Ist Jesus Gottes einziger Sohn?
(8.
4. 2001)
Die Christen scheinen
selbstverständlich davon auszugehen – oder?
Diese
Frage ist der hauptsächliche Stein des Anstoßes im Gespräch mit dem Islam
(„Blasphemisten sind die, die sagen Christus, der Sohn der Maria sei Gott“
Koran V,19 etc.), mit dem Hinduismus und mit dem
Buddhismus.
Da
ich Kindern Religion unterrichte, bin ich ständig mit dem konfrontiert, was ich
als das „gewöhnliche Verständnis der Dogmatik“ bezeichnen möchte. Wenn ich den
Schülern meiner (deutschen) Grundschulklassen die Frage nach der Entstehung der
Welt stelle, bekomme ich fast in jeder Klasse gleich von mehreren Schülern die
Antwort: „Jesus hat die Welt erschaffen.“ Kollegen bestätigen mir diese
Erfahrung – während andere Kollegen sie offenbar (mit kirchlicher
Lehrerlaubnis) erzeugt haben müssen.
Diese
Inhalte sind meines Erachtens das reale Resultat von dem, was Kardinal
Ratzinger als „Einfachheit des Glaubens“ erstrebenswert findet, ich meine eher:
Der Aberglaube des Arianismus hat sich am Ende doch durchgesetzt. Welche
Auswirkungen diese Glaubensinhalte auf das Verhalten der Menschen haben, also
ob sie Nächstenliebe und Mitgefühl eher fördern oder behindern, ist natürlich
eine andere Frage (aber jeder gedankliche Formalismus schwächt das reale
Mitfühlen). Klarer allerdings ist die Hauptkonsequenz, nämlich dass auf ein
kindliches „Jesus hat die Welt erschaffen“ sehr leicht ein erwachsenes „so
einen Schmarrn kann doch kein Mensch glauben“ folgt. Und das ist meines
Erachtens einer zentralen wirklichen Gründe für das
rapide Schwinden des öffentlichen Interesses an Religion, speziell an der
christlichen und für das immer noch zunehmende Interesse an ostasiatischen und
esoterischen Kulten.
Jesus
folgt zunächst einfach der biblischen Tradition, die ja damit beginnt, dass die
Menschen im ersten Schöpfungsbericht, Gen 1, als „Bilder von Gott“ bezeichnet
werden. Weiter heißen sie im Deuteronomium 14, 1: „Kinder des Herrn, eures
Gottes“ etc.. Jesus nimmt diese Aussagen ernst und er
nennt Gott „Vater“ und auch dafür steht er einfach in der langen
alttestamentlichen Tradition.
Indem
Jesus aber gerade diese Worte ernst nimmt, wie keiner vor ihm, erfährt er auch
die Wirklichkeit der Sohnschaft und des „Vaters“ wie keiner vor ihm. Das ist
sein Lebensgeheimnis, das er aber gerade nicht für sich behalten, sondern
mitteilen, teilen wollte. Niemals hat er behauptet, der einzige zu sein –
bedauerlicherweise gab es aber keinen Zeitgenossen, der es ihm gleich getan
hätte. Deshalb hat er mit seinen Schülern darauf hin gearbeitet, dass sie ihm
nachfolgen könnten in dieser Sicht und Erfahrung des Lebens. Diese aber waren
so fasziniert von ihm und konnten so wenig glauben, was sie sahen, dass sie ihn
möglicherweise wirklich für eine Art übernatürliches Wesen hielten und ihn auch
später, als die gleichen Wunder auch durch sie geschahen, noch weiter
verklärten.
Und
doch steht im ganzen Neuen Testament in keinem einzigen Satz, dass Jesus der
einzige Sohn Gottes sei. (Auf die tausend Sätze, die Ihnen jetzt gleich
einfallen, weil Sie’s Ihrer Meinung nach doch sagen, komme ich gleich zurück.)
Solche Ideen entstanden erst, als man anfing, emotionale Aussagen mit Logik zu
analysieren und zu synthetisieren. Zunächst formulierte die Richtung des Arius,
Jesus wäre eben gar kein richtiger Mensch gewesen, sondern ein übernatürliches
Wesen. Und diese Idee wurde im Grund nie mehr aufgegeben. Die Korrektur bestand
bekanntermaßen ja darin, dass man sagte: Er ist zwar ein übernatürliches Wesen,
aber er ist auch ganzer Mensch, die Leidensfähigkeit eingeschlossen. Erst
heute, scheint es, sind die Menschen so sehr aus der mythologischen Zeit
herausgetreten, dass sie mit solchen Definitionen überhaupt nichts mehr anfangen
können. Wenn schon Magie, dann wollen sie spektakuläre Ergebnisse sehen, wie in
den Fantasy–Comics im Fernsehen. Von solchen Ergebnissen hat aber leider in
unserer Zeit niemand etwas gesehen oder gehört. Damals, vor 2000 Jahren (also
"in ille tempore",
in der Märchenzeit) da gab’s so was vielleicht, aber heute
...
