Warum musste
Jesus sterben?
Was geschah bei
seiner „Auferstehung“?
Und wie soll uns
sein Tod erlösen können?
In einer globalisierten Welt ein
neuer Blick auf den „Christus“ und die, die ihm nachfolgen –
damit das Christentum erneut ursprünglich attraktiv und mit den anderen
spirituellen Wegen kompatibel werden kann.
23. 3. 2008
Warum diese Fragen?
Viele
der Antworten, die Christen heute auf die Frage geben, warum Jesus sterben
musste, zeigen, dass ihnen das Verständnis der Bedeutung von
„Erlösung“ weitgehend abhanden gekommen ist. Fast immer
erscheint Jesus als armes Opfer, das die Kontrolle verloren hat: „...
irgendwie dumm gelaufen!“
Doch wie
sollen sich Menschen von einem Messias erlöst fühlen, der die Dinge
nicht unter Kontrolle hatte? Die gewöhnlich gebrauchte Formel, weil er der
Sohn Gottes war, der von seinem Vater geopfert wurde, damit dieser uns unsere
Sünden nicht länger anrechnen muss, ist heute für die meisten
völlig unverständlich. Zumindest für nichtkirchlich sozialisierte
Menschen klingt sie wie ein magischer Menschenhandel aus
präzivilisatorischer Vorzeit!
Ich will
die Frage nach dem Grund für Jesu Kreuzigung daher neu aufrollen und so
beantworten, dass Sie als heutige Leser am Ende sagen können: Jetzt
verstehe ich, warum das geschehen musste! Und: Jesus ist tatsächlich der
Größte unter den Menschen, einfach göttlich! – Aber –
aus der Perspektive der anderen Religionen betrachtet, könnten Ihnen deren
Stifter zu Recht ebenso als die Größten erscheinen.
Auf
diese Weise hoffe ich, das Christentum so darstellen zu können, dass es
auch die Anhänger anderer Religionen verstehen – und gleichzeitig
die Kluft zu überbrücken, die Exegeten sehen zwischen den
ursprünglichen Aussagen Jesu (wie sie in der Sammlung „Q“
erscheinen, die im 20. Jahrhundert aus den existierenden Quellen rekonstruiert
wurde) und der Theologie des Apostels Paulus.
In jedem Zeitalter wird dieselbe
Wirklichkeit anders dargestellt
Zunächst
ist es wichtig dies anzumerken: Wenn Jesus und die anderen Autoren der Bibel
die Begriffe zur Verfügung gehabt hätten, die wir heute gebrauchen,
dann hätten sie vieles ganz anders gesagt, aber sie waren auf die
Terminologie ihrer Zeit angewiesen. Das Gleiche hat natürlich auch schon
vor 2000 Jahren gegolten, etwa für die Unterschiede in den
Ausdrucksmöglichkeiten zwischen Abraham und Jesus. Und das war ein
wesentlicher Grund dafür, warum Jesus gesagt hat, Abraham hätte sich
glücklich geschätzt, wenn er die Zeit hätte sehen dürfen,
in der Jesus lebte. Dann wäre er beispielsweise mit Sicherheit nicht auf die
Idee gekommen, seinen Sohn zu opfern – denn diese Idee ist logischerweise
nur möglich in einer Kultur, die Menschenopfer kennt. Die Aussage des
Apostels Paulus, dass die Frau in der Kirche zu schweigen habe, ist nur
möglich in einer patriarchalisch geordneten Gesellschaft. Und auch die
Rede Jesu von einer dämonischen Besessenheit ist nur unter Menschen
denkbar, die eine animistische Weltsicht teilen.
Obwohl
das Denken sogar in unserem aufgeklärten Zeitalter nicht ganz frei ist von
solchen Anschauungen, werden die meisten Menschen unserer Kultur sie nicht mehr
verstehen. Es genügt bei der Interpretation der Heiligen Schriften daher
nicht, historisch korrekt zu sein – es ist nötig hinter die
buchstäbliche Bedeutung der historischen Formulierungen zu blicken, ihren
Geist zu erfassen und diesen Geist mit den Ausdrucksmöglichkeiten der
Gegenwart wiederzugeben – und damit meine ich nicht
„zeitgeistkonform“, sondern den heute lebenden Menschen
verständlich.
Auf
diese Weise kann in unserer Zeit der Globalisierung ein ganz neues
Verständnis gefunden werden nicht nur des Christentums, sondern auch der
anderen Religionen, deren grundlegende Texte ebenso in einer weit
zurückliegenden Kultur formuliert worden sind. Damit kann jede Religion
ein Selbstverständnis erreichen, das mit den Selbstverständnissen der
anderen Religionen kompatibel ist – und das ist angesichts der
gegenwärtigen interkulturellen und interreligiösen Spannungen
dringend geboten.
Einen
zweiten ganz wesentlichen Schlüssel zu unserem neuen Blick bietet der
Evangelist Markus. Während das gewohnte christliche Bild der Auferstehung
nämlich von einem quasi physischen Wiedererscheinen Jesu ausgeht,
überliefert Markus, trotz reichen, anders lautenden Quellenmaterials keine
einzige Geschichte einer Erscheinung des auferstandenen Christus. Historische
Forschungen zeigen, dass die Auferstehungs-Erzählungen der anderen
Evangelisten stark von hellenistischen Entrückungsvorstellungen
beeinflusst sind, dass sie also bereits eine der hellenistischen Kultur
angepasste Interpretation des realen Geschehens darstellen, auf die Markus, aus
welchen Gründen auch immer, verzichten wollte. Deshalb werden wir in
unserer Auseinandersetzung mit den Ereignissen um den Tod Jesu die übliche
Sicht von Ostern möglicherweise in Frage stellen müssen. Und in
Zusammenhang damit muss auch die Bedeutung der dogmatischen Formulierungen
über Jesus, die daraus abgeleitet worden sind, neu durchdacht werden.
Was wollte Jesus?
Ich
werde im Folgenden versuchen, die Bilder, die Jesus für das von ihm
angestrebte Ideal gebraucht hat, mit den Bildern zu verknüpfen, die wir
heute verwenden.
Jesus
hatte einen Traum: „Das Reich Gottes“ und die ganze Menschheit
vereint unter dem himmlischen „Vater“ – ein Bild, in
dem jeder so sehr von Vertrauen und
Mitgefühl erfüllt ist, dass Sorgen keinen Platz haben.
Doch in
seinem Traum sah er auch die Kräfte, die dagegen wirken, nämlich die
menschliche Angst und die daraus resultierende Überheblichkeit.
Er
wusste daher, dass es mutige, rückhaltlos vertrauende Menschen braucht,
damit das Reich Gottes Wirklichkeit werden kann. – Dass ich hier das Wort
„Vertrauen“ verwende und nicht das gewohnte „Glauben“,
liegt daran, dass sich das Wort „Glauben“ abgenutzt hat und die
Intention Jesu in mancher Hinsicht nicht mehr ausreichend trifft.
Jesus
wusste auch, dass sein Traum vom Reich Gottes der tiefsten Sehnsucht eines
jeden Menschen entspricht, und damit seiner innersten Wahrheit,
und dass in jedem
Menschen auch die Fähigkeiten schlummern, diesen Traum – zumindest
für sich selbst – Wirklichkeit werden zu lassen. Der
„Vater“, der das ganze Universum hervorgebracht hat, hat ja,
gemäß Genesis 1,26, jeden Menschen „nach seinem Bild“
geschaffen: nicht als ein ohnmächtiges Bruchstück, sondern als ein
kleines Ganzes der allgewaltigen schöpferischen Kraft. Daher ist das, was
Menschen möglich ist, viel gewaltiger als die meisten
glauben. In den
Worten Jesu: Wenn jemand der großen Schöpferkraft vertraut, die ihn
beseelt, kann er buchstäblich Berge versetzen [Mt 17,20].
Doch
trotz dieses phantastischen Potentials gibt es keinen Grund zu
Größenwahn – einer der Gefahren auf dem Weg der Suche nach der
inneren Wahrheit –, denn die Erlösung, die im Reich Gottes erfolgt,
besteht nicht in grandioser Selbstverwirklichung, sondern gerade im Aufgeben
der Selbstüberhebung [Mt 20,26], die letztlich nur in der Angst, zu kurz
zu kommen, gründet.
Charakteristischerweise
liegt die etymologische Wurzel des deutschen Begriffs „Sünde“
im „Sich Ab-sond-ern“,
also in der Absonderung des Teils vom Ganzen. Durch ihr sich Absondern und sich
Überheben erhoffen die Menschen, sich gegenüber den Anderen Vorteile
verschaffen zu können – was oft auch gelingt, aber mit
äußerst negativen Nebenwirkungen: Denn dazu müssen sie sich vom
Mitgefühl abschneiden – und ernten dafür ein Gefühl der
Entfremdung, von dem sie dann erlöst werden möchten. Logischerweise
kommt die Erlösung aus der erneuten Unterordnung des Einzelnen unter den
„Willen des Vaters“, also aus dem, was gut ist für das Ganze.
In
biblischer Sprache: Die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ist verloren
gegangen, weil die Menschen, um ihre Angst zu übertönen, selbst sein
wollten wie Gott. Anstatt sich damit zu begnügen, dass sie bereits ein
vollständiges Bild des Ganzen waren, separierten sich die Teile vom Ganzen
und stellten sich ihm gegenüber. Dadurch schwand die Wahrnehmung dessen,
was gut ist für das Ganze; die Wahrnehmung wurde eingeengt auf die
isolierten Interessen des Teils.
Ein
separates Ich präsentiert dann jenes Bild von sich, das die alten Griechen
„Persona“, d.h. „Maske“ genannt haben – ein
Begriff, der heute in der humanistischen Psychologie wieder auftaucht, nicht zu
verwechseln mit dem theologischen Begriff der „Person“. Das Wirken
dieser Maske können wir tagtäglich beobachten, wenn Menschen sofort
die Fehler der anderen sehen, aber nicht ihre eigenen, weil die ja nicht in ihr
Selbstbild passen. Das, was die Menschen gewöhnlich „Ich“
nennen, ist diese „Persona“. Die Identifikation mit ihr ist so
mächtig, dass es gewöhnlich einen „Weltuntergang“
braucht, d.h. das Zerbrechen der Maske, bevor die ihrer Natur entfremdeten
Menschen bereit sind, sich wieder als Teile des Ganzen zu sehen, bevor sie als
„Mitglieder im Reich Gottes“ „wiedergeboren“ werden
können. Dann sind sie gewissermaßen gestorben und das Ebenbild
Gottes in ihnen ist lebendig geworden. Davon hat Jesus in vielen Varianten
gesprochen.
