Glaube und Erfahrung
Es gibt sicherlich
verschiedene Arten von "Glauben", deshalb müssen wir zuerst klären,
wovon die Rede ist:
Was wir gewöhnlich unter
"Glauben" in seinem besten Sinn verstehen, ist eine intellektuelle
Errungenschaft, eine Art geistige Disziplin, die vorwiegend auf eingeprägten
Bildern beruht, letztlich auf einer Art hypnotischem System, das eine Erlösung
vom Leiden zu bewirken versucht, indem es sie behauptet.
"Glauben" in
diesem Sinn ist also das Für-Wahr-Halten behaupteter Zusammenhänge. Der Preis
für das Funktionieren eines hypnotischen Systems dieser Art ist gewöhnlich die
Einhaltung eines strengen Ordeals, das eben jene geistige Disziplin durch
schwieriges praktisches Handeln untermauert. In unserem Fall ist das Ordeal die
Moral. Da diese aber praktisch nicht einzuhalten ist, kann jedes Versagen der
Glaubenskraft (die ja Berge versetzen soll) auf die eigene mangelnde Disziplin
zurückgeführt werden.
Der Nachteil dieses Systems
ist nicht nur, daß es nicht besonders gut funktioniert, sondern vor allem, daß
es massive Störungen verursachen kann, insbesondere, daß es (naive) Menschen,
die die Moral nicht bewältigen können, innerlich zerreißt oder in ein geistiges
Gefängnis sperrt, aus dem ein Entkommen fast unmöglich ist, insbesondere da die
Vertreter des magisch–hypnotischen Systems selbst keine Einsicht in die
Wirkzusammenhänge dieses Systems haben und den Mythos, auf dem die Wirkung
beruht, einfach für so etwas wie eine physische Realität halten in einem
ähnlichen Sinn wie zu Zeiten des Polytheismus die verschiedenen Götter ebenso
für quasi anthropomorphe Realitäten gehalten wurden. Im Wirk-Prinzip gibt es
daher tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem gewohnt christlichen und dem
polytheistischen Glauben.
Die Störungen, die vom
"Glauben" in diesem Sinn verursacht werden können, reichen von
Neurosen über psychiatrische Störungen bis hin zu allen Arten von
lebensbedrohlichen Krankheiten, denn für die Menschen, die nicht bereit sind,
die geforderte rigorose Moral entweder zu erfüllen oder bewußt abzulehnen,
stellt sie eine Einengung ihres Lebensraumes ein, die ihnen letztlich nur die
Möglichkeit läßt, entweder radikal auszubrechen (auch im Sinn des Verbrechens)
oder zu resignieren, d.h sich überwältigen zu lassen von dem inneren Druck mit
Konsequenzen wie Krebs, Herzinfarkt, Depression und Ähnlichem.
Ein weiteres schwerwiegendes
Problem, das auf das Moralsystem zurückgeht, ist die Bigotterie und mit ihr der
ganze Komplex von Diskriminierung, der zu Verfolgungen bis hin zu Kriegen
führt.
Natürlich wäre es verkehrt,
dem religiösen Glaubens-System "Schuld" an diesen Folgen zu geben,
denn dieses System ist nur eine der Gegebenheiten und Gefahren des Lebens in
dieser Welt und ohne es wären die Gefahren nicht weniger, sondern nur anders.
Und doch sind es auch diese
Folgen, gegen die Menschen wie Jesus oder Buddha sich mit ganzer Kraft
eingesetzt haben, indem sie den Glauben ihrer Zeit entmythologisiert haben – im
Fall von Jesus mit tödlichen Folgen, weil die Repräsentanten des Systems dessen
Entmythologisierung nicht zulassen wollten.
In Zusammenhang mit seinen
Bemühungen hat Jesus die Religion auf eine andere Basis gestellt.
"Glauben" bedeutet bei ihm daher etwas völlig anderes als zu den
immer noch gegenwärtigen Zeiten der Inquisition, die ihm damals logischerweise
das Leben genommen hat.
"Glauben" bedeutet
bei ihm nicht das Für-Wahr-Halten eines geistigen Systems, sondern ein
abgrundtiefes Vertrauen, das weder erlernt noch fingiert ist. Es beruht auf
einer Erfahrung, einem Erleben, einer Anschauung der "Wirk-lichkeit",
auf einer Erfahrung des Wunders des Lebens, auf einem Erleben der
schöpferischen Kraft. Der "Vater", von dem Jesus spricht, ist kein
Mythos, zu dem er später für die Christen wird, sondern eine persönlich erfahrbare
Realität. Aus diesem Grund ist der "Glaube" bei ihm auch nicht
verknüpft mit einem moralischen System. Und zum Erstaunen und auch Ärgernis für
seine Gegner schafft er es daher, diesen "Glauben" auch in Menschen
zu wecken, die aus der Sicht moralischer Disziplin als verloren gelten mußten.
Viele von ihnen waren dem moralischen System schon allein aus Protest gegen
dessen Unmenschlichkeit entfremdet. Indem sie von der Anschauung Jesu
angesteckt wurden, konnten sie ihren Protest aufgeben und wurden von da an
Menschen, die für andere den Eindruck großer Moralität erweckten.