Nun
zu den Aussagen des Neuen Testaments, beginnend mit den ersten drei Evangelien:
Matthäus
und Lukas bringen eine kurze Vorgeschichte des öffentlichen Auftretens Jesu.
Matthäus möchte seinen Leser
vor allem zeigen, dass Jesus aus der messianischen Linie des jüdischen Volkes
stammt und weiters, dass es sich schon bei der
Abstammung um ein mythisches Ereignis handelt, nämlich um die Erfüllung jener
uralten, über die Bibel hinausgehenden Weissagung, dass der Erlöser göttlichen
Ursprungs ist und – ohne menschlichen Vater – nicht „aus dem Fleisch“ stammt.
Die Vorgeschichte des Matthäus ist ganz offensichtlich eine Legendenreihe. Er
macht sich nämlich nicht die geringste Mühe, die Widersprüche darin zu glätten
– und doch führt ihn seine Idee von der Jungfrauengeburt zu der Geschichte über
die Rolle des Josef dabei. Und Matthäus schließt gleich eine ganze Serie
weiterer Legenden an, beginnend mit dem Erscheinen der drei Weisen, der Flucht
nach Ägypten und dem Kindermord in Bethlehem. Diese Geschichten stehen ganz
allein und keiner der anderen Autoren des Neuen Testaments nimmt Bezug darauf.
Sie sind diesen also unbekannt. Aber sie passen sehr gut ins Gesamtkonzept des
Matthäus, der darstellen will, dass Jesus eben von Anfang an der prophezeihte Messias ist, ähnlich gewaltiger Art wie Mose
(der ja bekanntlich dem ägyptischen Kindermord entkommen ist), und dass er am
Ende als der Retter der Welt erkannt werden wird, während die Juden ihre Rolle
als Volk Gottes mit dem Nichterkennen des Messias ausgespielt haben. Diese
Aussage ist ihm wichtiger als innere Widerspruchsfreiheit.
Diese
Geschichten des Matthäus daher als historische Fakten zu betrachten, heißt, den
Charakter der gesamten inspirierten Literatur zu verkennen. Matthäus setzt nur
gute alttestamentliche Tradition fort. Es geht hier immer darum, dem Leser eine
Bedeutung zu vermitteln. Etwas Ähnliches geschieht heute, wo Hollywood in einer
Unzahl einzelner Werke die Geschichte Amerikas neu schreibt und zeigt, dass
„echte Amerikaner“ niemals Rassenhasser oder Indianerkiller gewesen sind,
sondern die Afrikaner und die Urbevölkerung des Kontinents immer schon als
Menschen hoch geschätzt und mit dem eigenen Leben verteidigt haben. Die
Geschichte dient uns Menschen immer der Erklärung der Gegenwart und hat nicht
viel mit Fakten zu tun – selbst heute, wie man sieht.
Ähnliches
gilt natürlich für die Vorgeschichte des Evangelisten Lukas, die
ebenfalls auf den auch von Jesaija (7,14) wieder
benützten Mythos der Jungfrauengeburt zurückgreift. Im übrigen ist auch die Vorgeschichte
des Lukas (die Geburt Johannes des Täufers, das Erscheinen des Erzengels
Gabriel, die Volkszählung des Kaisers Augustus, die Hirten etc.) völlig
einzigartig und keinem anderen Autor des Neuen Testaments bekannt. Seine
Genealogie unterscheidet sich grundlegend von der des Matthäus. Die Geschichte
des Lukas entspricht aber wieder genau dem, was er seinen Lesern mitteilen
will, die sich weniger gut im Alten Testament, dafür aber besser in der mediterranen
Mythologie und in der Geschichte des römischen Reiches auskannten. Auch Lukas
benützt dazu Legenden, die er in tatsächliche historische Ereignisse (wie die
Volkszählung des Augustus) einbindet. Und so liefert auch er seinen
(heidenchristlichen) Zuhörern Bedeutung und keine historischen Fakten.