Sich und
seine Nachfolger hat er gewissermaßen als Helfer auf dem Weg zu dieser
Transformation gesehen. Als „Menschenfischer“ sollten seine
Jünger diejenigen aus dem Chaos der Entfremdung herausziehen, die
dafür bereit waren, die reif waren zur „Wiedergeburt“.
Die Wiedereinsetzung ins Paradies
geschieht durch die Öffnung des Herzens.
Um dazu
imstande zu sein, mussten die Helfer den Prozess der Transformation selbst
bereits durchlaufen haben. Und dann mussten sie diesen Prozess in anderen in
Gang setzen, indem sie einen Samen säten, der wirkte „wie
Sauerteig“, der also das Starre der Maske (der „Persona“)
durchdrang, sodass “der Mensch“, also „das Ebenbild
Gottes“, dahinter erscheinen konnte. Die äußerliche Religion
allein konnte das nicht leisten, denn die äußerliche Religion wird
weitgehend von den gleichen Mechanismen beherrscht wie die Maske, nämlich
vom äußeren Anschein, vom Brauchtum, von sozialen Regeln und von den
Moden des Zeitgeists. Allzu oft fehlt „der Geist“. Regeln allein
führen noch nicht ins Reich Gottes. So sagt es auch Jesus.
Obwohl
Jesus beispielsweise vom „Gebot“ der Nächstenliebe spricht,
resultiert echte Nächstenliebe für ihn nicht so sehr vom Befolgen
dieses Gebots, sondern eher von der Achtsamkeit auf die in der menschlichen
Natur bereits angelegte Öffnung zum Ganzen hin, das er „Reich
Gottes“ nennt. Nichts zeigt das deutlicher als das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter, in dem gerade die Experten für die Regeln dem
mitmenschlichen Anspruch nicht entsprechen können.
Der
gleichen Linie seiner Betrachtung der menschlichen Natur folgend hat Jesus das
Reich Gottes auch nicht gepredigt, um die sozialen Ungleichheiten zu
beseitigen, wie nicht wenige heutige Theologen annehmen – obwohl eine
größere soziale Gerechtigkeit zweifellos eine seiner Folgen sein
wird. Er intendierte „nur“ die Reintegration der Teile in das
Ganze, aber nicht durch die Verschmelzung der Individuen ins Kollektiv wie im
Kommunismus oder bei den „Borg“ der Science Fiction Serie
„Star Trek“. Er wollte (wie in Mt 19,8) „das verhärtete
Herz“ der Individuen, also die „Persona“, wieder
durchlässig machen, damit die Menschen wieder fähig werden, einander
wahrzunehmen und zu lieben. Um diesen Transformationsprozess zu starten,
braucht es, wie schon gesagt, Samen und Sauerteig und Menschen, die den Prozess
bereits durchlaufen haben, als Helfer auf dem Weg, der schließlich
über das Ende der alten Welt zu einem neuen Leben oder zur
„Wiedergeburt“ als Kind Gottes führt (Joh 1,12).
Auch die gesellschaftliche
Entwicklung ist vom Reich Gottes betroffen
Die
Gesellschaft ist nie perfekt. Manche Individuen werden daher zu jeder Zeit in
sich eine Sehnsucht nach Veränderung erkennen und daraus entsteht in ihnen
ein Traum, der einen Prozess in Gang setzt, der letzten Endes das Ganze in
einem evolutionären Sinn voranbringt. Auf der persönlichen Ebene
nimmt dieser Traum die Form einer persönlichen „Berufung“ an:
Wie durch eine Art „göttlicher Schnittstelle“ drängt die
schöpferische Kraft das Individuum, seinen Traum von einer besseren Welt
zu verwirklichen. Gewöhnlich ist dieser Traum aber zunächst vermischt
mit egoistischen Interessen. Von solchen, die ihre „Berufung“ ernst
nehmen, wird er jedoch geklärt zu einer echten spirituellen
Lösungsvision auch für anstehende gesellschaftliche Probleme.
Die
meisten der unter ihrer Entfremdung leidenden Individuen erleben diesen Traum
als ein Lösungsbild für die Widersprüche, die sie erleben. Sie
unterstützen daher seine Verwirklichung. Gleichzeitig werden
natürlich diejenigen Kräfte, die von der Absonderung profitiert haben
oder weiter profitieren würden, dagegen arbeiten. Gerade dadurch aber
verstärken sie, ohne es zu wollen, die Widersprüche so sehr, dass sich
die Kräfte, die nach Einheit streben am Ende gemeinsam durchsetzen werden
– so wie der Seher Johannes es in seiner Offenbarung angesprochen hat.
Die Wiederherstellung des
Paradieses
Die
Einordnung in das Ganze wirkt sich auf die sich einordnenden Teile durchweg
positiv aus: Sie, die ja selber kleine Ganzheiten sind, werden dadurch heil und
sie erleben ein zuvor noch nicht gekanntes Gedeihen. Es geschieht also eine
echte Wiedereinsetzung ins „Paradies“.
Allerdings
kann die persönliche Berufung – wie die Geschichte Jesu und seiner
Nachfolger zeigt (und ähnliches ist bekannt von Erleuchteten aller
Kulturen) –
auch beinhalten, dass ein Mensch, der bereits ein bewusstes Glied im
„Reich Gottes“ ist, Lasten zu tragen hat, die andere nicht tragen
könnten. Ihr Beispiel zeigt dann, dass der Himmel sogar inmitten
einer äußeren Hölle erfahren werden kann.
„Das Reich Gottes ist in eurer Mitte“, sagt
Jesus, es ist „in unserem Herzen“. Das Paradies ist also nicht
etwas Äußerliches, sondern eine Sache der inneren Einstellung,
genauer, es entspringt nicht einer menschlichen, sondern der göttlichen
Sicht der Welt.
Was das optimale Gedeihen
behindert und was das Hindernis überwindet
Das
einzige Hindernis zu optimalem Gedeihen ist das Nichtakzeptieren des Gegebenen
– oder in der Sprache Jesu: das Ablehnen des Willens Gottes. Manchmal
glauben wir, wir könnten die Bedingungen, unter denen wir uns vorfinden,
nicht akzeptieren, weil uns Vertrauen fehlt, weil wir uns ärgern,
fürchten, weil wir zweifeln oder weil wir Schuld auf uns geladen haben
– eben weil wir in der Entfremdung leben, im Zustand der Abspaltung des
Teils vom Ganzen. Jesus hat daher einen konkreten Weg gezeigt, sich von der
Entfremdung zu befreien und das Vertrauen wiederzufinden, wie er es sagt, in
die grenzenlose Barmherzigkeit und Macht „des Vaters“.
Damit
betroffene Menschen Zuversicht und Vertrauen wiederfinden können, ohne
einen Weltuntergang durchmachen zu müssen, müssen sie von sich aus
umkehren und ihre Wege ändern. Das beginnt damit, dass sie den Willen
Gottes akzeptieren, d.h. dass sie zuerst ihr eigenes Schicksal vollständig
annehmen. Durch ihre Selbstannahme wird ihnen erst klar, was Menschsein
bedeutet. An dieser Stelle sterben die Illusionen. Es stirbt ihr sich
absonderndes Ich und dadurch werden sie fähig, ihre Herzen einander zu
öffnen. Am Punkt der Umkehr verstehen sie: wenn sie einen Teil von Gottes
Schöpfung ablehnen, lehnen sie ihre eigene Natur ab, sie lehnen das Leben
selbst ab, auch in sich selbst.
Wie Jesus das Paradies
wiederherstellt
Durch
ihre Umkehr lernen die Menschen, dem Willen Gottes ihre ganze
Aufmerksamkeit zu schenken; damit gliedern sie sich wieder ein ins Ganze, ins „Reich
Gottes“. Das macht den entscheidenden Unterschied.
Wenn sie
für das Reich Gottes leben, werden die Menschen den Himmel schon auf Erden
finden. Das war Jesu frohe Botschaft.
Mit
anderen Worten: Das Paradies geht verloren, weil die Menschen ein vom Ganzen
separiertes Bild von sich erzeugen, ihr Ego, ihre Persona, ihre Maske. Dadurch
erleben sie sich als vom Ganzen getrennt und entfremdet. Für die
Erlösung aus der Entfremdung ist die Auflösung der
„Persona“ notwendig – die wiederum ihren Ursprung hat in der
Angst, zu kurz zu kommen. Die Auflösung der Persona ist ein schmerzhafter
Prozess, denn obwohl die Persona nicht real, sondern nur eingebildet ist,
identifizieren sich die Menschen mit ihr. Sich davon zu lösen, bedeutet
für sie daher eine Art Tod. Damit es ihnen leichter fällt, diesen
virtuellen Tod auf sich zu nehmen, hat Jesus sein physisch-reales Leben
hingegeben. Und damit ist er zu einem Erlöser der Menschheit geworden, wie
es keinen zweiten gibt.
Mit
seinem Tod hat er den existentiellen Transformationsprozess, den er
„Wiedergeburt“ genannt hat, in den Aposteln zur Vollendung
gebracht. Sein Tod hat sie radikal verwandelt – und noch Jahrtausende
später verwandelt er immer noch Menschen, indem er ihnen – also uns
– vorführt, wie weit ein ins Reich Gottes zurückgekehrter, ein
zu sich selbst gekommener Mensch gehen kann, ohne sich zu verlieren. Mit seinem
Tod hat Jesus allen, die sich von ihm berühren lassen, jede Angst
genommen. Damit hat er allen die Möglichkeit gegeben, zum vollen
Bewusstsein ihrer göttlichen Natur zu erwachen und in jeder Hinsicht seine
Nachfolge anzutreten.
