Glaube als Verhängnis und als Chance
Vortrag am 27. 11. 2004 beim DGPPN Kongress
2004 in Berlin
Das Folgende ist weniger ein
wissenschaftlicher Bericht als ein Appell in Form einer Beschreibung meiner
Erfahrung mit Spiritualität in meiner Arbeit mit psychisch kranken Menschen.
Zur Bedeutung des „Glaubens“ im Leben
Psychiatrische
Phänomene sind Oszillationen des Zusammenwirkens der menschlichen Natur mit dem
konkreten Körper samt seinen Erbanlagen, der Gesellschaft, sowie persönlichen
Annahmen und Haltungen. Nur die Annahmen und Haltungen unterliegen der
Kontrolle des Patienten.
Aus
diesem Grund haben die Menschen bereits Jahrtausende vor der Entdeckung der
kognitiven Therapie nach einem „Glauben“ gesucht, also nach Sets von Annahmen
und Haltungen, die eine heilende Wirkung haben. Eine menschliche Fähigkeit,
nämlich die Spiritualität, hat ihnen den Weg gezeigt. Aus dieser Erfahrung sind
die Religionen entstanden, durch die der gefundene Erfahrungsschatz an die
nachfolgenden Generationen überliefert wurde.
Religion
entspringt immer einer Not. Die Not bringt die Menschen dazu, ihre gewohnte,
eingeengte, persönliche Perspektive zu verlassen, in der alles ausweglos
erscheint, und eine höhere Perspektive einzunehmen. Auf diese Weise entdecken
die Not leidenden Menschen die Perspektive, die am besten wirkt. Es ist die
alle und alles einschließende Perspektive des Ganzen. Genau betrachtet, ist es
die Perspektive der schöpferischen Kraft. Die Welt aus dieser Perspektive zu
betrachten, öffnet den Horizont und lässt einen frischen, kreativen Geist
herein, den Geist der Lösung. In diesem Geist wird alles klar. Indem sie das
Ganze und damit auch die anderen in ihrer Ganzheit einbeziehen, sehen die
Menschen, was sie tun müssen, damit sie gerettet werden.
Das
klassische Beispiel einer spirituellen Lösung in unserem Kulturbereich ist die
Befreiung der Israeliten aus Ägypten. Die versklavten Israeliten haben die
Perspektive des Schöpfers eingenommen, in der es keinen Grund gibt, warum sie
Sklaven sein sollten. Diese Perspektive hat ihnen auch einen konkreten Weg
gezeigt. Weil sie dadurch frei geworden sind, stellen sie ein archetypisches
Beispiel dar für den gesamten Prozess der Befreiung von der ersten Erleuchtung
über die Überwindung der verhängnisvollen Urteile und Anschauungen der
Vergangenheit hin dazu, sich ganz von dem umfassenden, evolutionären,
schöpferischen Geist leiten zu lassen.
Glaube als Verhängnis
Eine sich verfestigende Religion
In
der Folge verselbständigen sich die auf diese Weise gefundenen Wege und Regeln
aber oft – unter Umständen so sehr, dass die so verformte Religion selbst zum
Gefängnis wird. Das Unbedingte, für das Religion steht, wird dann zum Zwang,
und macht viele krank.
Falls
wir zufällig in eine solche Version der Religion hineingeboren worden sind,
finden wir uns selbst in einem inneren Widerspruch: Einerseits ist da eine
positive, rettende Kraft, so wird es uns wenigstens gesagt; auf der anderen
Seite aber verlangt diese Kraft mehr, als wir zu leisten imstande sind. Wenn
das der Fall ist, sind wir nicht mehr frei, dann sind wir Sklaven einer Macht,
die uns mehr nimmt, als sie uns gibt. Wegen des Stellenwerts der Autorität, mit
der die Religion verkündet wird, fällt es uns aber schwer, uns dieses
Ungleichgewichts bewusst zu werden. Wir rechnen unser Unvermögen allein unserer
eigenen Schuld zu und es ist uns fast unmöglich, etwas an unserer Sicht zu
verändern, weil jeder Zweifel schon wieder neue Schuld erzeugt.
Bei
Menschen, die diesen Konflikt nicht bewältigen, kann es zu schweren Störungen
kommen von Zwang und Angst, über Depression zur Manie und der Konflikt kann
auch in schizophrene Wahnvorstellungen münden.
Diese
Fehlwege gilt es umzukehren, zunächst sicher medikamentös, sobald dies möglich
ist, aber auch durch eine Anknüpfung an die spirituellen Quellen des Wahns.
Damit meine ich, dass die Patienten den ursprünglichen Sinn sowohl der
Glaubenssätze, die ihnen zum Verhängnis geworden sind, als auch der Wahnideen,
die sie aus diesem Verhängnis zunächst befreit haben, erleben müssen, damit sie
sich von pervertierten Vorstellungen lösen können.
Es
geht um Heilung von der Wurzel her.
Der
Grund für den Wahn liegt, wie gesagt, oft in einer Überforderung, durch die die
Vulnerabilitätsschwelle überschritten wird. Damit will ich sagen, dass eine
Krankheit nicht ausschließlich durch eine genetisch herabgesetzte
Vulnerabilitätsschwelle bedingt sein muss. Sie kann auch dadurch entstehen,
dass die von außen wirkende psychische Programmierung des menschlichen
Betriebssystems die physischen Kräfte der menschlichen Natur aufzehrt. Das hat
seinen Grund oft darin, dass die Menschen, von denen diese äußere
Programmierung stammt, den Kontakt zu ihrer spirituellen Quelle zumindest
partiell verloren haben, dass sie zumindest partiell unfähig sind, sich einzufühlen.
Quelle ihres „Wissens“ wird damit eine für sie nicht hinterfragbare Tradition,
an die sie sich zwanghaft gebunden fühlen. Sie müssen deren Forderungen daher
autoritativ an ihre Kinder weitergeben, und sie sind nicht imstande, die
Konflikte zu bedenken, die für diese daraus entstehen.
