Interreligiöser
Dialog:
Wie können
kontroverse Fragen geklärt werden? Ein lösungsorientierter Versuch.
Gottfried
Hutter, Theologe, Psychotherapeut
Der heutige Stand des interreligiösen Dialogs 1
Kontroverse 1: Gemäß Koran
ist die Bibel verfälscht 3
Was ist die Bedeutung des Begriffs „Wahrheit“? 3
Die Intention hinter der islamischen Aussage 4
Die göttliche Inspiration möchte den Zuhörer erleuchten 6
Kontroverse 2: Laut Koran ist Jesus nicht am Kreuz gestorben 7
Der Zuhörer ist alles, was zählt 8
Der Wert der eigenen Tradition 9
Ein Beispiel aus dem
Christentum:
Kontroverse 3: Im Christentum ist Jesus der Sohn Gottes 11
Ein Beispiel aus dem
Judentum:
Kontroverse 4: Ist
Jesus überhaupt eine historische Person?12
Schluss 13
Der heutige Stand des
interreligiösen Dialogs
Insbesondere nach dem
zweiten Weltkrieg ist interreligiöse Toleranz und Dialog von allen Seiten ausdrücklich
kultiviert worden, zumeist in einer Atmosphäre der Betonung der Übereinstimmung.
Daher können wir uns heute fragen, ob wir jetzt bereit sind, den nächsten
Schritt zu tun und auch die kontroversen Fragen in Angriff zu nehmen – genau
die nämlich, die seit Jahrtausenden immer wieder Anlass geworden sind zu tödlichen
Auseinandersetzungen.
Mit anderen Worten, haben
wir jetzt eine Chance, dass sich die Anhänger der drei Abrahamischen
Religionen freundschaftlich auf ein gemeinsames Verständnis ihrer
gegensätzlichen Anschauungen einigen?
Alle drei Religionen sagen
von sich, dass sie von Gott stammen. Und tatsächlich gibt es in allen dreien ganz
offensichtlich Menschen, die, dadurch dass sie den Lehren ihrer Religion
folgen, imstande sind, mit ihrem Schöpfer und mit ihren Mitmenschen in großer Harmonie
zu leben. Die gegenseitigen Anfeindungen und Beleidigungen zwischen den Religionen
können daher nur auf Missverständnissen beruhen.
Gleichzeitig weisen die
interreligiös strittigen Fragen auch auf wunde Punkte innerhalb der Religionen
hin, die auch von den eigenen Anhängern oft nicht wirklich verstanden werden.
Wenn ein den Erkenntnismöglichkeiten
unserer Zeit entsprechendes Verständnis wachsen soll und wenn die Wunden, die
aus den Konflikten entstanden sind, heilen sollen, wird es nötig sein, sich mit
diesen strittigen Fragen zu beschäftigen – und zwar nicht in einem abwehrenden Sinn,
sondern gerade in der Bereitschaft, etwas vom anderen zu lernen, also durch die
Sicht des anderen die eigene Sicht erweitern und klären zu lassen.
Lassen Sie mich bitte
mit einem Beispiel aus dem Bereich Islam beginnen, weil es gleichzeitig auch die anderen Bereiche beleuchtet:
Kontroverse 1: Gemäß Koran
ist die Bibel verfälscht.
Der Heilige Koran sagt
– und das beleidigt sowohl Juden wie auch Christen – die Bibel enthalte
verfälschte Aussagen. Wie es zu dieser Behauptung kommt, mag die übliche islamische
Darstellung zeigen, dass Abraham nicht seinen Sohn Isaak, sondern seinen Sohn
Ismael hätte opfern sollen und dass das nicht auf dem Berg Moriah
(dem Tempelberg im heutigen Jerusalem), sondern nahe Mekka
geschehen sei.
Wie können derart
widersprüchliche Aussagen so verstanden werden, dass ihr sowohl Juden wie
Christen zustimmen können? Zunächst scheint das unmöglich.
Was ist die Bedeutung des Begriffs „Wahrheit“?