Komplikationen auf dem Weg:
spiritueller Materialismus und das fehlende Bindeglied zwischen Jesus und
Paulus
Das zu
verstehen, wirft ein heilsames Licht in die Verwirrung, die dadurch entstanden
ist, dass einige der ersten Christen eine baldige äußerliche
Wiederkunft Christi erwarteten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass
die Wiederkunft Christi in Form eines radikalen existentiellen
Verwandlungsprozesses geschehen könnte.
Doch
genau dieser existentielle Verwandlungsprozess ist das „missing
link“, das das Wirken Jesu mit der Lehre des Apostels Paulus verbindet.
Manche Interpreten meinen ja, dass es Paulus praktisch nur noch darum geht, zu
sagen, dass Jesus der Erlöser ist und dass er sich um die Lehre Jesu
selbst dagegen kaum noch kümmert. Sie konstruieren daraus einen
Widerspruch, obwohl für Paulus doch klar ist, dass jeder, der begreift,
was Jesus getan hat, automatisch so lebt, wie Jesus es gewollt hat, weil er
durch sein Begreifen zu einem Mystiker geworden ist.
Dass
Theologen das nicht verstehen, sondern von einem „missing link“
sprechen, liegt an einem im Grund in allen Religionen verbreiteten
materialistischen Missverständnis, das auch im Christentum von Anfang an
da ist und das den Blick auf die sowohl von Jesus als auch von Paulus
dargestellte mystische Einheit verbaut.
Zu
Lebzeiten Jesu hat sich dieses materielle Missverständnis des
„Reiches Gottes“ in der Erwartung eines politischen Messias
ausgedrückt und in absoluter Gesetzesfrömmigkeit. Bei den meisten
wirkte beides zusammen und auch der Effekt beider Richtungen ist heute noch
ähnlich: Eine äußerliche Machtdemonstration soll geschehen,
damit sich die Entfremdeten die Arbeit an sich selbst ersparen können oder
damit sie für ihre bereits geleisteten Anstrengungen
„offiziell“ entschädigt werden oder damit diejenigen, die ihre
Frömmigkeit belächeln, bestraft werden. Von einer Re-Integration ins
Ganze ist da nichts mehr übrig, im Gegenteil, die einen werden gegen die
anderen ausgespielt.
Nach
Jesu Tod und Auferstehung hat sich das materialistische Missverständnis in
die Erwartung seiner baldigen Wiederkehr gewandelt. Materialistisch ist diese
Erwartung deshalb, weil es dabei wieder um ein äußerliches Ereignis
geht, und nicht um die geistige, persönliche Verwandlung, die Jesus
intendiert hatte und in der allein er (innerlich) wieder lebendig werden kann.
Und auch
heute begegnet uns dieses Missverständnis in der Erwartung einer
äußerlichen
Veränderung: in der Forderung nach politischer Revolution und im
religiösen Fundamentalismus.
Die
erste Variante beruht auf einer aus der Aufklärung stammenden säkularisierten
Sicht der Religion, die auch wieder auf die Religion zurückwirkt. In der
aufgeklärten Sicht wird angenommen, der Sinn der Religion bestehe allein
darin, den Menschen an seine sozialen Pflichten zu erinnern. Der Aufklärer
Kant drückt das aus in seinem kategorischen Imperativ. Der Kommunismus war
eine der herausragendsten Konsequenzen der säkularen Sicht der Religion.
An die Stelle des „Reiches Gottes“ rückt hier das mit
staatlicher Gewalt durchgesetzte gemeinschaftliche Eigentum. Eine der
theologischen Rückwirkungen auf die Religion ist die heute tief in die
allgemeine christliche Verkündigung hineinwirkende
„Befreiungstheologie“. Die Wurzeln der Befreiungstheologie liegen
zwar in der Intention Jesu, die Menschen über ihr Mitgefühl zu
solidarischem Verhalten anzuregen, einige ihrer Anhänger sind dann aber,
jenseits des Mitgefühls, für äußerlich sozialistische
Gesellschaftsreformen eingetreten – und genau das prägt heute,
zumindest in Europa, ganz wesentlich, nahezu gehirnwäscheartig, das Flair
der „christlichen“ Diskussion sozialer Politik. Dass Paulus den
Sklaven rät, nicht ihre Freilassung anzustreben, ist für diese
christlichen Aktivisten völlig jenseits des Vorstellbaren.
Der
andere Strang des spirituell materialistischen Missverständnisses operiert
nicht weniger gehirnwäscheartig. Er besteht in einer Abwehrreaktion gegen
die säkulare Interpretation und wird gewöhnlich als
„Fundamentalismus“ bezeichnet. Seine Anhänger, seien es
protestantisch-evangelikale Sekten oder auch katholische
„Charismatiker“, nennen sich selbst gewöhnlich
„wiedergeboren“ und glauben, sie wären durch den
Transformationsprozess, den Jesus angesprochen hat, hindurchgegangen –
und tatsächlich könnte man sagen, dass sie durch die Veränderungen,
die sie in ihrem Leben vorgenommen haben zu „Gerechten“ im Sinn des
Gesetzes geworden sind. Dass Paulus ihnen sagt, durch ihre Rückkehr zum
Gesetz würden sie die Erlösung verspielen (Gal 5,5), würden sie
wohl kaum verstehen. Das liegt daran, dass viele von ihnen auch die
Aufforderung Jesu zur „Umkehr“ nicht ganz verstanden haben: Sie
haben nur eine Richtungsänderung vorgenommen, ihre „Persona“
dabei aber behalten – ganz wie damals die Partei der Frommen, die
Pharisäer. Immerhin hat Jesus die Pharisäer zu den Gerechten
gezählt und sie dennoch wegen ihrer Buchstabengläubigkeit als
geistlos kritisiert. Wirkliche Transformation ist nämlich nicht der
Unterschied zwischen links und rechts, es ist der Unterschied zwischen Raupe
und Schmetterling. Aus diesem Grund ist der Fundamentalismus eine der Formen
des spirituellen Materialismus. Und so ist es nicht erstaunlich, dass diese
„Wiedergeborenen“ wie schon manche ihrer Vorfahren vor zweitausend
Jahren die Symbolik der mystischen Bildsprache nicht verstehen und immer noch
ein baldiges äußerliches, physisches Wiederkommen Christi erwarten.
Keiner
der beiden Formen geht es um die persönliche Transformation, die Jesus
angestrebt hat, sondern den einen geht es um die äußerliche
Durchsetzung der Brüderlichkeit, die anderen sehen das Heil im blinden
Glauben und Befolgen von Sätzen aus Heiligen Schriften. Beide bestehen auf
dem Zwang des Gesetzes, also auf etwas Äußerlichem.
Im Leben Jesu dagegen fehlen jegliche
materiell-äußerlichen Ziele: Er war nicht caritativ tätig und
sein Aufruf zur Nächstenliebe betraf, zumindest in erster Linie, nichts
Organisiertes, erst recht nichts Sozialistisches, sondern die unmittelbare
Sensitivität für das Gegenwärtige aus der Verbindung mit der
Kraft, die alles hervorgebracht hat.
Jesu Anregung zur Achtsamkeit den Schwachen gegenüber
hatte daher ihr Gegenstück in seiner Aufforderung an diese, aufzustehen,
nicht länger Opfer zu sein, also selbst den Berg zu versetzen, anstatt von
den anderen zu erwarten, es für sie zu tun.
Unter dem Einfluss der säkularisierten Idee
der Nächstenliebe dagegen hat sich in unseren Tagen und in der westlichen
Hemisphäre ein Anspruchsdenken entwickelt und sich – besonders seit
dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems – weltweit ausgebreitet. Es
versucht, jene Sensitivität in Schuldgefühle umzumünzen, die
sich dann für jegliche Ideologie bequem ausnutzen lassen.
Auch
Jesu radikaler Rat an den reichen Mann, sein ganzes Eigentum zu verkaufen und
den Erlös den Armen zu geben, hatte nicht das Ziel, den Armen zu helfen,
sondern es sollte dem reichen Mann helfen, transformiert zu werden. Der
Einschätzung Jesu nach hätte er ihm genausogut sagen können:
„Wirf dein Geld in den Müll“. Doch warum nicht den Armen
helfen mit diesem Müll – und damit – ganz anders als der
Verführer der Versuchungsszene (Mt 4,3) es im Auge hatte –
„aus Steinen Brot erschaffen“?
Dieses
Beispiel zeigt ein weiteres wesentliches Element in der Lehre Jesu: Der reiche
Mann befolgte bereits das halachische Gesetz, er gehörte bereits zu den
„Gerechten“, im Sinn des Alten Bundes war er bereits
„erlöst“. Aber er war noch nicht perfekt, denn er hatte den
Prozess der Transformation noch nicht durchlaufen. Er war noch nicht, was die
Hindus „erleuchtet“ nennen. Er befand sich noch nicht im Zustand
der mystischen Einheit. Das Beispiel zeigt, dass es für Jesus ganz klar
zwei Klassen von „Gerechten“ gibt – und dann noch die dritte
Klasse derer, die nicht das Glück hatten, zu dem Verständnis
geführt worden zu sein, dass es besser ist gut zu sein als böse. Diese
Unglücklichen, die „Sünder“, waren Jesu besonderen
Freunde. Sie würden am meisten profitieren durch die Transformation.
Und eine
weitere grundlegende Unterscheidung gehört hierher: Der Eindruck, Jesus
habe Kranke geheilt, ist nur Produkt einer grundsätzlich un-jesuanischen,
magischen, spirituell-materialistischen Perspektive, denn für ihn war
klar: die Heilkraft kam nicht von ihm. Er hat der Heilung nur assistiert. Die
Kranken wurden gesund durch die Begegnung mit jemand, der sich im Zustand der
mystischen Einheit befand. Diese Erfahrung veränderte ihre innere
Einstellung und, daraus folgend, ihren Lebensausblick. Das daraus resultierende
Vertrauen der Kranken hat „das Wunder“ bewirkt. Jesus war nur der
Mittler des Vertrauens. – Aber er konnte nicht alle befreien. Viele blieben
abhängig – entweder von anderen Mächten oder von ihm.
Spiritualität war für sie nicht etwas unmittelbar Erfahrbares,
sondern etwas, das einen Mittler braucht.