Einige Beispiele verhängnisvollen Glaubens
Zur
Illustration einige Beispiele aus meiner Erfahrung von „Glauben“ als Gefängnis
aufgrund nicht mehr verstandener Spiritualität:
Eine
junge Frau, Kind einer Zeugen Jehova Familie, ist aufgewachsen mit der Annahme,
dass Sex nur in der Ehe erlaubt ist. Sie kann aber ihre sexuelle Phantasie
nicht zügeln und gerät dadurch derart in Schuldgefühle, dass sie eines Tages
glaubt, sie müsse sich selbst bestrafen. Sie schüttet sich den Inhalt eines
großen Gefäßes mit kochendem Wasser über die Beine. Besonders die Füße sind
extrem verbrüht. Es bleibt eine Gehbehinderung.
Ein
junger Mann, ebenfalls aus einer Zeugen Jehova Familie, kommt aus dem gleichen
Grund so sehr in Bedrängnis, dass er sich selbst entmannt und daran verblutet.
Ein
Mann aus einer katholischen Familie wurde als Kind von seiner Mutter des
Öfteren gezwungen, Rosenkranz zu beten, während seine Freunde draußen
herumtollen durften. Als Erwachsener kommt er in periodischen Abständen in die
Lage, dass er nicht mehr imstande ist, sein Haus zu verlassen und dass er auch
zu keinerlei Körperpflege mehr fähig ist. Solche Phasen des Zwangs zur
Vernachlässigung von allem ziehen sich manchmal über mehr als ein Jahr hin.
Während dieser Zeit kann er keine Besuche empfangen und jedes Gespräch über
seine Situation bereitet ihm derartige Kopfschmerzen, dass er es nach kürzester
Zeit abbrechen muss.
Wieder
eine andere Frau stammt aus einer nichtreligiösen Familie. Sie ist so sehr
gefangen von dem Phänomen ihres Verliebtseins, dass
sie dadurch vollkommen lebensuntüchtig wird. Beim geringsten Verdacht, dass
jemand ihre Prämisse nicht voll unterstützt, dass diejenigen, in die sie sich
verliebt (und das sind meistens Ärzte und Psychologen), auf ihre Verliebtheit
positiv reagieren müssen, weil sie doch „Liebe“ fühlt, bricht sie das Gespräch
ab. Sie ist so gefangen in ihrem Glaubenssystem, dass sie die professionelle
Zuwendung als „Liebe“ deutet – und todunglücklich ist, wenn dann nicht mehr
daraus wird.
Von
diesen und anderen Menschen habe ich gelernt, dass ein Zugang nur möglich ist
mit einer spirituellen Einstellung. Immer wenn ich Dinge erreichen wollte,
erreichte ich gar nichts. Ich musste mir eingestehen, dass ich vom spirituellen
Weg abgewichen bin, weil eine Idee meinen Geist okkupierte, und ich daher nicht
sehen konnte, was wirklich da ist.
Die Alternative zum Verhängnis: Neu sehen
Ohne
Konzepte nur zu sehen, was da ist, ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass
dem Beobachter auch Einfluss eingeräumt wird. Die Haltung des nicht
Urteilens ist die Grundlage jeder Kommunikation. Es ist auch die
Grundhaltung der Spiritualität. In dieser Haltung verbindet sich das
Bewusstsein eines Individuums von selbst mit der menschlichen Natur und darin
mit der Menschheit und sogar mit dem All als Ganzem und vom Ganzen her zurück
in die konkrete Lebenssituation.
Indem
wir dem Kranken in dieser Haltung begegnen, wird dieser sich ebenso auf diese
Haltung einlassen und er wird mit uns die Perspektive der schöpferischen Kraft
einnehmen. Dadurch wird es ihm gelingen, einen umfassenden Blick auf die eigene
Realität zu werfen – und das Wahnhafte seines Wahns zu sehen. Auf diese Weise öffnet
sich ein neuer Weg, ein Weg zu einer fruchtbaren Entfaltung der eigenen
Fähigkeiten. Und es besteht eine gute Chance, dass dieser Weg auch begangen
werden kann, denn die neu gefundene innere Einstellung samt ihren Konsequenzen fließt
ein in den inneren Dialog des Patienten und verändert damit seine weiteren
Aussichten.
Wenn es normal ist, verrückt zu werden
Was
in vielen Fällen zur Erkrankung führt, sind im Lauf des Heranwachsens einprogrammierte,
religiöse motivierte Strafängste oder Befehle, die der Natur zuwiderlaufen
und daher eine Überforderung darstellen – und deren Nichterfüllung die
Lebensberechtigung entzieht. Das ist die ausweglos entwertende Situation, in
der sich viele psychisch Kranke befinden. Diese Situation hat sie von Anfang an
krank gemacht.
Im
Fall derart widersprüchlicher Direktiven wird die zur Verfügung stehende Kraft
isometrisch aufgebraucht, bis nichts davon übrig ist. Dadurch wird die Vulnerabilitätsschwelle
überschritten. In dieser Lage ist es daher völlig normal, verrückt zu
werden. Jeder würde da verrückt werden. Das sage ich den Patienten an diesem
Punkt. Krankheit ist eine gesunde Reaktion, wenn fixe Ideen der Natur den Weg
versperren.
Ein
Mensch wird nicht unbedingt deshalb zum Patienten, weil er an einer angeborenen
Schwäche leidet, er kann auch deshalb zum Patienten werden, weil die Annahmen,
die ihm eingeprägt wurden, für ihn keinen anderen Ausweg offen lassen. Wären
wir gleich programmiert, würde es uns nicht anders ergehen. Das muss uns klar
sein, denn es ist die Realität. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass
es purer Zufall ist, dass wir auf dieser Seite und der Patient auf der anderen
Seite stehen. Die Rollen könnten genauso gut vertauscht sein.
Die Grundhaltung der Spiritualität
Jede
echte spirituelle Erfahrung zeigt uns, wie anfällig wir selbst sind
und dass es nicht den geringsten Grund für uns gibt, uns als etwas Besseres zu
sehen oder abwertend über einen anderen Menschen zu denken.