Das erste Hindernis des Verstehens wurzelt in einem Merkmal unserer Kultur
und unserer Zeit: Wir verstehen „Wahrheit“ nämlich ausschließlich in einem
wissenschaftlichen Sinn. Die Heiligen
Bücher der drei abrahamischen Religionen aber haben
ein ganz anderes
Verständnis von Wahrheit“.
Unser
gewohntes Verständnis von Wahrheit sagt uns, dass zwei einander widersprechende
Darstellungen nicht gleichzeitig wahr sein können, sondern dass zumindest eine
davon falsch sein muss. Aber die Autoren der Heiligen Schriften hatten kein
Problem damit, zwei einander direkt widersprechende Versionen der gleichen
Geschichte zu überliefern: Der Evangelist Matthäus beispielsweise lässt die
Abstammungslinie Jesu bei
Josef enden, aber nur zwei Zeilen später sagt er, Josef war nicht der Vater von
Jesus (Mt 1,16-18). Oder, am Anfang der Geschichte
vom Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer heißt es zunächst, ein starker
Wind habe das Wasser fortgeblasen und gleich anschließend sagt der biblische
Autor, das Wasser habe sich geteilt, als Moses seinen Stab ausstreckte (Ex
14,21).
Die Autoren der Heiligen
Schriften sind offenbar weniger an historischen Fakten interessiert als an der
Symbolik und damit an der Wirkung einer Geschichte auf den Leser oder Hörer. Die
Geschichte selbst ist noch nicht die Wahrheit, sondern sie ist nur das Vehikel,
das dazu dient, die Wahrheit hinter
der Geschichte zu übermitteln. Die Wahrheit der Geschichte ist erfolgreich
übermittelt, wenn ein Mensch durch die Geschichte die Kraft erfährt, die aus
seiner Beziehung zu seinem Schöpfer fließt, mit anderen Worten, wenn es
gelungen ist, dem Hörer eine Art mystischer Erfahrung zu vermitteln. Die Form
des Vehikels kann daher niemals ein Streitpunkt sein, weil sie vom Zuhörer
abhängt, denn ihn soll die Geschichte ansprechen; die mit der Geschichte
transportierte Wahrheit soll eine Chance haben, den Zuhörer zu verwandeln.
Die Intention hinter
der islamischen Aussage
Wenn Mohammed sagt,
die Bibel sei verfälscht, dann sagt er seinen Zuhörern damit, dass es nicht
ihre Schuld ist, wenn die Bibel sie möglicherweise kalt gelassen hat. Mohammed
nimmt ihnen damit zuerst ihre Angst und dann präsentiert er seinen Zuhörern seine
Version der Geschichte, die sie jetzt packen kann, weil sie echter, unmittelbarer
Kommunikation entspringt.
Weil er zu Arabern
spricht, erzählt Mohammed die biblischen Geschichten aus einer arabischen
Perspektive. Die Geschichten von Ismael und Isaak bieten die einzigartige
Chance, sein Volk von Anfang an in der Gründergestalt der Bibel zu verwurzeln. Wir
sehen, wie die nach islamischer Auffassung in Mohammed wirkende göttliche
Inspiration hier nicht nur die Bibel neu schreibt, sondern auch die Geschichte
der Araber. Heiler, Visionäre und Propheten aller Kulturen – und auch die
Autoren der Bibel – haben seit je her traditionelle Geschichten benützt und transformiert,
um ihren jetzt gegenwärtigen Zuhörern ein klares Netz von Koordinaten zu geben
zur Orientierung in einer verwirrenden Welt.
In ähnlicher Weise
hat einige Jahrhunderte später der christliche Historiograph Achard von Arrouaise die Geschichte der Tempelbergs neu erzählt. Er behauptete,
der Felsendom sei von einem byzantinischen Kaiser erbaut. Den Kalifen Abdel
Malik erwähnte er nicht. Damit konnte die während der Kreuzzugszeit großteils christliche Bevölkerung Jerusalems die
Heiligtümer des Tempelbergs als rein christlich betrachten und ungestört darin
beten („Where Heaven And
Earth Meet“, S. 136).
