heutigen Ausdrucksmöglichkeiten und auf den Gegebenheiten unserer
Zeit und Kultur beruht und das gleichzeitig das alte Glaubensgut erneut
vertieft und erweitert, genau so wie es auf Drängen des Geists hin durch die
ganze Geschichte des Christentums hindurch immer wieder geschehen ist.
Dieses
erneut vertiefte Verständnis erlaubt uns nun aber die durch die Globalisierung
auch der Religionen aufgetretenen Probleme zu lösen durch einen ganz neuen
Umgang mit den Mitgliedern anderer Religionen, denn nun erscheinen sie uns
nicht mehr irregeleitet oder nur unvollständig erleuchtet, sondern wir können
jetzt sehen, wie die göttliche Heilsgeschichte bei ihnen aufgrund der
andersartigen Umstände nur andere Wendungen genommen hat, und dass bei ihnen
daher andere Geschichten/Mythen eine erlösende Wirkung hatten, als in unserer
Kultur.
Grundlage einer neuen
religiösen Anthropologie
Die
lateinische Kirche hat mit ihrem „filioque“, so
verletzend das für die Ostkirchen damals auch war, letzten Endes unschätzbare
Vorarbeit geleistet für eine neue religiöse Anthropologie, der nun auch die
Orthodoxie wieder zustimmen kann.
Jenseits
des Hellenismus und anknüpfend an Gen 1,26 [der Mensch geschaffen als ein Bild
von Gott] kann darin all das, was über Jesus und seine Beziehung zum Geist
ausgesagt worden ist, idealerweise von jedem Menschen ausgesagt werden. Auch
wenn die Anlage bei den meisten nur in besonderen Momenten zur Entfaltung
kommt, ist sie doch stets da, bei manchen bleibt sie über längere Strecken
sichtbar und wieder bei anderen ist sie mehr oder weniger dauernd realisiert –
wie bei denen, die als „Heilige“ oder als „Erleuchtete“ gelten, die es auf
irgendeine Weise in jeder Religion gibt.
Genau
auf diese Anthropologie zielt der insbesondere von Karl Rahner aktualisierte
Ausdruck „anima naturaliter
christiana“, „die Seele ist von Natur aus
christlich“. Rahner hat diesen bereits von Tertullian stammenden Ausdruck
wieder in den Vordergrund gestellt, um auf die göttliche Natur des Menschen
hinzuweisen. Indem wir diesen Ausdruck heute aufgreifen, sehen wir aber, dass
die menschliche Seele nicht nur „christlich“ ist, sondern genauso muslimisch,
buddhistisch oder einer anderen Religion entsprechend.
Welcher „Mythos“, welches
Bild, wirkt erlösend in unserer wissenschaftlichen Zeit?
Nun
bleibt noch die Frage, wie die Geschichte weitergeht, bzw. was – im Gegensatz zu den alten Mythen vergangener und
geografisch begrenzter Kulturen – die neue erlösende Geschichte der Menschheit
insgesamt ist.
In
der neuen erlösenden Geschichte des Christentums wird die ganze Schöpfung als
der „Sohn“ sichtbar, besonders natürlich der Mensch, jeder Mensch. Achtung und
Selbstachtung sind die natürliche Folge.
Die
schöpferische, erlösende Kraft ist in jedem Menschen da. Ihr Wirken beruht auf
der menschlichen Fähigkeit zu einer ganzheitlichen Sicht. Diese Sicht eröffnet
der Kraft den Weg. „Ihre“ Hinweise zu entdecken unter der Kruste unseres
Alltagsbewusstseins von uns selbst, ist unsere „spirituelle“ Aufgabe. Die
Regeln der Traditionen können uns helfen, die schöpferische Kraft zu entdecken,
doch wir können sie auch auf eigene Faust entdecken, unter Schmerzen, über
Versuch und Irrtum, durch Achtsamkeit und Selbstdisziplin.
Die
Liebe, die als das Höchste gepriesen wird, stellt sich durch dieses Bemühen von
selbst ein, denn sie gehört – wie Jesus in seinem Beispiel vom barmherzigen
Samariter gezeigt hat – zu unserer göttlichen Natur. Die Menschen sind trotz
aller Verblendungen, die entstehen, wenn sie sich überheben und vom Ganzen
isolieren, von Haus aus auf Heilung und Erlösung programmiert. Sie finden
daher, indem sie danach suchen, immer wieder Wege der Heilung.
Im
christlichen Erlösungsmythos unserer jetzigen Zeit, treten die Menschen die
Nachfolge Christi an, indem sie erkennen, dass sie selbst reale „Söhne“ und
„Töchter“ der schöpferischen Kraft sind – was natürlich das Wissen um die reale
Sohn- oder Tochterschaft aller anderen Menschen einschließt. Durch ihre
natürliche und in ihrer Sicht sogar göttliche Wahrnehmungsfähigkeit, der sie
nun vertrauen, wird ihre Lebensquelle, ihr „Vater“, sie von da an führen
können. Und durch ihre Aufmerksamkeit darauf werden sie dieser Führung immer
enger folgen und dadurch ihrem Glück immer näher kommen.
Und
so werden auch die anderen Menschen merken, dass es sich bei der „Botschaft“,
der sie folgen, tatsächlich um eine frohe Botschaft handelt.
Der Autor, Jahrgang 1944, hat Theologie und Politikwissenschaft
studiert und anschließend Jahre in den USA gelebt. Er hat die großen Religionen
durch eigene Praxis erfahren, insbesondere den Islam. Er ist Psychotherapeut
mit vielen Jahren Erfahrung in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen. 1994
ist bei Kösel sein Buch „Auferstehung – vor dem Tod.
Therapeutisch arbeiten mit biblischen Texten“ erschienen. Vor zwei Jahren ist
er mit einem viel beachteten Friedensvorschlag für Israel/Palästina an die Öffentlichkeit
getreten (www.Tempel-Projekt.de),
den er weiter verfolgt. Zurzeit arbeitet er auch an einer interreligiösen
Dogmatik, aus der dieser Artikel stammt.