Spiritualität
besteht darin, dem Patienten in dieser Haltung der Offenheit gegenüberzutreten,
und damit auch das zu akzeptieren, was sonst nicht akzeptiert wird,
einfach aus Respekt der Wirklichkeit gegenüber. Das ermöglicht es dem
Patienten, sich uns in seiner ganzen Wahrheit zu zeigen und nichts zu
verbergen. Dadurch entsteht eine effektive Kommunikation und erstarrte
Strukturen beginnen, durchlässig zu werden, wieder einbezogen zu werden in die
große Kommunikation. „Spiritualität“ ist nur ein anderes Wort für diese
große Kommunikation, an der wir nur dann bewusst teilhaben können, wenn
wir selbst die Dinge aus der Perspektive des Ganzen sehen.
Spiritualität
als Heilung
In
diesem Bewusstsein können wir den Patienten helfen, die Widersprüche ihres
Lebens zu klären. Nur in diesem Bewusstsein sind wir fähig, sie in die dazu
nötigen spirituellen Erfahrungen zu führen.
Die
erste der spirituellen Erfahrungen, in die wir die Patienten führen müssen, ist
die, dass sie sehen, dass ihre Schwäche normal ist. Das muss der Patient / die
Patientin sozusagen „mit Haut und Haaren“ erfahren. Die ehrlich gemeinte und
gleichzeitig absolut fundierte Botschaft „Du bist o.k.“ bildet die Grundlage
alles Weiteren.
Es
wird nicht reichen, dass wir das halt so sagen, weil wir nett, zuvorkommend,
höflich oder sonst wie moralisch gut oder therapeutisch korrekt sind. Alles was
nicht aus einer unmittelbaren Erfahrung kommt, wird der Patient als Lüge
durchschauen und was immer wir dann sagen, es wird nicht ankommen, der Patient
wird sich betrogen fühlen.
–
Ich bitte Sie, zu entschuldigen, dass ich hier und auch im Folgenden der
Einfachheit halber nur „der“ Patient sage, anstatt
immer beide Geschlechter anzuführen. –
Der Patient – Zentrum des Universums
Nachdem
unser „Du bist o.k.“ den Lügendetektortest des Patienten bestanden hat und
angekommen ist, ist der nächste Schritt in unserem spirituellen Umgang mit dem
Patienten, dass wir ihm die Erfahrung vermitteln, dass er das Zentrum der Welt
ist, das Wichtigste, das es gibt auf der Welt – religiös ausgedrückt, dass er eine
echte „Tochter“, ein echter „Sohn“ der gewaltigen Kraft ist, die das ganze
Universum hervorgebracht hat.
Versetzen
Sie sich bitte in dieses Bild hinein, verehrte Leser!
Welche Manie kann das überbieten?
Welche
Depression kann dieser Kraft widerstehen?
Welche
Angst wird hier nicht weichen?
Welchen
Zwang könnte es da noch geben?
Welcher
Wahn würde nicht dieser herrlichen Wirklichkeit Platz machen wollen?
Diese
spirituelle Sicht eröffnet sich durch ein Bemühen um eine Perspektive des
Ganzen.
Das
Bemühen muss zunächst auf Seiten des Therapeuten oder Seelsorgers lasten, der
dem Patienten folgt in dessen konkrete Realität und zwar sowohl in die
physische wie auch in die psychische Realität.
Als
eine Konsequenz unserer spirituellen Sicht werden wir den Patienten zu 100%
ernst nehmen. Das bedeutet natürlich, auch seine Schwächen zu sehen, aber
eben aus jener übergeordneten Perspektive, aus der wirkliches Verstehen kommt.
Weil
sich der Patient ernst genommen fühlt, wird er sich auf diese
Auseinandersetzung mit uns einlassen.
Und
er wird beginnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Durch seinen neuen
inneren Dialog wird er sich eine neue Wirklichkeit erschaffen.
Wenn
dies gelingt, ist es für uns wichtig, uns nichts darauf einzubilden und
außerdem stets zu bedenken, dass wir nicht allmächtig sind. Wir können nicht
tief eingeprägte Strukturen innerhalb von Minuten dauerhaft verändern. Erinnern
Sie sich an die lange archetypische Reise der Israeliten durch Sinai. Wir
müssen daher damit rechnen, dass der Prozess der Veränderung Jahre dauern
wird, dass wir daher nur einen Grundstock legen können für eine allmählich
sich bleibend verändernde Sicht der Welt und des Lebens. Wir sollten auch
bedenken, dass wir nicht die einzigen Einflussquellen sind, dass durch die
alten Kontakte die alte Sicht wiederkehren wird und dass die neue Sicht
zunächst nur gelegentlich und zaghaft auftauchen wird, oft eher als etwas
zusätzlich Verwirrendes als eine wirkliche Lösung. Aber indem wir immer wieder
vorsichtig anknüpfen, wird möglich werden, was auf diesem Weg überhaupt möglich
ist.
Medikamente
werden sich nur in den seltensten Fällen vermeiden lassen, ja sie sind meistens
die Voraussetzung dafür, dass ein Gespräch überhaupt möglich ist, denn wenn
jemand tief in einer akuten Psychose steckt, hat er sich aus guten Gründen aus
der Kommunikation ausgeklinkt.
Ich bilde mir auch nicht ein, dass es möglich wäre,
jemand, der Stimmen hört, durch Gespräche davon abzubringen – vielleicht aber
ist es möglich, dass diese Stimmen mit der Zeit verstehbar werden, als
Einflüsse, die da sind und die ihren Grund haben und ihre Quelle. Und
vielleicht kann es irgendwann eine Zeit geben, in der diese Einflüsse nicht
mehr auf diese Weise wirken müssen, weil der Patient die Zusammenhänge
sehen gelernt hat.
Warum glaubt jemand, Jesus zu sein?
Nehmen
wir als ein anderes Beispiel, den Zwang mancher Maniker, sich als Jesus sehen
zu müssen, in einem religiösen Wahn: Warum geschieht das?
Jesus
zu sein, ist ein Ausweg. Jesus war ein Außenseiter, wie der Patient
auch. Er war so sehr ein Außenseiter, dass die maßgeblichen Leute schließlich
fanden, er wäre besser nicht da, wie maßgebliche Leute auch von Patienten
manchmal meinen, sie wären besser nicht da. Aber Jesus weiß es besser als sie,
wie diese Patienten es auch besser wissen.