Die Araber der Zeit
Mohammeds konnten mit den Geschichten der Bibel nicht allzuviel
anfangen, weil sie nicht von ihnen, sondern von den Juden handeln. Also hat
Mohammed sie aus arabischer Perspektive neu erzählt. Damit wurden die biblischen
Geschichten zu Geschichten der Araber. Soll das verkehrt sein?
Aber natürlich
erscheinen die biblischen Originale dann, aus dieser
Perspektive, verfälscht.
Für die
damaligen Zuhörer gab es damit kein Problem. Das Problem entsteht erst für uns,
da wir beide Versionen nebeneinanderstellen und uns fragen, wer denn nun recht
hat. Doch wir können dieses Problem lösen, indem wir die Zuhörer einbeziehen.
Dann sind für die Juden die jüdischen Versionen wahr und für die Muslime sind
die muslimischen Versionen wahr. Wenn jeder bei sich bleibt, gibt es kein
Problem. Und wenn wir die Zuhörer einbeziehen, gibt es auch für uns kein Problem.
Die göttliche
Inspiration möchte den Zuhörer erleuchten
Bibel und Koran wirklich
zu verstehen, bedeutet also zu verstehen, was „Wahrheit“ für die Bibel und für
den Koran bedeutet. Mit anderen Worten, wir müssen die zentrale Bedeutung der Hörer
einer Botschaft verstehen. Dann sehen wir, dass etwas, das in einem Kontext als
„wahr“ gilt, in einem anderen Kontext falsch sein kann und umgekehrt – abhängig
von der Perspektive der Zuhörer.
In einem arabischen
Kontext muss Ismael der Rechtsnachfolger von Abraham sein, wie es im jüdischen
Kontext Isaak sein muss.
Das sind die Wirk-lichkeiten hinter der Bibel und hinter dem Koran.
In der Zeit und
Kultur des Mohammed haben die Geschichten der Bibel, besonders für eine arabische
Zuhörerschaft, deplatziert geklungen. Sie betrafen ein anderes Volk und dieses
exklusiv. Daran waren
die Araber nicht ausreichend interessiert. Deshalb erzählte sie Mohammed aus
arabischer Perspektive neu. Und aus dieser Perspektive erschienen die
biblischen Originale nun „verfälscht“ – obwohl sie natürlich für die Zuhörer,
für die sie ursprünglich gedacht waren, genau gepasst hatten. Veränderte
Bedingungen verändern eben auch die Möglichkeiten der Rezeption und so kann
etwas, das zunächst richtig war, für neue Zuhörer falsch sein.
Hat Mohammed die
Bibel nun verfälscht, indem er Versionen biblischer Geschichten erzählt hat,
die den mehr als eintausend Jahre älteren biblischen Originalen widersprechen? Aus
der Sicht der Zuhörer Mohammeds hat die göttliche Inspiration ihn dazu
veranlasst, das weithin bekannte biblische Material zu benützen und daraus neue
Originale zu formen.
Die Muslime sagen:
der Erzengel Gabriel hat sie dem Propheten Mohammed aus „der ewigen
Ur-Offenbarung“ übermittelt. Die ewige Ur-Offenbarung behauptet somit, die
Bibel sei verfälscht; mit diesem Anspruch bekommen die gegenwärtigen Zuhörer nun
ein wahres Original. Es wird ihnen nicht einfach eine traditionelle Geschichte
erzählt; sie werden in direkten Kontakt gebracht mit der Quelle der
Offenbarung. Und durch diesen unmittelbaren Kontakt können sie verwandelt
werden.
Auch viele
der biblischen Geschichten selbst, sowohl des Alten wie des Neuen Testaments sind auf
solche Weise entstanden. So werden auch die Widersprüche zwischen den
Evangelien verständlich. Der Blick auf die Zuhörer hat ihre Autoren inspiriert
und dadurch konnte den Zuhörern etwas geoffenbart werden.