Spirituellen
Materialismus brauchen immer diejenigen, die sich ihrer Einheit mit dem Ganzen
noch nicht bewusst geworden sind. Sie können ihre eigene innere Wahrheit
nicht erkennen, weil sie ihrem Herzen nicht trauen. Sie sind auf ein
äußerliches Gesetz oder eine bestimmte Gesellschaftsordnung
angewiesen und können als Wahrheit nur anerkennen, was in einem Buch
geschrieben steht. Angesichts der brutalen Hackordnungen unter den Menschen,
die äußerliche Identifikationen erzwingen, und damit die Ausbildung
einer „Persona“, ist das verständlich. Doch genau um diesen
Zwang zu lösen, hat Jesus diesen brutalen Tod auf sich genommen. Er wollte
den Eingeschüchterten Mut machen, auf ihr Herz zu hören, wissend,
dass manche religiöse Führer und deren Mitläufer genau das
verhindern wollten (und immer noch wollen), weil jede orthodoxe
„Persona“ ihre Gruppen-Identität und ihre Macht stärkt.
Die Mystik Jesu und die Mystik
des Apostels Paulus
Sowohl
Jesus wie auch Paulus erstreben einen existentiellen Verwandlungsprozess, eine
mystische Vereinigung. Dass Paulus, wie Albert Schweitzer bemerkt, nicht eine
Gottes-, sondern eine „Christus“-Mystik anstrebt, steht dazu nicht
in Widerspruch, weil „Christus“ für Paulus der Platzhalter des
Ganzen ist: „Christus“ ist das exemplarische „Bild
Gottes“ (2Kor 4,4), „der neue Adam“ (1Kor 15,45) und damit
gleichzeitig auch das, was die Buddhisten „Buddha-Natur“ nennen,
also das tiefste Wesen des Menschen, das Jesus in seiner Selbstbezeichnung
„Menschensohn“ anspricht (u.a. Mt 9,6).
In der
Sprache, die ich hier verwende, könnte die paulinische Mystik, die in 1
Kor 15,28 („dass Gott alles in allem sei“) kulminiert, etwa so
ausgedrückt werden:
Die
menschliche Natur (das „Abbild Gottes“) befindet sich in
ständiger Kommunikation mit dem Ganzen der schöpferischen Kraft, mit
dem Schöpfergott, mit dem „Vater“. Die Resultate dieser
Kommunikation werden den Menschen als ihre innere Wahrheit erkennbar und lenken
sie so, wie Jesus es in der Bergpredigt dargestellt hat. Damit kann unsere
menschliche Natur, der menschliche Wesenskern, das „Ebenbild
Gottes“ des Schöpfungshymnus, als der eigentliche Erlöser
(Messias, Christus) bezeichnet werden, sofern sich ihr Träger, der
konkrete Mensch, eben wie im Schöpfungshymnus, doch auf die
ursprüngliche Ganzheit angewiesen und von dieser getragen weiß; dann
wird es ganz natürlich sein, zu spüren, was die Teile brauchen und
auf jeden einzelnen von ihnen im Geist des Ganzen zu reagieren, so wie Jesus es
in der Bergpredigt dargestellt hat.
Durch
sein Handeln hat Jesus diesen Erlöser in idealtypischer Weise
verkörpert. Jeder, der sich das wirklich klar macht, vollzieht in sich
selbst den Weg, den Jesus gegangen ist, nach. Er erkennt seine Getrenntheit und
löst sich von deren Agens, dem „Ego“. Er „stirbt
für die Sünde“, wie Paulus sagt [Röm 6,11]. Dadurch wird
er verbunden mit der eigentlichen Quelle seines Lebens. Nun kann der Geist (das
„Pneuma“, der göttliche Lebensatem) wirken und ihn in das
Geheimnis des Lebens einführen. Er erlebt seine Geschöpflichkeit und
darin eine „Auferstehung“, ein neues Leben auf einer neuen Basis
– nämlich auf der Basis seiner inneren Wahrheit, der
„Stimme“ seiner göttlichen Natur, der nun alles Künftige
unterworfen ist. Und dann
unterwirft sich auch die immer noch individuell-lokalisierte menschliche
Natur, sodass dann nur noch die eine schöpferische Kraft bleibt.
Die Wirkung, die Jesus hatte
Da Jesus
seinem Traum, seiner inneren Wahrheit, seiner Wahrnehmung „des Willens
des Vaters“, wirklich traute, da er sein Leben darauf aufbaute, war es
ihm möglich, unglaubliche Dinge zu tun – denn nicht er wirkte,
sondern „der Vater“, also die schöpferische Kraft, bewirkte,
was er tat. Die Menschen waren fasziniert. Sein Vertrauen war ansteckend.
Leute, die sich bereits aufgegeben hatten, konnten ein anderes Lebensprinzip in
sich entdecken (– genau das, dem heute beispielsweise auch die geretteten
anonymen Alkoholiker ihr neues Leben verdanken). So konnten sie neue Hoffnung
schöpfen und ihre Hoffnung wandelte sich in Vertrauen – und das
Vertrauen veränderte ihren Zustand. Wenn sie sich schuldig gefühlt
hatten, konnten sie glauben, dass ihnen vergeben worden war; wenn sie krank
waren, konnten sie glauben, dass sie gesund sein würden.
Da Jesus
bewusst aus der Quelle der schöpferischen Kraft schöpfte (seines
„Vaters“), von der er wusste, dass sie Quelle und innerste Natur
aller Menschen war (der „Kinder Gottes“), war er imstande jenes
grenzenloses Vertrauen auszustrahlen, das die Menschen in seiner Gegenwart dazu
brachte, darauf zu vertrauen, dass sich das Schlimmste in das Beste verwandeln
könnte.
Wo immer
Jesus auftauchte, wurden Menschen zu ihm gebracht, die ihr Vertrauen verloren
hatten und krank geworden waren, und sie wurden geheilt. „Dein Vertrauen
hat dich heil gemacht“, sagte er ihnen. Menschen, die sich schuldig
fühlten, kamen zu ihm und fanden – in erschütternden
Erfahrungen – Vergebung, nicht durch ihn, sondern durch die Quelle ihres
Lebens, die sie durch ihn neu entdeckt hatten – und die sie aus ihrer
Absonderung und Entfremdung befreite und sie wieder in das Ganze integrierte,
so dass sie sich „heimgekommen“ fühlen konnten,
glücklich, stark und voll Vertrauen.
Aber mit
seinen Schülern war alles anders. Immer musste er sich bei ihnen über
ihr mangelndes Vertrauen beklagen: „Oh, ihr Kleingläubigen!“
Was
würden sie brauchen, um wiedergeboren zu werden . . .?
Die Beschränkungen, denen
Jesus unterworfen war, und wie er sie überwunden hat
Jesus
träumte nicht von einer äußerlichen, religiös-politischen,
gesellschaftlichen Revolution, wie andere Revolutionäre. Er erstrebte
einen existentiellen
Verwandlungsprozess, den er als „das Kommen des Reiches
Gottes“ beschrieb. Im Unterschied zum Ergebnis einer Revolution ist das
Kommen des Reiches Gottes nicht ein äußerliches Phänomen,
sondern das Ergebnis einer inneren Transformation, einer bestimmten Art die
Welt wahrzunehmen und des Verständnisses dessen, was es bedeutet, ein
Mensch zu sein. Diese Art des Wahrnehmens bleibt nicht auf das Individuum
beschränkt, sondern es erzeugt eine Gemeinschaft von gleichgesinnten
Menschen. Doch das kann niemals ein für allemal verwirklicht werden, denn
jeder Mensch in jeder Generation nach Jesus muss den Verwandlungsprozess, auf
den er hinarbeitete, selbst von Neuem durchmachen. Deshalb war das
Entscheidende an der Arbeit Jesu, dass er seine Schüler befähigte,
den Hebel zu dieser Verwandlung zu begreifen, handhaben zu lernen und dann an
ihre Schüler weiterzugeben.
Die Verwandlung, die Jesus erstrebte
und aus der seine Zuversicht, sein Traum und seine Fähigkeit, Vertrauen zu
vermitteln entsprangen, kann nicht
erreicht werden durch einen linearen kontinuierlichen Lernprozess,
sondern sie ist ein abrupter Vorgang, in dem das Alte radikal zu Ende gehen
muss, bevor das Neue erscheinen kann, wie er es in dem Bild vom Sterben des
Samens beschrieben hat, das nötig ist, damit aus dem Samen neues Leben
hervorgehen kann.
Der
„Knackpunkt“ der Verwandlung ist der eigene Tod.
Die
Kranken und die Sünder, die durch Jesus ihre Verwandlung erfahren hatten,
waren bereits an dem Punkt angelangt, an dem ihr Leben verwirkt war. Sie waren
in gewisser Weise bereits tot. Sie hatten nichts mehr woran sie festhalten
konnten. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten sich auf die Chance einlassen, die
Jesus ihnen bot. Sie mussten sich abkehren von ihrem vergangenen Leben und ganz
neu anfangen. Deshalb konnte der kleine Impuls, der von Jesus kam, in ihnen
eine radikale Verwandlung bewirken und ein ganz neues Leben in Gang setzen.
Ganz
anders war das bei seinen Schülern: Ihr Leben war intakt – aber es
beruhte auf einer völlig anderen Grundlage als das Leben Jesu. Wie
hätten sie daher die Aufgabe übernehmen können, die ihnen in
seinem Traum zukam?
Er hatte ihnen gesagt, dass sie die gleichen Dinge tun konnten, wie er (Joh
14,12), aber sie waren nicht fähig gewesen, es ihm zu glauben. Neben ihm
und im Vergleich zu
ihm fühlten sie sich klein und kraftlos. Warum?
Ihr
Leben beruhte – noch – auf ihrem alten, menschlichen Ich, sie waren
noch nicht verwandelt. Das Göttliche, das Jesus lenkte, hatte in ihnen
noch nicht die Führung übernommen. Wie aber sollte das Göttliche
in ihnen die Führung übernehmen, wenn diese Verwandlung ihren Tod
voraussetzte? Was konnte das „stirb, bevor du stirbst“, die Basis
jeder mystischen Verwandlung, in ihnen hervorrufen? Er musste sie an den Rand
ihrer Existenz katapultieren, ohne ihr physisches Überleben zu
gefährden. Doch wie konnte er das erreichen?