Die
Patienten spüren die Einstellung mancher maßgeblicher Personen, die finden,
dass sie besser nicht da wären, und das ist für sie klarerweise eine
außerordentlich kränkende Schlüsselerfahrung. Unser Umgang muss ihnen daher
einen verlässlichen Anhaltspunkt dafür geben, dass ihre Lebensberechtigung außer
Frage steht, und darüber hinaus, dass es korrekt ist, wenn sie sich selbst als
das Wichtigste erachten, das es gibt auf der Welt – schließlich sind sie aus
spiritueller Perspektive tatsächlich eine göttliche Erscheinung, so wie alle
anderen Menschen auch.
Von der Erfahrung des Ungenügens - zur Erfüllung der Träume
Die
Erfahrung, den gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden zu
können, ist eine wesentliche Quelle psychiatrischer und anderer Störungen,
weil die Vulnerabilität auf diesem Gebiet sehr hoch ist, schließlich geht es um
die Existenz.
In
der spirituellen Arbeit werden wir die sozialen Anforderungen aber auf
keinen Fall ausblenden, denn die Welt der Gesellschaft ist das Gebiet, in
dem sie sich zurechtfinden müssen. Wir werden diese Anforderungen daher ganz
klar sichtbar machen, damit aus der Perspektive des Ganzen jetzt ein neuer
Weg gefunden werden kann, mit ihnen umzugehen. Dafür muss der Patient
zunächst seine Unfähigkeit, den sozialen Ansprüchen gerecht zu werden, wirklich
fühlen. Er muss den ungefilterten Anblick seines Ungenügens eine Weile
aushalten und wirklich registrieren, damit sich ein neuer, tauglicher Weg
auftun kann. Es braucht die erlebte Hilflosigkeit einschließlich einer
Mitteilung des Eingeständnisses dieser Hilflosigkeit, damit die Bereitschaft
entsteht für eine vertrauensvolle Hinwendung zu der Kraft des Ganzen und für
eine grundlegende Wende im Leben. Aus diesem Grund habe ich manche
Patienten, die mir durch eine besonders starke Anspruchshaltung aufgefallen
waren, sogar gebeten, sich vorzustellen, dass sie in einer naturnahen
Gesellschaft leben, in der Menschen, die nicht für sich selbst sorgen können,
einfach in der Wildnis ausgesetzt werden: Wie würden sie ihre Situation dann
betrachten?
Sobald
die raue Wirklichkeit in den Blick gekommen ist – wenn der Patient diesem
Anblick allerdings noch nicht standhalten kann, schon davor – sorge ich dafür,
dass sich der Blick von den sozialen Anforderungen wieder abwendet hin zu den
Fähigkeiten des Patienten und zu seinen Träumen. Mit den „Träumen“ meine ich
nicht die in der Psychoanalyse benützten nächtlichen Träume, sondern die Bilder
der Sehnsucht des Patienten nach seinem ganz persönlichen Paradies. Nur in
Verbindung mit dem Ausblick, den diese Träume eröffnen, kann der Patient einen
realen Weg für sich entdecken.
Im
Unterschied zu einem Größenwahn hebt die wirkliche Sehnsucht nicht vom Boden
ab. Sie bezieht sich immer auf einen Dienst am Ganzen, auf eine Aufgabe,
einen Sinn für das Ganze. Die Träume zeigen die Ressourcen dazu
und sie wirken selbst als Kraftquellen. Eine zur Erfüllung eines Traumes
notwendige Anstrengung erscheint deshalb nicht einmal halb so schwer als die
gleiche Anstrengung auf einem Weg, der von außen diktiert wird. Auf dem Weg der
Sehnsucht geht es praktisch von selbst, wie beim Laufen Lernen, wo auch die
Schmerzen des Hinfallens ganz selbstverständlich dazu gehören – im Gegensatz
beispielsweise zu den Mühen und Schmerzen auf dem Weg einer Berufsausbildung,
die die besonderen Fähigkeiten des Patienten gar nicht berücksichtigt.
Bei den sehnsuchtsvollen Träumen werden wir uns
daher eine Weile aufhalten, sie ganz genau betrachten, sie ausmalen, ja
sogar ein wenig darin schwelgen, denn diese Träume sind flüchtig und sie müssen
ganz bewusst wahrgenommen und auch ausgesprochen werden, damit sie sich
klären können.
Dann
gehen wir von den Träumen wieder zurück in die konkrete Situation des
Patienten.
Was
von den Träumen kann jetzt gleich umgesetzt werden?
Und
wie kann der Weg zur weiteren Erfüllung der Träume vorbereitet werden?
Konkret
heißt das vielleicht auch, welcher Beruf kann angestrebt werden oder welche
Berufsvorbereitung? Oder in welcher Weise kann sonst das Leben verbessert
werden?
Der Wendepunkt zur Genesung
Sobald
ein Patient einen begehbaren Weg zu seinem Traum sehen kann, ist
der Wahn im Prinzip schon nicht mehr notwendig. Er wird
wahrscheinlich aber trotzdem wiederkehren, weil der Weg erst langsam
vorbereitet und angegangen werden muss. Und währenddessen entschwindet der
Traum allzu leicht und die alte Aussichtslosigkeit kehrt zurück und mit ihr der
Wahn, der ja einen realen Ausweg darstellt, wenn es sonst keinen Weg gibt.
Wir
dürfen nie vergessen, dass die Krankheit eine reale Lösung ist. Durch
die Krankheit ist es möglich, das Risiko des Scheiterns quasi auszuschalten.
Denn dann geht es einfach nicht. Der Patient kann nichts dafür. Er ist ja
krank.
Darin
besteht gerade der Teufelskreis, den wir durchbrechen möchten.
Der
nächste Schritt wird sein, konkrete Versagensängste zu bearbeiten und
dann auf dem weiteren Weg, konkretes Versagen, das ja mit Sicherheit kommen
wird, sobald die Arbeit an der Verwirklichung begonnen hat.