Die Geschichten wurden
und werden erzählt, um eine Wahrheit zu übermitteln; sie selbst sind nicht die
Wahrheit. Sie sind nur Vehikel der Wahrheit. Im spirituellen Sinn ist Wahrheit
nicht eine Sache von Tatsachen oder von Logik. Die Wahrheit eröffnet sich vielmehr
in einer tiefen Einsicht, letztlich in der Erfahrung der Beziehung zwischen dem
konkreten Menschen und seinem Schöpfer. Solche Erfahrungen zu vermitteln, ist
das Ziel der Heiligen Schriften und ihrer Geschichten.
Das gilt auch von
einer anderen höchst
kontroversen Aussage des Koran:
Kontroverse 2: Laut Koran ist Jesus nicht am Kreuz gestorben
Der Koran
sagt, Jesus sei nicht am Kreuz gestorben. Rein logisch wird damit
die Basis
des Christentums geleugnet: Ohne den Tod Jesu auch keine Auferstehung – insgesamt
also eine gründliche Dekonstruktion der christlichen Religion.
Offenbar hat
Mohammed keine Christen getroffen, die ihm eine Auferstehungserfahrung vermitteln
hätten können. Jesus ist Mohammed nicht so erschienen, wie er Paulus erschienen
ist. Die grundlegende Botschaft
des Christentums hat den Propheten Mohammed nicht zu einer existentiellen
Erfahrung von Wahrheit geführt. Daher ist ihm diese Botschaft nicht als
geeignet erschienen, in seinen Zuhörern eine solche existentielle Erfahrung
hervorzurufen; er musste daher eine neue Heilsbotschaft verkünden. Er musste
der in seinen Augen nicht funktionierenden christlichen Religion eine neue
Religion entgegen setzen, deren Wahrheit von denen erfahren werden konnte, zu
denen er gesprochen hat. Der Mentalität seiner Zuhörer entsprechend musste auch
die Geschichte von Jesus selbst ein anderes Ende nehmen – und sie durfte noch keine
endgültige Lösung enthalten! Sie musste eine Fortsetzung ermöglichen, einen
neuen Propheten, Mohammed, und eine neue Lösung, den Islam.
Der Zuhörer ist
alles, was zählt
Wenn wir diese
Vorgänge beobachten, können wir erkennen, dass auch hier einer bestimmten
Zuhörerschaft geoffenbart wird, also Menschen, die zu einer bestimmten Zeit in
einer bestimmten Kultur leben, mit bestimmten Fragen und Nöten. Offenbarung ist
also niemals zeitlos. Genau diese Erkenntnis ist die Grundlage jeder fundierten
Exegese heiliger Schriften.
Dennoch kommt die Offenbarung
immer aus der zeitlosen Wirklichkeit des Menschseins. In einem Menschen, der seine
zeitlose Wirklichkeit erfahren kann, oder der, wie Jesus es sagte, in Kontakt
steht mit „dem Vater“, ist dieser Kanal geöffnet. Der Koran nennt diesen Kanal
„Erzengel Gabriel“, denn durch ihn kann „Gott“, also der ewige Ursprung, zu den
Menschen sprechen.
In heutigen Worten: Die
Fähigkeit, mit der zeitlosen Wirklichkeit in Kontakt zu treten, ist grundgelegt
in der „menschlichen Natur“. Unter bestimmte Bedingungen erlaubt die
menschliche Natur eine Öffnung des Kanals der Offenbarung.
Jede konkrete
Offenbarung aber, die durch diesen Kanal fließt, ist von den Lebensumständen
des konkreten Offenbarungsträgers abhängig und daher geformt vom Geist seiner
Zeit. Daher muss sie aus jeder neuen Zeit heraus von jemand, der in Verbindung mit
der zeitlosen Wirklichkeit steht, neu interpretiert werden.
Seit den Zeiten der heiligen Bücher hat sich vieles
geändert. Weltweit sind inzwischen Ideale in den Vordergrund getreten, die
damals eine wesentlich geringere Rolle spielten, wie beispielsweise der
wissenschaftliche Begriff von „Wahrheit“. Durch diese Werteverschiebung kommt
die Glaubwürdigkeit der Religion heute in Bedrängnis. Und wir stehen vor der
Frage, wie jetzt, nachdem die Relativität der Offenbarung offenbar geworden
ist, ihre ursprünglich intendierte Wirkung wieder eintreten kann.