Er
musste ihnen das nehmen, worauf sie ihr derzeitiges Leben stützten. Da die
Verwirklichung seines Traumes von seinen Schülern abhing, musste er sich
selbst aus ihrem Leben entfernen. Er musste sterben!
–
Manche Exegeten meinen, dass Jesus das doch gar nicht in dieser Klarheit gesehen
haben kann, als der biedere „Wanderprediger“, für den sie ihn
halten. Was aber, wenn diese Exegeten nur deshalb dieses Bild von ihm
entwickelt hätten, weil zuzugestehen, dass er eine derartige Klarheit
gehabt haben könnte, ihr Bild von sich selbst (ihre „Persona“)
zerstören würde? –
Wie schon für die Propheten vor ihm, war die Verwirklichung seines
Traumes für Jesus wichtiger als sein physisches Überleben. –
Später ist daraus jene Opfertheologie entwickelten worden, die für heutige
aufgeklärte Menschen völlig unnachvollziehbar ist, von dem Gott, der
seinen einzigen Sohn opfert als Ersatz für die Opfer, die fällig
wären, um die sündige Menschheit mit sich zu versöhnen. Jesus
liegt eine derartige Sicht fern. Sie stammt aus der Erfahrungswelt
absolutistischer merkantiler Tyrannen. Heute kann diese Opfertheologie fast
niemand mehr verstehen, weil Gott in der Weltsicht unserer Kultur kein
buchhalterischer Tyrann mehr ist, sondern die Kraft, die das Potential zur
Entfaltung bringen will – und genau so hat Jesus selbst es auch gesehen.
Er wollte kein Opfer bringen, sondern eine Wirkung erzielen.
Damit
sein Traum wahr werden konnte, musste Jesus sein Leben hingeben.
Jesajas
Lied vom geschlagenen Gottesknecht (Jes 53) diente ihm als Vorbild. Es gab
keinen Mangel an Feinden, die ihn beseitigen wollten. Alles, was er tun musste,
war, dem Pfad des Gottesknechts zu folgen.
Er sagte
seinen Schülern, dass er leiden würde müssen, und dass das
ihretwegen notwendig war – und dass er dann wiederauferstehen würde.
–
Auch
wenn moderne Exegeten nicht sicher sind, ob Jesus dieser ganze Komplex bereits
so klar bewusst gewesen sein konnte, wie er in der späteren Theologie
bewusst geworden ist, geben sie doch zu, dass er mit der Möglichkeit
seiner Hinrichtung gerechnet hat; warum sollte er also nicht – so wie ich
es hier annehme – die über seinen Tod hinausgehende Entwicklung
vorhergesehen und die Wirkung seines Todes auf seine Schüler und damit
sogar seinen Tod selbst bewusst eingesetzt haben? So wie ich Jesus sehe, hat er
genau das getan.
Er
redete mit ihnen über seinen Tod, doch sie verstanden ihn – noch
– nicht. Immer wieder sprach er zu ihnen über sein kommendes Leiden,
um sie darauf vorzubereiten. Sie verstanden ihn bis zum letzten Moment nicht.
Nur Minuten vor seiner Verhaftung schliefen sie ein, weil sie immer noch nicht
begreifen konnten. Und als er hingerichtet wurde, hatten sie vor allem Angst um
sich selbst. So ist das eben bei Menschen, die für sich leben.
Dennoch
hatte er sie bestens vorbereitet auf die Zeit nach seinem Tod: Er hatte ihnen
ein Ritual von Brot und Wein gegeben.
–
Wenn moderne Exegeten auch hier meinen, dass er das, was später zum
Sakrament geworden ist, nicht als solches eingesetzt haben kann, so müssen
sie doch zugeben, dass er eine klare Spur dahin ausgelegt hat, weil er seinen
Schülern schon lange vor dem letzten Abendmahl klar gemacht hat, dass im
Essen Gemeinschaft entsteht und in dieser wieder die große Ganzheit
fühlbar wird. Schon allein dadurch konnte seinen Jüngern seine
Gegenwart dann im Mahl bewusst werden. Aber warum eigentlich sollte er das
volle Potential dieses Zeichens nicht erfasst und ganz bewusst eingesetzt
haben? Nur weil sich heutige Theologen das nicht vorstellen können?
–
Meine
Erfahrung zeigt mir, dass Menschen, die nicht in ihrer „Persona“
gefangen sind, die Wirklichkeit in einer Tiefe erfassen, von der die anderen
nur träumen können. Deshalb habe ich keinen Zweifel daran, dass Jesus
diesen Ritus von Brot und Wein ganz bewusst als ein Sakrament eingesetzt hat.
Und damit hat er, in meiner Sicht,
seinen Schülern und deren Schülern bis herauf in unsere Tage die
Möglichkeit gegeben, wie Meister der Hindus es in ihren
„Darshans“ tun, ihm jederzeit persönlich zu begegnen. Und mit
ihm konnten sie nun ihrer eigenen, vom Vater stammenden, göttlichen Natur
begegnen und damit sich als kongeniale Teile des (schöpferischen) Ganzen
sehen, wie er es getan hatte. – Und hier liegt, in meinen Augen, der
Schlüssel zum Verständnis seines ganzen Lebens.
Alle,
die je seine Nachfolge antreten wollten, sollten in diesem Ritus immer wieder
die Hingabe erfahren können, aus der heraus er sein Leben gelebt und
eingesetzt hat. In dieser Hingabe war Jesus nicht durch menschliche, sondern
durch göttliche Motive bewegt – in anderen Worten, in dieser Hinsicht
war er nicht ein menschliches, sondern ein göttliches Wesen – und
indem die Jünger selbst in ihrer Nachfolge „in Christus gekreuzigt
werden“, wird das Göttliche auch seine Schüler lenken (wie der
Apostel Paulus es in Gal 2,20 sagt). Damit hat Jesus sein Ziel erreicht. Indem
er den göttlichen Grund in ihnen zum Tragen brachte, der immer bereit ist,
sich den Notwendigkeiten des Ganzen zu unterwerfen, sind seine Jünger
wirkliche Nachfolger geworden.
Damit
ist es ihm über die Schwelle seines Todes hinweg gelungen, einer bis heute
endlosen Zahl von Menschen den Hebel zu dieser Transformation zu zeigen, so
dass sie ihn aktivieren und damit zu einem völlig neuen Leben erwachen
konnten, sodass diese geweckten Menschen in seinem Sinne weiter wirken und
seine Nachfolge in immer neue Leben hineintragen konnten.
Das ist
der gewaltige Berg, den der „Menschenfischer“ Jesus bewegt hat und
den er durch sein damaliges Wirken nach 2000 Jahren immer noch weiter bewegt.
Das Kraftwerk im Inneren: die
innere Wahrheit
Vielleicht
darf ich es auch so ausdrücken: Nichts Künstliches war an Jesus. Er
war menschliche Natur pur. Er war kein Moralist, er war kein Liberaler, er war
kein Anhänger irgendeiner Ideologie. Er ist einfach seiner inneren
Wahrheit gefolgt. In heutigen Worten: Er wusste, dass er zur Gänze aus schöpferischer
Kraft bestand. Das hat er gemeint, als er sagte, er und der Vater wären
eins. Er wollte damit nicht sagen, dass andere nicht eins mit dem Vater sein
konnten. Er wusste, dass jeder, der seiner inneren Wahrheit folgte, eins mit dem
Vater war, weil die schöpferische Kraft doch das Wesen eines jeden Menschen
ist – so wenig davon auch denen spürbar wird, die sich nicht radikal
von ihrer inneren Wahrheit steuern lassen.
Abraham
hatte die Kontrolle über sein Leben radikal seiner inneren Wahrheit
anvertraut und sich damit abgewandt von der Tradition seiner Väter; Moses
hatte in seiner inneren Wahrheit den Gott seiner Väter wiederentdeckt;
alle Propheten hörten Gottes Stimme als ihre inneren Wahrheit und Jesu
Schüler konnten sich ebenfalls ihrer inneren Wahrheit anvertrauen. Es gab
nur diese Bedingung: Sie mussten zunächst „für sich“
sterben, um dann aus ihrem göttlichen Grund heraus neu leben zu
können. Auf diese Weise würden sie während ihres gesamten Lebens
richtig geleitet werden – in einem Bild der Sprache Jesu: „der
Heilige Geist“ würde sie führen. Und auf diese Weise
würden sie fähig werden, die Dinge zu tun, die er getan hatte und
seine wirklichen Nachfolger werden.
Aber
Jesus wusste auch, dass das Hören auf die innere Wahrheit in Schwierigkeiten
führen kann, weil es in der Gesellschaft zu jeder Zeit Züge gibt, die
ein freies Individuum nicht tolerieren, sondern Konformität verlangen.
Deshalb hat er vorhergesehen, dass seine Schüler in Schwierigkeiten
geraten würden, wie er in Schwierigkeiten geraten war. Und auch darauf
hatte er sie auf vielfache Weise vorbereitet – zuletzt durch sein
Beispiel, bei der inneren Wahrheit zu bleiben, sogar wenn das in Leiden oder
Tod führen sollte. Sie brauchten keine Angst haben vor einem derartigen Schicksal.
Er war ihnen diesen Weg vorangegangen. Er würde an ihrer Seite sein,
immer.
Tod und Auferstehung
Zuerst
aber musste Jesus in aller Körperlichkeit seinen Weg nach Golgatha
gehen...
Nachdem
seine Schüler seinen Leichnam in sein Grab gelegt hatten, begann für
sie der schmerzhafte Prozess ihrer Wiedergeburt – genau in der Weise, die
er vorhergesehen hatte:
Wer
schon in der Grabeskirche in Jerusalem war, konnte wahrscheinlich den
unendlichen Schmerz fühlen, den der Verlust Jesu für seine
Jünger bedeutete – und genau dieser Schmerz war (und ist) es, der
die Auferstehung (das wieder lebendig Werden Jesu in seinen Jüngern)
bewirkt hat, denn genau durch diesen unendlichen Verlust sind die Apostel an
ihr persönliches Ende gelangt, an das die Kranken durch ihre Krankheit und
die Sünder durch ihre Verlorenheit gelangt waren. Jesus musste also
sterben, um die Jünger zu dem „stirb bevor du stirbst“ zu
führen, zu dem Punkt der Verwandlung, dem Ausgangspunkt jeder Mystik. Mit
seinem Tod hat er den Tod ihres menschlichen Ichs notwendig gemacht – und
damit ihr neues Leben auf göttlicher Basis hervorgerufen. Und in diesem
neuen Leben war der Jesus, der dieses neue Leben in ihnen erzeugt hat, für
sie lebendig.