Wir
werden dort anfangen, wo der Lebensweg damals ins Stocken geraten ist oder
davor, eben dort, wo das erste Versagen aufgetreten ist, durch den der
Anschluss an die normale Entwicklung versäumt worden ist.
Diesen
Anschluss gilt es zu finden – weniger durch Erinnerung an damals als durch
Feststellen, was es braucht, um jetzt weiterzukommen.
Von
dort aus ist es ein vergleichsweise normaler Weg, auf dem der Patient zwar
schon noch Unterstützung braucht, eine Art spirituelles Coaching, auf
dem wir aber mehr und mehr entbehrlich werden.
Teil
2:
Glaube als Chance
Die eigene spirituelle Praxis des Patienten
Eine
weitere Unterstützung, die der Patient auf dem spirituellen Weg braucht, ist
seine eigene spirituelle Praxis. Wir können sie nicht für ihn erledigen.
Sobald er mit unserer Hilfe den Glauben bzw. die Spiritualität als Chance
wahrgenommen hat, muss er sich selbständig darum bemühen, sein Leben darauf zu
gründen. Dazu braucht er, falls er nicht ein verschworener Einzelkämpfer ist, eine
Gruppe Gleichgesinnter, am besten eine Gruppe ehemals psychisch Kranker,
die, wie er selbst, wieder ganz gesund werden wollen.
Der Prototyp einer spirituellen Selbsthilfegruppe: Die Anonymen
Alkoholiker
Für
die Anonymen Alkoholiker war das Leben ein Zwang, dem sie durch
Alkohol entfliehen mussten, von dem sie daraufhin abhängig wurden.
Am
Ende ihrer endlosen Niederlagen im Kampf gegen den Alkohol gab es nur
einen winzigen letzten Funken Hoffnung: Sie selbst konnten es nicht schaffen,
das war aus tausenden misslungenen Versuchen klar. Wenn es geschafft werden
konnte, dann nur noch durch diese „höhere Kraft“, von der gesagt wird,
dass sie helfen soll, die aber für einen Menschen an diesem Punkt zunächst nur
fiktiv ist ...
Es
ist ein Risiko, sich auf diese fiktive Kraft einzulassen. Vielleicht
sind die Geschichten über die wunderbare Hilfe, die Menschen von dieser Kraft
zuteil geworden ist, ja nur erfunden. Es gibt keine Garantie.
Aber
diese Leute hatten nichts zu verlieren, sie waren daher frei, dieses Risiko auf
sich zu nehmen. Sie konnten nur gewinnen. Sie setzten auf diese höhere Kraft.
Die
Anonymen Alkoholiker haben auf diese Weise erkannt, dass diese Kraft real
ist. Sie haben aber auch erkannt, dass sie verlangt, das eigenen Leben
tatsächlich in Ordnung zu bringen, es in Übereinstimmung zu bringen mit
dem großen Ganzen, mit der Familie, mit dem Bekanntenkreis und mit der
Gesellschaft als ganzer, und dabei gleichzeitig, seiner eigenen Natur treu zu
bleiben.
Um
das zu schaffen, das haben sie bemerkt, müssen sie Regeln folgen. Sie haben
eine Reihe von regelmäßigen Übungen entwickelt, die sogenannten „12
Schritte“, durch die sie ihr Leben in Ordnung bringen. Durch diese Übungen
lernen sie sich selbst kennen und das Wesentliche in ihnen gewinnt wieder die
Oberhand. Die Herrschaft von inneren Tyrannen (in religiöser Sprache von
„Dämonen“) geht zu Ende. Unter der Perspektive des Ganzen übernimmt die
eigene Natur die Führung und entwickelt die eigene Persönlichkeit
entsprechend ihren Anlagen.
Um
das zu ermöglichen, treffen sich diejenigen, die diesen Weg gehen, regelmäßig
und erzählen von ihren Erfahrungen auf dem Weg.
Das,
meine ich, ist eine sehr wichtige Institution, die auch psychisch Kranke
brauchen. Dazu gehört auch etwas, das die Anonymen Alkoholiker „Sponsoring“
nennen, nämlich eine Art spiritueller Supervision für die Mitglieder dieser
Gruppen, am besten in Form einer Betreuung durch solche, die den Prozess
bereits bis zu ihrer Genesung durchschritten haben, in jedem Fall aber durch
jemand, der selbst einen spirituellen Weg geht.
Die
„höhere Kraft“, der die Anonymen Alkoholiker ihre Rettung verdanken, kann auch
andere retten. Indem sie ihr vertrauen, können auch andere entdecken, dass die
Kraft jener unglaublichen Evolution, die sie ins Leben gerufen hat, jetzt in
ihnen gegenwärtig und einsatzbereit ist.
Diese
„höhere Kraft“ hat uns hervorgebracht und sie „will“ nichts als
unsere Evolution, also dass es uns gut geht; und sie unterstützt uns –
sobald wir anfangen, positiv mitzuarbeiten.
Positiv
mitarbeiten heißt, unser Leben aus ihrer Perspektive zu betrachten und zu
ordnen. Alles Überflüssige und Störende hinauszuwerfen, uns zu
konzentrieren auf uns selbst.
Das
bedeutet aber auch, auch die anderen ernst zu nehmen, die den gleichen Ursprung
haben, und die genauso gern gut leben möchten.
Es
bedeutet schließlich, den Ärger abzulegen und alle Gründe, warum wir
böse oder beleidigt sein sollten, und alle unsere Kraft einzusetzen, damit
alles gut wird.
Mit
diesem Entschluss beginnen – logischerweise – Wunder, sich zu ereignen.
So
in etwa sehe ich die Möglichkeiten, Spiritualität in der Psychiatrie
einzusetzen.
Natürlich
erhebe ich nicht den Anspruch alle psychiatrischen Erkrankungen durch
Spiritualität meistern zu wollen. Es geht mir aber um die Herstellung optimaler
geistiger Bedingungen, damit sich der Organismus so gut wie möglich erholen und
sich seiner Selbstheilungskräfte bedienen kann. Für den Rest sind die Mediziner
zuständig.