Meines Erachtens ist
das nur möglich, wenn die Veränderungen in den Wertesystemen mit bedacht werden.
Auf diese Weise wird auch der Glaube der Menschen einen evolutionären Wandel
erfahren.
In unserer Zeit
können wir die Unterschiede besonders stark empfinden, weil enorm vieles ganz
anders geworden ist. Wie nie zuvor können wir die beiden Aspekte des Glaubens
unterscheiden: einmal den, der sich über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe
definiert; und den anderen Aspekt, unter dem Glaube, jenseits jeder
Gruppenidentifikation, zu einer persönlichen existentiellen Erfahrung wird. Und
wir können sehen, dass das der ursprünglich intendierte Aspekt ist, denn durch diese
Erfahrung tritt der Gläubige selbst in den Zustand der Offenbarung ein. Dadurch
kann er das allen Menschen gemeinsame Wunder sehen, nämlich die menschliche
Natur, wie sie sich von Natur aus beugt unter die Größe des Schöpfers. Dieses
sich Beugen wiederum ist die Grundlage für eine weitere wesentliche existentielle
Erfahrung, nämlich dass ein Mensch nicht
alles aus sich selbst heraus schaffen muss, sondern dass seine Energie,
Kreativität, Ausdauer usw. stets aus der nie versiegenden Fülle des Ewigen fließen.
Der Wert der eigenen
Tradition
Der natürliche Weg
zur Erfahrung dieser Fülle ist nach wie vor der Weg der eigenen Tradition.
Diese Tradition hat jetzt aber nicht mehr den Stellenwert, den sie vorher
hatte. Sie gilt nicht mehr fraglos, denn es geht ja gerade darum, die Inhalte
den veränderten Umständen entsprechend, neu zu verstehen.
Jemand, der diese
Bewusstheit erreicht hat, wird erkennen: Die Idee der Ausschließlichkeit, die
die Gruppenidentifikation kennzeichnet, hat die Gläubigen nicht zu der
Erfahrung geführt, die in der Offenbarung ursprünglich intendiert war – mit
anderen Worten, zur Offenbarung selbst – im Gegenteil, aus der Enge der alten
Exklusivität sind die Gräuel der Vergangenheit entstanden – und solange Mitglieder
irgendeiner Gruppe weiterhin „Glauben“ nur als Gruppenzugehörigkeit sehen, also
ein Gruppen-Ego entwickeln, das sich gegen andere Gruppen abgrenzt, wird es per
Definition Außenseiter geben und Hass und möglicherweise sogar schwere
feindliche Übergriffe. Es fehlt die existentielle, mystische Erfahrung, also
das Wesentliche jeden echten Glaubens. Übrig geblieben ist nur noch die
Einbindung in die Gruppe.
Aber obwohl auf dem hier
beschriebenen Weg zur mystischen Erfahrung die eigene Tradition nicht mehr
absolut und ausschließlich gilt, ist sie immer noch imstande, zu bewirken, dass
ein ehrlicher Suchender durch sie zur existentiellen Erfahrung geführt wird. – Und
sollte die eigene Tradition, weil sie irgendwie deformiert ist, nicht zu dem
ehrfurchtsgebietenden Bewusstwerden des Ganzen führen, dann gibt es die
Möglichkeit diese Erfahrung in anderen Traditionen zu finden. Das ist die
Erfahrung, die viele Konvertiten machen.
Die Relativität der
Traditionen zu sehen, vermindert die Fähigkeit des Suchers, den Zustand der
Offenbarung zu erreichen, also in keiner Weise – im Gegenteil, die Chancen, zur
mystischen Einheit zu finden, werden größer sein als diejenigen, die den
Gläubigen der Zeiten automatischer Gruppenidentifikation zur Verfügung standen.