Auch
die Zuhörer des Markus sind Heidenchristen, sie haben allerdings keinen
großen Bedarf an Legenden. Daher fasst sich Markus kurz, verzichtet auf die
Erfindung von Kindheitsgeschichten und stellt gleich den Mann vor, der in
seiner Sicht das Unheil der Welt überwindet – durch seine sehr persönliche
Beziehung zu Gott: Gott ist sein „Vater“ und Gott betrachtet ihn als „seinen
geliebten Sohn“ (1,11; so etwas muss für die Anwesenden bei der Taufe Jesu
spürbar gewesen sein, sofern sie die Gabe zu solchem Spüren hatten, also
wenigstens für Jesus und für Johannes). Als solcher vermag er, den Menschen das
Reich Gottes zu zeigen, sie der Hand des Satans zu entreißen und mit Gott zu
versöhnen, auch wenn die Menschen – zunächst – in dem Sohn den Vater nicht
erkennen können, trotz aller Zeichen, die er ihnen gibt.
Für
Markus ist Jesus „der“ Sohn Gottes, damit beginnt er sein Evangelium und darauf
beruht es. Die unreinen Geister (3,11) bestätigen das und der Hohepriester sagt
es noch genauer: Jesus ist „der Messias, der Sohn des Hochgelobten“ (14,61) und
der heidnische, römische Hauptmann, der die Kreuzigung befehligt und der ihn
sterben gesehen hat, sagt: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (15,39).
Nur
an einer einzigen Stelle, als ob es ein Versehen wäre (schließlich bringt
Markus nicht einmal das "Vaterunser"), erwähnt Markus, dass Gott
nicht nur der Vater Jesu, sondern der Vater aller Menschen ist (11,25) – und
doch ist das selbstverständlich für ihn und es gibt für ihn noch kein Dogma vom
einzigen Sohn Gottes. Nur – wie sollen die Menschen in Gott ihren Vater sehen,
wenn sie sich nicht als Kinder fühlen (10,13–16) und wenn sie Jesus nicht als
seinen wahren Sohn erkennen? Darauf hinzuweisen ist das Anliegen des Markus.
Johannes,
der ebenso wie die anderen Evangelisten davon ausgeht, dass Jesus „der“ Sohn
Gottes ist, unternimmt es dagegen von Anfang an, einen Weg aufzuzeigen, wie aus
gewöhnlichen Menschen Kinder Gottes werden können (1,12.13). Jesus ist das exemplarische,
das einzigartige Beispiel des Ergebnisses dieser Verwandlung (1,14). Dadurch ist er „der eingeborene Gott, der am
Herzen des Vaters ruht“ und der ihn „interpretiert“ (1,18).
Das Kriterium ist der Geist (1,33). Im gesamten
Evangelium geht es daher um eine neue Geburt aus dem Geist (3,1–13). Jesus
kennt den Weg. Es ist der Weg der Hingabe, den er selbst vorangeht (3,16).
Jesus, der einzigartige Sohn erfährt, dass der Vater alles in seine Hand gelegt
hat. Wer ihm vertraut, erfährt selbst das ewige Leben (3,35).
Johannes sieht Jesus als einzigartigen Sohn Gottes, aber
nicht im Sinn des ausschließlich einzigen, selbständigen Sohns, sondern als
Prototyp der Kinder Gottes, die "den Vater anbeten werden im Geist und in
der Wahrheit" (4,23). Er sagt sogar ausdrücklich, dass "der Sohn
nichts aus sich tun kann" (5,19).
Als dieser Prototyp ist er für die Menschen die Speise,
die vom Himmel herabkommt, "das Brot des Lebens" (6,32–35).
Als dieser Prototyp ist er aber nicht der Einzige,
sondern das Modell, nach dem jeder Mensch ein Kind Gottes werden kann, dem dann
– selbstverständlich (ohne dass Johannes es immer wieder erwähnen muss, er tut
es ohnehin, z.B. 14,12: "Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe,
auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen", aber im
Allgemeinen begnügt er sich mit der Beschreibung des Modells) – all die
Attribute zukommen, die von Jesus ausgesagt werden. Und das gilt auch von
Aussagen wie: "Ehe Abraham wurde, bin ich" (8,58).
Das Modell wird nicht immer da sein, aber das, was das
Modell gezeigt hat, wird immer da sein, der Beistand, "der Geist der
Wahrheit" (14,16.17). Und die "Wahrheit" ist nicht der Inhalt
irgendwelcher Verträge, auf die wir uns vielleicht verpflichtet haben (etwa ein
Glaubensbekenntnis oder eine Moral), sondern ausschließlich das, was jetzt der
Fall ist. Und jetzt glaube ich vielleicht nicht. Das ist dann die Wahrheit.
Alles andere ist Lüge. "Der Geist
der Wahrheit" ist unser Beistand in Abwesenheit des Modells – sagt
Johannes. Ein ziemliche Zumutung, nicht?