In
unserer heutigen Alltagssprache ausgedrückt: Nach schier endloser
Verzweiflung begriffen sie die Irreversibilität des Todes Jesu. Dann
erinnerten sie sich an seine Worte, dass sie die gleichen Dinge tun konnten wie
er, wenn nicht noch größere. Und zudem wurde ihnen klar, dass sie
gar keine Wahl hatten: entweder sie würden in seine Fußstapfen
treten oder ihr ganzes Leben würde sinnlos sein.
Sie
waren hineingeworfen ins kalte Wasser und sie mussten schwimmen, wenn sie
überleben wollten. Und so wurden sie zwei Tage nach seinem Tod –
quasi in einem Überlebenskampf – der ganzen Größe der Kraft gewahr, die in ihnen bis
zu diesem Augenblick geschlummert hatte.
Diese
Erfahrung ließ sie nun verstehen, warum Jesus dieses grauenhafte
Schicksal auf sich genommen hatte. Gemeinsam wurden sie sich der
göttlichen Hingabebereitschaft bewusst, die Jesus motiviert hatte, sein
Leben für sie einzusetzen. Und in diesem Moment begannen sie, diese
Hingabebereitschaft in sich selbst zu spüren. Jetzt wussten sie, welche
Kraft die Kranken geheilt hatte.
In einer
lebenserschütternden Erfahrung fühlten sie, dass das ganze Wesen Jesu
jetzt in ihnen gegenwärtig war. Alles, was er ihnen über diesen
Augenblick gesagt hatte, war eingetroffen. In einer überwältigenden
existenziellen (mystischen) Erfahrung fühlten sie, dass Jesus lebt.
Das
bekannten sie als seine „Auferstehung“. Was sie erlebten, war
eigentlich ihr eigener Tod und ihre eigene Auferstehung und ihr neues Leben,
das nun auf eine neue, nicht mehr „menschliche“ (besser: nicht mehr
ego-hafte), sondern göttliche Basis gestellt war.
Die
Auferstehung Jesu war also eine spirituelle Begegnung – und das ist in
meinen Augen der Grund dafür, warum der Evangelist Markus nicht eine
einzige Erscheinung des auferstandenen „Christus“ erwähnt.
Wie ein Mensch so kraftvoll
werden kann, wie Jesus es war
Nun
wussten sie, dass sie die Arbeit fortsetzen konnten, die er begonnen hatte. Und
so bereiteten sie sich jetzt darauf vor. Wie sich Jesus auf seine Arbeit mit
einem vierzigtägigen Fasten vorbereitet hatte, bereiteten sie sich jetzt
ebenfalls vierzig Tage lang vor, indem sie minutiös alles rekapitulierten,
was sie mit Jesus erlebt hatten. Dann, nach einer Pause von zehn Tagen, um die
fünfzig Tage zwischen Pesach und Schawuot voll zu machen, die die Zeit
zwischen der Sklaverei in Ägypten und dem Gesetz des Berges Sinai
symbolisieren, waren sie schließlich bereit.
Die
jüdische Tradition spricht über diese Zeit zwischen Pesach und
Schawuot als von der Zeit, in der sich die Hüllen um das Getreidekorn nach
und nach lösen, so dass es dann reif ist zur Ernte; analog lösten sich
in den Jüngern jetzt die Hüllen um ihren göttlichen Kern. Zu
Pfingsten war ihr altes menschliches Ich abgestorben, nicht mehr sie lebten,
sondern Christus lebte in ihnen. Sie waren erfüllt von Heiligem Geist. Und
dadurch waren sie nun nichts als Vertrauen und Zuversicht.
Vielleicht
war es so: Am 50. Tag nach Ostern waren sie so glücklich in dem Haus, das
sie für Pesach gemietet hatten, dass sie vor Freude schrille Töne
ausstießen und herumtanzten. Sie machten so viel Lärm, dass sich auf
der Straße die Leute fragten, was der Grund dafür sein konnte. Von
ferne sogar kamen Leute herbei, um herauszufinden, was los war. Nachdem einige
von ihnen einen Weg gefunden hatten, in das Haus hineinzuschauen und dort die
Jünger freudig herumspringen und singen gesehen hatten, sagten sie zu der
Menge draußen, die Leute drinnen wären einfach betrunken.
Diese
Bemerkung drang an die Ohren der Apostel und sie kamen ans Fenster.
Überrascht, eine derart riesige Menschenmenge vor dem Haus versammelt zu
sehen, ergriff Petrus die Gelegenheit, sie alle anzusprechen. Er erklärte,
was geschehen war. Er sagte ihnen, was er und die anderen Jünger gerade
mit jeder Faser ihres Seins erkannt hatten: dass Jesus nämlich
tatsächlich der Messias war – nicht der jubilierende Messias, den
die meisten Leute erwartet hatten, aber der wirkliche Messias, der gekommen
war, um das Reich Gottes aufzurichten, welches vollständig unabhängig
war von jeglichen politischen Verhältnissen. Es war nur abhängig von
den Menschen, die in ihm leben wollten.
Der Funke
ihrer Begeisterung entzündete die Flammen der Inspiration in der Menge.
Und dreitausend, sagt die Apostelgeschichte, Paulus meint fünfhundert, von
den Leuten, die sich versammelt hatten, entschlossen sich, Anhänger, wenn
nicht Nachfolger ihres gerade entdeckten Messias zu werden. Das war der erste
Tag von dem, was später als die christliche „Kirche“ bekannt
wurde, vom griechischen „kyriake“, Versammlung des Herrn Jesus.
Als sie
die Hingabe betrachteten, die Jesus gelebt hatte, und als sie sahen, wie makellos
Jesus seinen Traum verwirklicht hatte, begannen sie, ihn und seine Mission als
göttlich zu erkennen. Jesus selbst wurde die Mitte ihrer Botschaft, denn
ein besseres Beispiel für seine Botschaft und eine bessere Erfüllung
seines Traumes waren gar nicht denkbar. Sie begannen, ihn als das im realen
Leben erschienene „Bild Gottes“ zu betrachten, das archetypisch,
als Potenz, im Schöpfungshymnus beschrieben ist. Er war ein derart
getreues Bild, dass ihrem Empfinden nach jeder Mensch Gott in ihm erkennen konnte.
Die Erschaffung des Mythos: Das
Vertrauen schwindet
Aber ein
wirklicher Nachfolger von Jesus zu werden, wie er es wollte, ist ein hohes
Ziel. Viele fühlten sich durch die Idee angezogen, aber nur wenige waren
fähig, den Entschluss zu fassen, diesen Weg tatsächlich zu gehen;
dennoch aber wollten sie damit assoziiert sein. – Sie, lieber Leser,
sehen, dass jetzt wieder die „Persona“ gerettet wird und nicht der
Mensch. – Daher verwandelten spätere Nachfahren die Erfahrung der
Jünger in einen Mythos, den Mythos vom einzigen Sohn Gottes, der so hoch
über den Menschen stand, dass niemand hoffen konnte, ihn nachahmen zu
können. Und so trat seine Forderung, dass seine Schüler das werden
sollten, was er gewesen war, in den Hintergrund und die meisten „Nachfolger
Christi“, hörten auf, zu versuchen, ihn nachzuahmen. Stattdessen
gaben sie sich damit zufrieden, sich „Christen“ zu nennen, und der
„Kirche“ anzuhängen, die jetzt vor allem eine Gemeinschaft von
Leuten war, die sich dazu bekannten, dass Jesus ihr Erlöser war. –
Das alles auch im Zuge der durch das Anwachsen der Anhängerschaft
notwendig gewordenen Strukturierung der Gemeinschaft.
Diese
Faktoren führten dazu, dass wirkliche Hingabe an den Willen Gottes nun von
vielen nicht mehr für nötig gehalten wurde, dass Vertrauen ersetzt
wurde durch bloßes für wahr halten von Sätzen, dass die
Gruppenidentität wichtiger wurde als die eigene innere Wahrheit –
mit allen Folgen, die sich daraus bis herauf in unsere Tage ergeben –
etwa dass die gegensätzlichen Gruppenidentifikationen mittlerweile zu
außerordentlich gefährlichen globalen Konflikten führen.
–
An diesem Punkt trat ein Problem auf, das am Anfang nicht existiert hatte:
Menschen, die durch ein Schlüsselerlebnis Mitglieder der Kirche geworden
waren, wurden rückfällig und brauchten nach der ersten, mit der Taufe
verbundenen Sündenvergebung eine erneute Sündenvergebung. Das
„gestorben für die Sünde“ (Röm 6,11) wurde nicht
mehr radikal gedacht, die mystische Einheit mit Christus, von der Paulus
beseelt war, wurde nicht mehr erreicht. Sie wurde ersetzt durch
Gruppenidentifikation. Daher brauchte es jetzt ein von der Taufe
unterschiedenes Sakrament der Buße, das Identifikationseinbrüche
offiziell heilen konnte. –
Während
Jesus Wert darauf gelegt hatte, die traditionell Ausgeschlossenen mit
einzuschließen, begannen außerdem nun mächtig Gewordene, alle
auszuschließen, die die genaue Formel ihres „Bekenntnisses“
nicht teilten.
Das
Christentum wurde ein Massenphänomen. Von da an war es auch innerhalb der
Kirche nur noch eine Minderheit, die begriff, dass Jesus sie zu wirklichen
Nachfolgern machen hatte wollen, die ihr Leben aus ihrer inneren Wahrheit
heraus lebten und die vollkommen auf die Möglichkeit vertrauten, den Traum
zu verwirklichen, der aus ihrer Verbundenheit mit dem Ganzen resultierte.