Compliance
– und ein wenig Theorie
Zuletzt
möchte ich ein weiteres Problem der Psychiatrie ansprechen, bei dem
Spiritualität helfen kann, nämlich die oft ungenügende Krankheitseinsicht
und Mitarbeit von Seiten der Patienten.
In
meiner Erfahrung liegt ein wichtiger Grund dafür darin, dass sich die
Patienten nicht wirklich ernst genommen fühlen und daher ihre Mitarbeit
verweigern. Dieser Grund muss ausgeschaltet werden und das ist nur möglich,
wenn der Patienten zu 100% ernst genommen wird, denn ein Mensch – jeder Mensch
– kann uns nur unter dieser Bedingung Zugang zu sich gewähren.
Als
Konsequenz bedeutet spirituelle Behandlung für mich daher auch das ernst
Nehmen des Wahns.
Der Wahn als normales
Phänomen im Prozess der Anpassung des menschlichen Betriebssystems
Es
erscheint mir essentiell, den zweifachen positiven Sinn des Wahns zu sehen.
Sein erster Sinn ist seine rettende Funktion, wenn der Druck auf den
betroffenen Menschen zu groß wird. Er befreit ihn von jeder
Verantwortung. Noch wichtiger aber und für seine Heilung entscheidend ist es,
den Wahn als symbolischen Code zu sehen für ein Stadium im Prozess der
Lösung der Rätsel des Lebens. Die real vorhandenen Kräftekonstellationen haben
den Patienten vor ein komplexes Problem gestellt, das wie ein Rätsel der
Sphinx gelöst werden muss. Erst wenn das eine Rätsel gelöst ist, geht der Weg
weiter zur nächsten Entwicklungsstufe und damit zum nächsten Rätsel auf dem
Weg der gesamtmenschlichen und damit auch spirituellen Entwicklung des
betroffenen Menschen.
Auch
im Normalfall tragen die Stadien, die ein Mensch zu seiner
persönlichen Reifung durchschreiten muss, oft wahnhafte Züge, etwa während
des Trotzalters oder der Phase der Pubertät. Sowohl im Normalfall wie im Wahn
beinhalten diese Phasen eine Unzahl von Herausforderungen und Tests
persönlicher und traditioneller Verhaltensmuster. Diese Tests sind notwendig, damit
die überlieferten Sets von Annahmen und Haltungen, also das, was ich als
„das menschliche Betriebssystem“ bezeichnen möchte, der gegenwärtigen
Realität angepasst werden kann.
Die
Konflikte dieser Phasen entstehen, weil die für den heranwachsenden Menschen
gegenwärtige Realität nicht identisch ist mit der Realität seiner Eltern oder
Lehrer. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass eine große Zahl von
psychiatrischen Erkrankungen in diesem Alter beginnen. Darauf hat insbesondere Jay
Haley hingewiesen in seinem Buch über die Ablösungsprobleme Jugendlicher.
In
diesen Test- und Anpassungsphasen spielen auch so etwas wie menschliche „Archetypen“
eine Rolle, also Ankerpunkte der menschlichen Natur, für die gewöhnlich
die Religionen stehen, die in diesen aber oft nicht ausreichend repräsentiert
sind oder verstanden werden. So etwa kann der archetypische Satz „Die Wahrheit
wird dich frei machen“, angesichts der weit verbreiteten und geforderten
Schemenhaftigkeit und Scheinheiligkeit unter Umständen zu einem Totalabsturz
des gerade im Umbau befindlichen Betriebssystems eines jungen Erwachsenen
führen. Das Ergebnis ist ein Wahn, der genau an diesem Punkt hängt und für den
es keine Lösung gibt, wenn dieser Punkt nicht geklärt wird. Einer Klärung
stehen aber die realen Bedingungen der Umwelt des Kranken im Wege, in der es
oft – um nicht zu sagen meist – niemand gibt, der sich einer existentiellen
Auseinandersetzung mit der Wahrheit stellen würde: Die Angehörigen nicht, weil
ihre Unfähigkeit dazu zu diesem Absturz des Betriebssystems beigetragen hat,
die Ärzte nicht, weil sie aus Zeitmangel den Patienten nach seiner Symptomatik
einordnen müssen in eine der psychiatrischen Kategorien, die Psychologen nicht,
weil sie eingeschränkt sind durch ihre Methoden und Glaubenssysteme und auch
die Seelsorger nicht, weil sie der nur unzureichend verstandenen Dogmatik ihrer
Religion oft mehr verpflichtet sind als dem Patienten. Es gibt nur einen Ausweg
aus diesem Multilemma: Irgendjemand im System der Betreuung muss eine spirituelle
Haltung einnehmen, den Patienten zu 100% ernst nehmen und damit die hinter
seiner Symptomatik liegenden Intentionen erfühlen – und dann beginnen,
zusammen mit dem Patienten den Knäuel der widersprüchlichen geistigen
Implantate zu entwirren.
In
meiner Praxis bedeutet das, dass ich im Verlauf der Kommunikation auch
sämtliche sogenannten „Flausen im Kopf“ der Patienten ernst nehme. Ich enthalte
mich jeglichen Werturteils. Ich nehme den Patienten beim Wort und denke
seine Gedanken zusammen mit ihm zu Ende. Manchmal bitte ich Patienten,
manche verrückten Ideen, die niemand schaden, auch auszuführen, weil ihnen oft
nur auf dem praktischen Weg klar wird, dass es Ideen sind, die aus
fehlerhaften Hochrechnungen von Idealen oder durch missverstandene äußere
Direktiven entstanden sind, und deshalb nicht zu einem erwünschten Ergebnis
führen können.
Erst
wenn der Fehler im eigenen Betriebssystem erkannt ist, geht der „natürliche
Weg“ des Wahns zu Ende; nur wenn die spontan entstandene Welle des Wahns
also auslaufen durfte, kann der Patient einsehen, dass es nicht so,
sondern anders geht.