Worauf beruht die Aussage des Johannes? Darauf, dass es
ein Dogma gibt – etwa, dass Jesus der einzige Sohn Gottes ist?
Die Wahrheit kann nur dann ein Beistand sein, wenn wir
so gebaut sind, dass die Schwierigkeiten, in die wir geraten, Kräfte in uns
mobilisieren, von denen wir vorher keine Ahnung hatten – dass also in uns die
ursprüngliche Kraft wirkt, die die ganze Welt ins Dasein gerufen hat, dass wir
also, gewissermaßen Ausläufer dieser Kraft sind, wo sie doch in uns wirkt, in
der Sprache der Bibel: dass wir echte Kinder Gottes sind. Und das bedeutet,
dass Jesus nicht das einzige ist.
Das Bild des Johannes vom Weinstock, der Jesus ist
(15,1–17), stimmt mit dem Bild vom Modell überein. Der Vater der Winzer, er
kreiert und pflegt; wir sind die Reben, die Frucht, das Ergebnis der Arbeit des
Modells – und dann werden wir natürlich selber Modell. Die Arbeit soll ja
weitergehen.
Jesus sah auch schon vorher, dass die Dogmatiker mit
dieser Art, die Dinge zu regeln, nicht einverstanden sein würden: "Sie
werden euch aus der Synagoge ausstoßen, ja es kommt die Stunde, in der jeder,
der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten." (16,2) Das
bezieht sich mit Sicherheit nicht nur auf die Zeit, in der die Christen eine
jüdische Sekte waren, von der sich "die Juden" befreien wollten.
Und
dann kommt das berühmte: "Noch eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich nicht
mehr, und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen." (16,16) Die
Schüler Jesu haben Jesus zwar gesehen, aber sie haben ihn nicht wirklich
gesehen. Gerade vor jener Bemerkung hatte ihnen Jesus (nach Johannes) schon
gesagt, dass der Beistand nicht kommen würde, wenn er bei ihnen bleiben würde
(16,7). Erst durch seinen Tod, d.h. durch die Wahrheit, die sein Tod für
seine Schüler darstellte – und das ist nicht die Tatsache seines Todes, sondern
ihre Verzweiflung, ihr am Ende sein, ihre Kapitulation – konnten sie ihn nun
endlich wirklich sehen.
Und
so war das Grab dann "leer" für sie (20,1–10). Und während sie sich
aus Angst selbst eingeschlossen hatten (20,19), zeigte "er" sich
ihnen. Das heisst, "der Beistand" zeigte
ihnen Jesus. Und er zeigte ihnen seine Wunden (20,20). Er zeigte ihnen das
Modell, zu dem sie von diesem Augenblick an selber werden sollten. Deshalb
sagt Jesus in diesem Bild nun zu ihnen: "Wie mich der Vater gesandt hat,
so sende ich euch" (20,21).
Der
ungläubige Thomas erhält eine Extravorstellung. Der gute Hirte geht den
Verlorenen nach. Das ist das Modell. Und als Thomas erkennt, wie weit die
schöpferische Kraft geht, um ihn zur Einsicht zu bringen, dass sie ohne
weiteres ihre wertvollste Erscheinung auf Erden (Jesus) opfert, um ihn (Thomas)
zum Mitfühlen zu bringen. Da schmilzt der Panzer, mit dem er seinen Schmerz
bis zu diesem Augenblick zugedeckt hatte, und er sieht, wie Geringes ihn dazu
gebracht hatte, sich zu verweigern. Nun aber ist aller Widerstand
zusammengebrochen und er kann nur eines sagen: "Mein Herr und mein
Gott" (20,28). Und das sagt er nicht zu dem Menschen Jesus, er sagt es
auch nicht zu der Erscheinung dieses Augenblicks, er sagt es zu der Kraft,
durch deren Erscheinung in Form von Jesus diese Verwandlung jetzt in ihm
bewirkt worden war.
Auch
ist die Aussage von Thomas keine dogmatische Aussage über die eigentliche Natur
von Jesus im Unterschied zu unserer eigenen Natur. Das wäre ein
Missverständnis. Denn auch wir sind zu einhundert Prozent Erscheinungen jener
Kraft. Wir sind uns dieser Tatsache nur nicht in dem Maß bewusst, in dem Jesus
sich dieser Tatsache bewusst war. Und das macht den Unterschied. Es geht aber
auch nicht um die Frage, ob Jesus deshalb besser war. Wir können seine
Nachfolge erst antreten, wenn wir bereit dafür sind – dann aber werden wir sie
antreten, ohne Ausnahme. Das haben die Beispiele der Apostel gezeigt. Das gilt
auch für uns.