Während
Jesus mit offenen Armen dagestanden und alle willkommen geheißen hatte,
bildete der Mythos nun eine Schwelle, die Menschen abwies. Viele der Skeptiker
durch alle Zeitalter hindurch wären willens gewesen, echte Nachfolger Jesu
zu werden, doch sie konnten den Mythos nicht akzeptieren, der ihnen als ein
Märchen erschien. So ist die Aussage Jesu über einige religiöse
Führer seiner Zeit bis heute gültig geblieben: „Weh euch,
Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen. Ihr
selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr
daran gehindert.“ [Lk 11,52]
Es ist
zu keiner Zeit die Spiritualität, die fehlt – denn Menschen sind
immer Miniaturen des Ganzen und stets mit dem Ganzen verbunden. Ihre
menschliche Natur hat sich zur Gänze aus der schöpferischen Kraft
entwickelt, und in ihrem Wesen kann sie niemals etwas anderes sein als reine
schöpferische Kraft. Zu jeder Zeit birgt diese im Innersten jedes Menschen
den Ruf zur Entfaltung. Zu jeder Zeit haben die Menschen daher ihren Traum von
einem Himmel, in dem alles Schlechte in etwas Gutes verwandelt wird. Deshalb
kann der archetypische „Sohn Gottes“ seine Brüder und
Schwestern zu jeder Zeit erreichen, heute genauso wie je zuvor, allerdings nur
mit seiner ursprünglichen Stimme und nur schwer aus dem Grab des Dogmas,
in dem er mithilfe des Mythos aufgebahrt wurde.
Obwohl
Jesus diese Gefahr gesehen hat und von der Macht, die sie ausübt, ums
Leben gebracht wurde, wusste er doch um die Notwendigkeit eines
institutionalisierten Korrektivs, um der Gefahr des individuellen Abgleitens
ins Egoistische und Utopische entgegenzuwirken. Deshalb hat er seine
Schüler beauftragt, ein solches Korrektiv zu bilden. Auch in seinem Volk
hat er die Institutionen der Priesterschaft oder der Partei der Frommen nie
abgelehnt, obwohl ihn die Konflikte mit deren Vertretern schließlich das
Leben kosteten – im Gegenteil, er hat sogar empfohlen, zu tun, was sie
sagen. Genauso wenig hätte er daher die neue institutionalisierte
Gemeinschaft seiner Nachfolger abgelehnt, obwohl auch in ihr nur wenige zu
wirklicher Nachfolge bereit waren. Er hätte sie nur klar darauf
hingewiesen, dass die neu definierten Merkmale der Gruppenidentität den
Menschen dienen müssen und ihnen nicht zu tödlichen Fallen werden
dürfen.
Eins mit der schöpferischen
Kraft den Tod überwinden
Genau
wie er es in seinem „Traum“ gesehen hatte, hat der reale Jesus den
Tod überwunden. Und so lebt er immer noch unter uns. Jeder, der
möchte, kann das erfahren. Indem wir sein Leben rekapitulieren, wie die
Apostel es nach Ostern taten, können wir lernen, wie auch wir den Tod
überwinden können: indem wir uns unserer inneren Wahrheit
verpflichten und unsere ganze Existenz in die Waagschale werfen.
Die
Beispiele von Abraham und der anderen Patriarchen zeigen, dass das Befolgen des
göttlichen Anspruchs der inneren Wahrheit gewöhnlich nicht bedeutet,
dass wir dabei unser physisches Leben verlieren, sondern viel eher, dass wir
dadurch in diesem Leben erfolgreich sein werden; und am Ende dieses Weges der
Hingabe werden wir „alt und lebenssatt“ unsere Augen
schließen und doch lebendig bleiben – auch als ein leuchtendes
Beispiel für die, die wir zurücklassen.
Und
persönlich werden wir auf diesem Weg in Bewusstheit zurückkehren
können in die Ganzheit der schöpferischen Kraft, von der wir
ausgegangen sind und dabei erkennen: Das alles bin ich!
Was
könnte es Größeres geben?
Zusammenfassung
Konzepte
und Worte, die innere Wirklichkeiten beschreiben, ändern sich mit der Zeit
– daher können die biblischen Bilder nicht buchstäblich
genommen werden; ihr Geist muss erfasst werden.
Jesus
hatte einen „Traum“: „das Reich Gottes“ und die ganze
Menschheit vereint unter dem himmlischen Vater – das Paradies. Es ist
jedermanns tiefster Traum. Er kann verwirklicht werden, weil jeder Mensch
göttlichen Ursprungs ist – Ergebnis des schöpferischen
Prozesses. Als ein wirkliches „Kind Gottes“, ist jeder Mensch pure
schöpferische Kraft. Alles, was nötig ist, ist Vertrauen, dann wird
alles möglich – sogar, inmitten äußerlich purer
Hölle, im Himmel sein.
Jesus
vertraute seinem Traum bis in den Tod hinein. Kranke wurden durch sein
Vertrauen geheilt. Doch seine Schüler konnten dieses heilende Vertrauen
nicht in dem Maß finden, wie es für die ihnen zugedacht Aufgabe
notwendig war. Im Vergleich zu ihm fühlten sie sich kraftlos. Sie lebten
noch ihr menschliches Ich. Da die Verwirklichung seines Traumes aber von ihnen
abhing, musste er sie auf den Weg der Wiedergeburt führen, der aber den
Tod des menschlichen Ich voraussetzt. Jesus hatte keine Wahl. Er musste er
ihnen das nehmen, womit sie sich identifiziert hatten: sich selbst.
Nach
seinem Tod brach die Welt seiner Jünger zusammen. Sie hatten nun niemand,
auf den sie sich stützen hätten können. Sie waren auf sich selbst
zurückgeworfen – doch da war nichts. Und wie er es erwartet hatte,
begann in ihrer Verzweiflung etwas anderes in ihnen die Führung zu
übernehmen, ihr göttlicher Grund. Und damit konnten sie die Welt mit
den gleichen Augen betrachten, mit denen er sie gesehen hatte. Sie sahen nun
die Wahrheit seines Traumes; ihre Angst verschwand. Sie wurde ersetzt durch
Vertrauen auf die Gegenwart der göttlichen Kraft und so wurden sie seine
Nachfolger. Damit war die Aufgabe, zur Wiedergeburt zu führen, auf sie
übergegangen.
Bald war
es eine ganze Gemeinschaft von Verwandelten, die den Traum Jesu vom Reich
Gottes auf Erden weiter trug, und jeder von ihnen wurde ein wirklicher
Nachfolger Jesu.
Nach
einer Weile aber fanden es viele zu anstrengend, diesem Weg zu folgen. Stattdessen
schufen sie einen Mythos, in welchem Jesus der einzige Sohn Gottes war. Alles,
was sie von da an zu tun hatten, war, sich zu seinem Namen zu bekennen. Auf
diese Weise wurde seine Lehre weithin bekannt, aber sie wurde von vielen nur
noch oberflächlich verstanden; und sie verlor ihre Anziehungskraft
für Menschen, die in ihrer persönlichen Entwicklung das Stadium der
Mythen überwunden hatten.
Wenn wir
uns heute jedoch wieder auf die Intention konzentrieren, die Jesus selbst
gehabt hat, haben auch wir wieder die Chance, verwandelt zu werden, echte
Nachfolger zu werden, und dadurch wirklich einen Unterschied in dieser Welt zu
machen und den alten Menschheitstraum vom „Paradies jetzt“ zu
verwirklichen.
Wir
müssen dazu nicht einmal den Mythos auflösen, sondern uns nur bewusst
machen, dass Mythen der Traumsprache angehören und nicht als materielle
Wirklichkeit verstanden werden dürfen, weil wir sonst dem spirituellen
Materialismus anheimfallen.
Von da
her können wir uns klar machen, dass die mystische Sprache der Apostel
zunächst in die mystische Sprache der Zeit des Hellenismus übersetzt
wurde und heute in unsere heutige mystische Sprache weiterübersetzt werden
muss:
Der notwendige evolutionäre
Sprung im Verständnis des Dogmas der Trinität
Nachdem
seine Schüler die Aufgabe Jesu und ihre Verwirklichung durch ihn als
göttlich erlebt hatten, wurde die Person Jesu gegen Ende des Altertums,
unter dem Einfluss hellenistisch-mythologischen Denkens und der Tatsache, dass
das Christentum nun Staatsreligion des römischen Reiches geworden war,
dogmatisch als Gottes Sohn definiert, gleichzeitig wahrer Mensch und wahrer
Gott, die zweite Person der göttlichen Trinität, präexistent vor
aller Schöpfung.
Unter
diesen gesellschaftlichen Bedingungen formulierte Dogmen können nur
negative Gefühle wecken in einer Zeit, in der die Menschen froh sind,
solche Bedingungen (Mythologisierung und absolute Herrschaft) überwunden
zu haben – was in meinen Augen der Grund ist für den Hass vieler
Aufgeklärter gegen Christentum und Kirche.
Die aus
dieser zum Glück vergangenen kulturellen Situation stammende Sicht muss
heute daher modifiziert und erweitert werden, beginnend mit den Grundlagen:
Jesus
spielt nicht nur für seine unmittelbaren Schüler eine ganz besondere
Rolle, sondern für alle Generationen seither bis in unsere Zeit –
denn aus der völkischen Religion der Juden ist durch ihn eine gewaltige
internationale religiöse Bewegung entstanden, das Christentum. Deshalb
wird es aus der Sicht einer jeden
Religion korrekt sein, zu sagen, dass Jesus eine besondere Rolle im
göttlichen „Heilsplan“ spielt. Ausgehend von dieser Tatsache
aber können die Formulierungen der christologischen Dogmen, die für
diese besondere Rolle gefunden worden sind, unter den heute veränderten
Bedingungen neu durchdacht werden:
Die
unmittelbaren Schüler Jesu dachten von ihm nicht in einschränkenden
Kategorien. Daher können wir den Faden aufgreifen, den Jesus uns gelegt
hat in dem Ausdruck „Vater“. Er hat diesen Ausdruck ununterschieden
benützt, um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen zu beschreiben,
wie auch zwischen Gott und sich selbst.