Hier
muss ich erneut betonen, dass diese Art spiritueller Behandlung des Patienten kaum
je ohne Medikamente möglich sein wird, dass aber gleichzeitig darauf
geachtet werden muss, einen Fehler im Betriebssystem nicht mit einem
Hardware-Fehler zu verwechseln, obwohl er von der Hardware her – mit
Nebenwirkungen – zu beeinflussen ist.
Zwei
Bücher können das eben Gesagte illustrieren. Ein amerikanisches von Jacquie
Lee Schiff: „Alle meine Kinder. Heilung der Schizophrenie durch Wiederholen der
Kindheit“. Und eines von einer deutschen Psychiatrieerfahrenen, die ebenso
auf einem Weg dieser Art von ihrer Schizophrenie geheilt worden ist, Sophie Zerchin: „Auf der Spur des Morgensterns. Ein Erlebnisbericht“.
Viele
Patienten kommen leider nie an den Punkt der Aufklärung des Widerspruchs in
ihrem Glaubenssystem, weil andere immer schon vorher gewusst haben, dass es
so nicht geht, und daher die spontane Bewegung – den Wahn – des Patienten
abgeblockt haben. Auf diese Weise aber sind die Patienten nie ernst genommen
worden. Ihr Selbst konnte sich nie an der Realität messen – es wurde immer
zuvor schon von anderen gemessen und für unwert befunden, sich zu leben. Das
bedeutet eine spirituelle Abwertung, und stellt daher einen wesentlichen
Grund dar für den Widerstand gegen die Behandlung und die Chronifizierung der Erkrankung.
Unbedingte Wertschätzung des Patienten
Meiner
Erfahrung nach steht hinter einem großen Teil psychiatrischer Erkrankungen ein
nicht erfülltes Bedürfnis, in seinem, gewissermaßen, „göttlichen“
Wert gesehen zu werden. Dieses Bedürfnis nach grundlegender Anerkennung ist
im Bewusstsein aller Menschen verknüpft mit ihrer Lebensberechtigung.
Weil diese Art von Anerkennung bei psychiatrischen Patienten aber oft von
Anfang an nur unzureichend gegeben ist, identifiziert der Patient, entsprechend
der ihm vermittelten Wertordnung, seinen spirituellen Wert mit dem durch
Leistung erworbenen gesellschaftlichen Wert und er schraubt in dem
Wunsch nach dieser Anerkennung seine Anforderungen an sich immer höher, bis zum
unvermeidlichen Scheitern. Dass darauf bei einem Teil der Patienten ein
Größenwahn folgt, ist nicht nur eine Projektion, es korrespondiert mit dem
urmenschlichen Bewusstsein von seiner göttlichen Herkunft. Es geschieht, weil
der Respekt gegenüber dem göttlichen Wesen, dem Kind, gefehlt hat. Die
Wertbemessung wurde mit der Bedingung einer Leistung verknüpft, das Kind
selbst aber mit seinen Bedürfnissen wurde nicht wert geschätzt, sondern als
„ungenügend“ abqualifiziert.
Diesen
Zusammenhang habe ich in vielen Fällen erfahren – und darin einen Schlüssel
gefunden zur Umkehr dieses Prozesses, so weit dies möglich ist:
Unser
„den Patienten zu 100% ernst nehmen“ vermittelt ihm die Erfahrung des
Angenommenseins. Und durch unsere, gleichzeitig mit aller Empathie
gepflegte, kritische, beobachtende Haltung wird es möglich, Impulse zu
geben für eine Richtungsänderung von der Krankheit zur Gesundheit. Sobald der
Patient sich angenommen fühlt, kann er Vertrauen fassen und die nötigen
Schritte tun, die er unter unserer Führung selbst sieht.
Ein
Leuchten in den Augen wird uns verraten, wenn wir auf der richtigen Spur sind.
Ein filmisches Beispiel dieser Haltung dem Patienten gegenüber
Der
Psychiater (Jeff Bridges) in dem Film „K-Pax“ entspricht dem, was ich
meine. Er erzeugt eine unmittelbare Beziehung durch totales Ernst nehmen bei
gleichzeitigem Infragestellen von allem. Jeff Bridges hat einen Patienten
zu betreuen, der behauptet, er sei vom Planeten K-Pax, und der erstaunliche
Belege dafür vorlegt. Der „Außerirdische“ bewirkt durch seine ungewöhnlichen
Reaktionen, dass der Psychiater sich hilflos fühlt und dadurch zu größter
Konzentration bereit ist. Haldol wirkt bei dem
Patienten nicht. Stattdessen heilt dieser Patient einige Mitpatienten auf
mysteriöse Weise. Doch dann stellt der Psychiater durch Hypnose aus
verschollenen Erinnerungen des Patienten ein Ereignis wieder her, das dem
ganzen Phänomen zumindest in einer gewissen Weise, eine Erklärung bietet. Der
Doktor geht dem Gefundenen vor Ort wie ein Detektiv nach und erlebt,
gewissermaßen hypnotisch, selbst die tragischen Ereignisse der irdischen Person
dieses angeblichen Außerirdischen nach. Am Ende muss er allerdings erkennen,
dass er trotz aller Erkenntnisse und trotz seines intensiven Kontakts das
Geschehen nicht unter Kontrolle hat.
Auch
wir haben das Geschehen nicht unter Kontrolle, aber wir können unseren
Mitmenschen so gut wie möglich assistieren, ihren Weg zu finden.
Das
ist in meinen Augen alles, was eine spirituelle Behandlung bieten kann – und
gleichzeitig ist es das Maximum des Möglichen.
Was ist „spirituell“?
Aber
was soll daran spirituell sein, werden Sie vielleicht fragen.
„Spirituell“
meint die Beziehung nach oben, zu der übergeordneten Perspektive, zu der
schöpferischen Kraft, die nicht die unsere ist, an der wir aber teilhaben
können. Von dort wird die Lösung sichtbar, Schritt für Schritt.
Methoden
kommen da nicht hin. Aber diese andere Kraft tritt, wenn wir im Bewusstsein
unserer Beziehung zu ihr darum bitten, in uns in Erscheinung und vermittelt uns
das nötige Engagement, die nötige Konzentration.