Die Relativierung hat uns sogar bereichert, denn zusätzlich zum eigenen traditionellen
Weg zu wahrer spiritueller Erfahrung entdeckt der Sucher jetzt wahre Toleranz
und Respekt auch für alle anderen Wege zu Gott. – Und das wird nicht nur zum
Weltfrieden beitragen, sondern auch einen klareren Blick auf die eigene Tradition
ermöglichen – die ja einer Offenbarung entspringt, in der es eine Abwertung des
Echten auch fremder Traditionen niemals geben kann.
Um die Problematik
der Gruppenzugehörigkeit anzusprechen, aber ohne dies in der heute möglichen
Weise logisch abzuleiten, empfiehlt der Prophet Mohammed seinen Gläubigen im
Fall des Aufkommens religiöser Streitfragen einfach zu sagen: „Dir dein Glaube,
mir mein Glaube!“ und damit die Diskussion ohne Streit zu beenden. Dieser Rat
ist immer noch weise und gültig. Dennoch können wir heute, mit unseren
Voraussetzungen der wissenschaftlichen Betrachtung, einen Schritt weiter gehen
und die Widersprüche selbst ansprechen. Indem wir unsere Perspektive wechseln,
können wir diese Widersprüche verstehen, nicht als Gegensätze von wahr und
falsch, sondern als verursacht durch die Unterschiede von Kultur und Sozialisation.
Ein Beispiel aus dem
Christentum:
Kontroverse 3: Das
Christentum sieht Jesus als Sohn Gottes
Die Christen sagen –
und das beleidigt Juden wie Muslime – Jesus sei „der“ Messias und „der“ Sohn
Gottes.
Die Juden werden
beleidigt, weil ihnen damit gesagt wird, sie hätten den
Messias verschlafen und den Sohn Gottes nicht erkannt. Und darüber
hinaus wird ihnen sogar „Gottesmord“ vorgeworfen.
Die Muslime werden
beleidigt, weil für sie völlig undenkbar ist, dass Gott einen Sohn haben könnte.
Außerdem macht die christliche Vorstellung von der göttlichen Natur Jesu eine
spätere Offenbarung, wie die durch Mohammed, unmöglich, weil es doch nichts
geben kann, was über die Inkarnation Gottes hinausgeht.
Wie also könnte die
christliche Aussage von Jesus, dem Messias und Sohn Gottes, so verstanden
werden, dass sowohl Juden wie auch Muslime zustimmen könnten?
Jesus selbst gibt
eine Erklärung, der die Muslime voll zustimmen können. Das Evangelium des
Johannes (Joh 10,33-38) berichtet, Jesus habe in etwa
gesagt: Warum sollte ich mich nicht „Sohn Gottes“ nennen, wenn ich doch um
meinen göttlichen Ursprung weiß und wenn ich doch den Willen meines himmlischen
Vaters tue?
Diese Aussage entspricht
dem islamischen Verständnis eines jeden Boten Gottes genau. Aber diese Sicht
Jesu von sich selbst ist eine gute Wegstrecke entfernt von den späteren
dogmatischen Formulierungen über die Trinität. Um auch diese Formulierungen als
göttlich inspiriert zu verstehen, wie die Christen das tun, wird es hilfreich
sein, sich zu erinnern, was im vorherigen Abschnitt über Neufassungen alter
Geschichten gesagt worden ist, dass solche Geschichten, wenn sie in späteren
Schriften neu erzählt werden, immer an die veränderte Welt der neuen Zuhörer
angepasst werden müssen. In diesem Fall gehörten die neuen Zuhörer nicht arabischen
Stammeskulturen an, sondern der hellenistischen Welt des vierten und fünften Jahrhunderts
unserer Zeitrechnung.
Während in der Bibel noch
jeder Mensch ein Kind (also Sohn oder Tochter) Gottes ist, konnte es in der
Vielfalt des hellenistischen Götterhimmels eine Variante geben, in der ein
einziger Gott einen einzigen Sohn hat. Für Menschen, die in einer
hellenistischen Welt groß geworden waren, war es eben genau richtig, Jesus als
den einzigen Sohn Gottes zu sehen. Aber in unserer Zeit haben die
hellenistischen Definitionen nicht mehr ihre ursprüngliche Bedeutung. Und damit
eignen sie sich für manche nicht mehr als Wege zu der existentiellen Erfahrung,
von der Jesus wollte, dass jeder Einzelne von uns sie macht.