Jesus hat den alten Grund
der alten Religion wiederbelebt: Die Anschauung, das Ergriffensein von der
grenzenlosen Kraft, die das Universum hervorgebracht hat und die –
erstaunlicherweise – in jedem winzigsten Detail des Lebens gegenwärtig ist und
– mehr noch – jedes dieser Details im Grunde lenkt und zwar so, daß das
Bewußtsein von dieser Realität insgesamt zunimmt.
Die Art des Wirkens dieser
Kraft kann als eine Art natürliche Verhaltenstherapie betrachtet werden, weil
es das Vertrauen belohnt und das Mißtrauen bestraft – wie beispielsweise das
Auf und Ab der Geschichte Israels zeigt. Diese Tatsache wird von den Vertretern
des Glaubens-Systems als Rechtfertigung ihres Vorgehens betrachtet, aber
irrtümlich, denn wirkliches Vertrauen entsteht nicht durch permanente
Selbsthypnose, sondern durch unmittelbare Wahrnehmung der Realität des Wirkens
der Kraft.
Nur auf dieser Basis konnte
Abraham zum Stammvater eines großen Volkes werden, nur auf dieser Basis konnte
Mose sein Volk herausführen aus der Sklaverei in Ägypten, nur auf dieser Basis
konnte Gideon eine Armee von 30.000 Mann mit nur dreihundert besiegen. Und nur
auf dieser Basis erlitt Jesus seinen Tod, um hundertfach in weiteren Multiplikatoren
seiner Art aufzuerstehen.
Das ist das Glauben anderer
Art, das nichts mit Selbsthypnose oder mit Internalisierung äußerer Bilder zu
tun hat – im Gegensatz zum üblichen Verständnis des "Glaubens".
Und doch kann die übliche
Art des "Glaubens" zum Anlaß für die Erfahrung werden.
Insgesamt gibt es also drei
Arten von "Glauben":
Der erste ist die rein
intellektuelle Darstellung einer Fiktion, die für wahr gehalten wird.
Der zweite die darauf
beruhende (diese utilisierende) Suggestion und Autosuggestion – eine Art von
Magie.
Die dritte ist die
persönliche Erfahrung, die unmittelbare Anschauung, die von der Art der
Wahrnehmung her nichts gemein hat mit der Fiktion, obwohl Details aus den
Beschreibungen der Erfahrung praktisch identisch sein können mit Details aus
den Beschreibungen des fiktiven Glaubens-Systems der ersten und zweiten Art.
In der Terminologie von
Carlos Castaneda könnte man sagen, die erste Art des "Glaubens"
beruht auf der "ersten Aufmerksamkeit", die zweite auf der zweiten
und die dritte auf der dritten. Die erste Aufmerksamkeit ist das gewöhnliche
kausale Denken, die zweite ist die der magischen Weltbewältigung (beide
abstrakt und dem verhaftet, was die Bibel als den Sündenfall beschreibt,
nämlich der Unterscheidung von "gut" und "schlecht"), die
dritte die des Fühlens, des Wahrnehmens der ganzen Tiefe der Wirklichkeit samt
der Kraft, die sie treibt.
In dieser dritten Art der
Aufmerksamkeit braucht es keinen Mythos, denn die Wirklichkeit ist genug. In
dieser Aufmerksamkeit lebte Jesus; das meinte er, wenn er sagte, Gott müsse
"im Geist und in der Wahrheit" angebetet werden. Denn hier ist der
Geist gegenwärtig und spürbar und die Ehrfurcht vor ihm ist kein Gebot, sondern
eine Realität. Solange sie ein Gebot ist, befindet sich der Mensch im Bereich
der ersten oder der zweiten Aufmerksamkeit, also bestenfalls im Bereich des
Mythos und der Magie, also in einer Fiktion – die außerdem heute hier bei uns
kaum noch positive Wirkungen hat, sondern vorwiegend psychische,
psychosomatische, somatische und Verhaltens-Störungen auslöst.
Die Kopplung von Moral
(insbesondere natürlich in Form der von niemand erfüllbaren Sexualmoral) und
"Glauben" bewirkt nämlich ein undurchdringliches Gefängnis der
Schuld, das offenbar die Herrschaft derer garantieren soll, die behaupten, den
Schlüssel zur Vergebung zu haben, und das gleichzeitig garantiert, daß niemand
den Schritt vom "Glauben" im Sinn der Fiktion zur persönlichen
Erfahrung oder Anschauung (also von der Abhängigkeit in die Freiheit) gehen kann.
Was Jesus schon von den Schriftgelehrten und Pharisäern sagte, nämlich daß sie
den Schlüssel zum Himmelreich nicht dazu benutzten selbst einzutreten und daß
sie auch alle anderen davon ausschlössen (Mt 23,13), das trifft auch auf die
heutigen Schriftgelehrten und Pharisäer und auf ihr System des
"Glaubens" zu. Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Warum sonst sollte Jesus die
Kinder als Beispiel für die richtige Art des Glaubens herangezogen haben, wenn
nicht, um zu sagen, daß es um die unmittelbare Anschauung, um das Fühlen der
Wirklichkeit geht und nicht um intellektuelles Einordnen oder um magisches
Bewältigen. Es ist klar, daß ein in diesem Sinn neues Verständnis der
kirchlichen Gebräuche entwickelt werden muß, wenn der Weg von den
mittelalterlich schwarz-magischen Praktiken zum Fühlen der Gegenwart des Geists
gegangen werden soll.