Wenn
Sie mich fragen, wie das geht und wie ich darauf gekommen bin, muss ich Ihnen
sagen, dass mein Weg aus purer Hilflosigkeit entstanden ist.
Ich
hatte in Gesprächen mit Patienten oft bemerkt, dass ich verwirrt war von
dem, was die Patienten erzählten. Was ich in meiner Therapieausbildung und
in der Literatur über Gesprächsführung gelernt hatte, half mir nicht,
weiterzukommen. Ich erfuhr zwar einiges, aber nicht genug, um den Schlüssel zur
Lösung zu finden. Und manchmal schien mir das Bild völlig zu entgleiten. In
einer dieser Situationen, in denen ich mich verloren fühlte, sagte ich innerlich
eine Art Gebet. Ich sagte, lieber Gott, die Situation überfordert mich, das
Gespräch ist aus dem Ruder und ich weiß nicht, was ich tun kann, damit es sich
wieder fokussiert. Ich brauche Hilfe. Es war einfach ein Ausdruck meiner
Hilflosigkeit.
Doch
da bemerkte ich nach einer Weile, wie sich das Gespräch nach und nach von
selbst fokussierte. Ich vergaß dieses Ereignis später, aber als ich mich in
einer ähnlichen Situation wieder hilflos fühlte, wiederholte ich mein Gebet und
stellte erneut die erstaunliche Wende in dem Gespräch fest.
Ich
vergaß es erneut; aber dann erinnerte ich mich immer häufiger in ähnlichen
Situationen an mein Gebet, und immer gab es diese erstaunlichen Wende:
Vom Moment meiner Bitte um Hilfe an nahm das Gespräch einen positiven, erhellenden
Verlauf.
Ich
stellte fest, dass es eine immer wiederkehrende Bedingung dafür gab: Ich
musste meine Hilflosigkeit fühlen, damit diese Reaktion eintrat. Und dadurch
wurde mir klar, dass das, was ich als „Hilflosigkeit“ erlebte, genau das war,
was die Anonymen Alkoholiker „Kapitulation“ genannt haben, den ersten
der zwölf Schritte zur Genesung.
Dann
habe ich erfahren, dass mit mir befreundete Therapeuten ähnliche Erlebnisse
hatten.
Und
nach einiger Zeit begegnete ich den Patienten mehr und mehr von vornherein in
dieser Haltung des absoluten Nichtwissens.
Die
Reaktionen waren allerdings nicht immer positiv. Manchen ging das zu weit. Da
kann ich nicht auf meiner Neugier beharren. Da muss ich den Wunsch nach Distanz
respektieren. Da hilft nichts als zu warten und langsam Vertrauen aufzubauen
ohne jede Aufdringlichkeit – aber natürlich doch gleichzeitig unter ständigem
Erinnern daran, dass die Realität auf das reagiert, was wir tun, dass es daher
Möglichkeiten gibt, die eigene Lage zu verschlechtern oder zu verbessern.
Wenn
Sie meinen, so haben Sie immer schon gearbeitet, dann freue ich mich. Ich meine
allerdings, nicht nur Patienten, auch Therapeuten können überfordert sein, so
wie ich selbst auch jetzt noch immer wieder überfordert bin. Ich meine, dass
ein Therapeut, bevor er sich voll auf einen Patienten einlassen kann, zunächst
sich selbst so akzeptieren muss, wie er ist, samt seinem Ungenügen. Wenn jemand
das nicht kann, dann muss er das akzeptieren. Dann muss er tun, was er
kann, was er gelernt hat, eine Methode anwenden, eine Technik.
Vielleicht ist diese Technik ja wunderbar und hilft.
Aber
sollte je dieses Gefühl des Verlorenseins auftreten, dann sollte dieses Gefühl
für den Techniker gewissermaßen wie ein Wecker sein, der sagt: Es gilt der
Realität ins Auge zu sehen, die wir nicht unter Kontrolle haben und unsere
Hilflosigkeit einzugestehen und zu wissen, es gibt nur eine Chance für uns,
nämlich dass eine Kraft größer als die unsere uns zu Hilfe kommt. Und dass wir
diese größere Kraft um Hilfe bitten.
Diese
Regel gilt für alle – natürlich auch für die Patienten; auch für sie kommt die
Wende, nachdem sie sich durch das Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit dem
größeren Ganzen geöffnet haben.
Deshalb
ist dieser Weg spirituell – auch ohne jede vorgegebene Dogmatik oder Liturgie.
Er erzeugt eine innere Einstellung von Respekt und Wachsamkeit, eine Empathie,
eine tief greifende, unmittelbare Kommunikation, die von keiner Technik
erreicht werden kann.
Zum
Schluss möchte ich noch mal daran erinnern, dass wir dann am Besten
funktionieren, wenn wir innerlich widerspruchsfrei sind und das können wir nur
sein, wenn wir vollkommen ehrlich sind, wenn wir unsere Zerrissenheit und
Hilflosigkeit eingestehen – und wer fühlte sich nie zerrissen, wer erlebt nie
Hilflosigkeit, wer ist perfekt? Wer ist wie Gott?
Die
Bibelkenner unter Ihnen werden merken, dass das die Frage ist, die der Erzengel
Michael stellt, der den Eingang zum Paradies bewacht: Und logischerweise
enthält diese Frage den Schlüssel für die Rückkehr ins Paradies.
Danke.
Literatur:
Jacquie Lee Schiff: „Alle meine Kinder. Heilung der Schizophrenie durch
Wiederholen der Kindheit“, München, 1990.
Sophie Zerchin: „Auf der Spur des Morgensterns. Ein
Erlebnisbericht“, München, 1990.
Jay Haley: „Ablösungsprobleme Jugendlicher“, München 1988
Gottfried Hutter: „Auferstehung – vor dem Tod. Therapeutisch arbeiten
mit biblischen Texten.“ (Kösel) München 1994
– im Internet http://www.resurrection.de/Inhalt.html
Gottfried Hutter: „Phönix aus der Asche. Eine Theologie für alle und
ein Übungsbuch für das Leben.“ Spirituell-therapeutische Texte im Internet http://www.clear-light.org/Salvation%20gesamt/Salvation_gesamt.html