Selbst das Wort
„Vater“, das Jesus so wirksam benützt hat, wird in einer „vaterlosen
Gesellschaft“ nicht mehr entsprechend verstanden. Die alten Geschichten müssen daher
auch heute wieder, ähnlich wie Mohammed es für seine Zeit und Kultur getan hat,
ganz neu erzählt werden, damit sie wieder wirken können.
Zuletzt ein Beispiel
aus dem Judentum:
Kontroverse 4: War
Jesus eine historische Person?
Viele Juden lehnen
Jesus ab, indem sie ihn vollkommen ignorieren. Mit diesem Ignorieren aber
beleidigen sie nicht nur die Christen, sondern auch die Muslime, weil Jesus für
die Muslime neben Mohammed der größte Prophet ist.
Das tägliche Leben
hat Jesus gezeigt, dass die strikte Einhaltung des Gesetzes in vielen Fällen
nicht nur zu Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit führte, sondern auch zu
Ungerechtigkeiten. Jesus plädierte daher für den „Geist“ – im Gegensatz zum
„Buchstaben“ des Gesetzes. Damit allerdings öffnete er das Tor für die spätere
vollständige Abkehr vom Gesetz und die neue ethische Tradition des
Christentums.
Damit ermöglichte er
aber auch Nichtjuden, den Einsichten der jüdischen Patriarchen und Propheten zu
folgen. Dennoch konnten die Juden diese Relativierung ihres Gesetzes nicht dulden.
Es hätte ihre Existenz als „Gottes erwähltes Volk“ in Frage gestellt. Es war
für sie daher notwendig, am Buchstaben des Gesetzes festzuhalten. Auf diese
Weise konnten sie ihre religiöse und kulturelle Identität bis heute bewahren. –
Aber natürlich mussten sie den Preis dafür bezahlen: Sie mussten einen der
größten ihrer Söhne aus ihrem kollektiven Gedächtnis löschen.
Das können Christen
und Muslime heute verstehen. Toleranz bedeutet für sie daher nicht die Zähne
zusammenbeißen und das nicht Akzeptable zu akzeptieren, sondern die Existenzbedrohung
zu sehen, die Jesus für die Juden als Volk bedeutete. Sie können daher das
Beharren der Juden auf ihrer Sicht akzeptieren – und ebenso auch ihre Reaktion
auf Jesus und die neue Bewegung, die von ihm ausging. Denn das ist die Wahrheit
aus der Perspektive der Juden.
Schluss
Auf diese Weise können
die am stärksten kontroversiellen Konfliktpunkte zwischen
den Abrahamiten verstanden und geklärt werden. Es
wird, hoffentlich, deutlich geworden sein, dass es nur unterschiedliche Aspekte
ein und desselben Gegenstands sind. Und es wird, hoffentlich, auch klar
geworden sein, dass sich diese Unterschiede nicht eliminieren lassen, weil in
einer mehrdimensionalen Welt die gleichen Dinge von verschiedenen Standpunkten
aus jeweils anders aussehen. Es sollte darüber hinaus aber auch klar geworden
sein, dass nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit die Perspektiven verändert
und Anpassungen nötig macht.
Und ich hoffe, dass
Sie, als Leser von heute, auch sehen werden, dass sich der Islam in unserer
Zeit den Wissenschaften voll öffnen wird müssen und auch für deren Zug, alles
und jedes in Beziehung zu setzen, es also zu relativieren. Das Christentum muss
sich unter dem gleichen Anspruch für eine Terminologie öffnen, die nicht mehr
an die Weltsicht des Hellenismus gekoppelt ist. Ob und wie weit auch im
heutigen Judentum eine geistesgeschichtliche Trägheit wirkt, müssen die Juden
selbst entscheiden.
Dann aber steht
gegenseitiger Anerkennung, gegenseitigem Respekt und einem friedlichen Zusammenleben
nichts mehr im Wege.