Logischerweise
kann es zwischen Vater und Kind keinen Unterschied in der Natur
geben. Daher bezieht
sich das, was im Dogma mit der „zweiten göttlichen Person“
gemeint ist, nicht nur auf Jesus – und da wir schwerlich einen Teil der
Schöpfung ausschließen können, nicht einmal nur auf die
Menschheit, sondern es meint, genau betrachtet, die Schöpfung insgesamt.
Dennoch
ist seine Bedeutung in Jesus bereits in exemplarischer Weise verwirklicht,
während in den meisten Menschen die Verwirklichung noch aussteht. Das
Bewusstsein davon zu wecken war ja das Ziel seines Traums vom Reich Gottes.
In
heutigen Worten: Von Natur aus stammen wir von der schöpferischen Kraft
ab. Biblisch ausgedrückt sind wir von Anfang an „Bilder von
Gott“ [Gen 1,26] oder „Kinder Gottes“ [Mt 5,9]. Obwohl das an
diesen Stellen der Heiligen Schrift als Fakt dargestellt wird, ist es subjektiv
zunächst nur eine Potenz, die „Macht, Söhne Gottes zu
werden“ [Joh 1,12], und wir können von dieser Macht nur Gebrauch
machen, wenn wir Goethes Rat befolgen: „Was du ererbt von deinen
Vätern [also von der Schöpferkraft], erwirb es, um es zu
besitzen!“
Damit
haben wir die dogmatischen Formulierungen der ersten Konzilien über den
Gottessohn bereits auf alle Menschen angewandt – ohne von der
Besonderheit Jesu etwas weggenommen zu haben.
Wir
müssen uns dabei allerdings klar machen, dass diese Aussagen den Zustand
der unio mystica beschreiben. Wenn nämlich jemand, der sich gerade nicht
im Zustand der unio mystica befindet, sagen würde „ich und der Vater
sind eins“ oder „ehe Abraham ward, bin ich“, so wäre das
„Ich“, das das sagt, die „Persona“ und nicht der
Wesenskern. Es wäre purer Größenwahn, psychiatriereife Manie.
Wenn dieser Mensch es aber im Zustand der mystischen Einheit sagt, dann
drückt er damit seine essentielle Wahrheit aus. Nur – wer kann das
beurteilen? Es kann nur jemand beurteilen, der sich (vielleicht durch die
Begegnung mit der mystischen Einheit dieses Menschen) selbst in diesem Zustand
befindet. Von allen anderen würde eine derartige Aussage eher als
verrückt oder blasphemisch aufgefasst werden, wie das Beispiel derer
zeigt, die Jesus als Gotteslästerer verurteilt haben.
Doch
richtig verstanden, ihrem Wesen nach, das sich im Zustand der unio mystica
zeigt, sind alle Menschen, genau wie es die ersten ökumenischen Konzilien
definieren, „wesensgleich mit dem Vater“, „vollständig
der Gottheit und vollständig der Menschheit nach“, „in zwei
Naturen … die in einer Person … zusammenkommen“, die sich
aber in „zwei unterschiedliche Willen“ manifestieren. – All
das gehört zur allgemein menschlichen Erfahrung, die, nochmal, Goethe
formuliert: „zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust!“
In der
unio mystica tritt einer der beiden Willen zurück, nämlich der der
„Persona“. Dafür, dass der Wille der „Persona“
zurücktreten kann, braucht es den durch die (ursprüngliche)
göttliche Natur des Menschen ausgelösten „Heiligen Geist“,
durch dessen Leuchten die göttliche Spur im Leben sichtbar wird und dessen
begeisternder Antrieb in die mystische Einheit führt.
In
archetypisch klarster Form ist die essentielle Wirklichkeit des Menschen in
Jesus erschienen. Dadurch kommt Jesus eine einzigartige Aufgabe im
göttlichen „Heilsplan“ zu. Er hat in einem weltgeschichtlich
optimal wirksamen Augenblick „die“ Wahrheit verkörpert,
nämlich dass Gott im Menschen erscheinen kann. Er hat den Menschen die
Möglichkeit gezeigt, ihre eigene „Wohnung“ im „Reich
Gottes“ zu finden, also die eigene Rolle in der „Heilsgeschichte“
zu entdecken und zu spielen und damit die Schöpferaufgabe Gottes
weiterzuführen hin zu einer radikalen Erneuerung der Welt.
Dadurch
konnte sich eine ganz neue Kultur anbahnen:
Die heutige Sprache der Mystik
Was ich
gerade „göttlicher Heilsplan“ nannte, klingt, als ob jemand
außerhalb der Welt einen Plan hätte, aus dem sich die Weltgeschichte
entwickelt. Und in der Tat, so hat man das in absolutistisch regierten Zeiten
gesehen. Diesem alten Weltbild war auch die Sprache der Mystik verhaftet, die
sich in den alten heiligen Schriften niedergeschlagen hat. Ich habe dieses alte
Wort hier aber nur benutzt, um von dort eine Brücke zu schlagen zur
mystischen Sprache der Gegenwart.
In
unserer Zeit, in der die Zusammenhänge der Geschichte innerweltlich
erklärbar sind, wird auch das Göttliche nicht irgendwo anders
gesehen; und so sind die Augen, Ohren und Hände „Gottes“ heute
klarerweise die Augen, Ohren und Hände der Geschöpfe selbst.
Und doch
ist auch heute ein Geist des Ganzen erkennbar, eine Instanz, die den Überblick
hat, mit der alle „Teile“ verbunden sind und von der genau das
gilt, was in den alten heiligen Schriften von „Gott“ gesagt worden
ist. Aber auch diese Instanz ist nicht außerhalb, sondern erfahrbar im
Sinn jedes einzelnen Wesens für das Ganze.
So geschieht
es, dass einzelne Individuen, die sich durch den Zu-Fall ihrer
persönlichen Geschichte gewissermaßen an einer Schnittstelle der
Geschichte aufhalten, von der Welt, wie ich weiter oben sagte, eine Art
„Ruf“ empfangen zu einer mehr oder weniger umfassenden sozialen
Restrukturierung. Diese Restrukturierung kann dann möglicherweise einen
ganzen Äon mit vielleicht vielen Milliarden Menschen prägen.
Solcher
Art waren die historischen Rollen der Propheten, solcher Art war in
einzigartiger Weise die Rolle Jesu, der der nüchternen, undogmatischen,
individuellen und funktionalen Art zu denken den Boden bereitet hat, auf der
unsere wissenschaftlich-technische Kultur beruht. Ich erinnere nur an sein
„der Sabbat ist für die Menschen da, nicht der Mensch für den
Sabbat.“ Damit ist jedes Tabu aufgehoben. Von da an darf über alles
nachgedacht werden. Auch wenn das erst viel später die Gestalt der
Wissenschaften angenommen hat, weil sich dieses Denken während der
gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche der zu Ende gehenden Antike und des
Mittelalters noch nicht durchsetzen konnte, so hat er damit den Menschen doch
von Anfang an die Autorität zugesprochen, ohne Ausnahme alles zu
analysieren und das Gefundene zu ihrem Nutzen anzuwenden.
Und auch
das zweite Grundprinzip des Zeitalters der Aufklärung geht auf Jesus
zurück, die Trennung der Gewalten: Seine Weigerung, eine politische
Revolution anzustreben, findet ihren sprachlichen Ausdruck in seiner Aussage
„gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört und Gott, was Gottes
gehört“ (Mt 22,21). Damit nimmt Jesus das politische Prinzip vorweg,
das wir heute als den Hauptpfeiler unserer aufgeklärten westlichen Kultur
betrachten, den Säkularismus.
Damit
die sprachliche Brücke zwischen dem alten und dem neuen Äon halten
kann, muss ich noch auf eine weitere Tatsache hinweisen, nämlich dass das
in allem als Seinsprinzip anwesende Schöpferische auch so etwas wie ein
Bewusstsein davon erzeugt, wann ein Problem gelöst ist, wann etwas
„gut“ ist. Denn dieses Bewusstsein ist es, das die Schöpfung
durch alle Konflikte hindurch, die aus der Aufspaltung des Ganzen entstehen,
von Anfang an lenkt. Auch dieses Bewusstsein ist nicht etwas
Überirdisches, sondern es ist von Anfang an überall da. Dieses
Bewusstsein von einer besseren Welt, in heiligen Schriften auch
„Himmel“ genannt, ist gewissermaßen sogar der
„Vater“ allen Seins und logischerweise auch der Ursprung dessen,
was dann göttlicher „Heilsplan“ genannt worden ist.
Der
„Geist“ ist die Energie dahinter, das „göttliche“
Agens der Heilung, das, was zum Guten drängt und ohne das nichts
wäre.
Und
„unio mystica“ bedeutet, dass ein Mensch diese Prinzipien in sich
nicht nur vage fühlt, sondern dass sie in ihm ihren Ausdruck finden. In
idealtypischer Weise ist das in Jesus geschehen, der, indem er sein Leben
eingesetzt hat, eine weltgeschichtliche Wende ohnegleichen angestoßen hat
– egal wie viele heutige Zeitgenossen jeden ursächlichen
Zusammenhang ihres guten Lebens mit seiner Tat entrüstet von sich weisen.
Dabei
geht es gar nicht um Jesus, sondern ausschließlich um uns selbst und um
die Frage, wie wir höchstes Glück erreichen können. Jesus ist
nur ein Beispiel, an dem diejenigen, die sich dafür interessieren, das
Prinzip des Glücks am Werk sehen können: Es ist absoluter Gehorsam
gegenüber dem, was sich in der „unio mystica“ als der Weg
zeigt. Und so hat es auch Karl Rahner gesehen, als er meinte, ein
künftiger Nachfolger Christi würde ein Mystiker sein oder er
würde eben kein Nachfolger Christi sein.
Genau
dafür hat Jesus ganz bewusst sein Leben eingesetzt. Und deshalb ist er
trotz aller Relativierung dennoch „der Heiland“ für alle, die
seine Tat sehen können. Paulus hat die Wende in seinem Leben erfahren, als
er diese Tat sehen konnte – und ich hoffe, dass die Leser dieser Zeilen
sie nun auch sehen können, dass sie nun also das „Ich bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) persönlich erfahren
können – egal ob Jesus diesen Satz je gesprochen hat oder ob er, als
Zusammenfassung, der Einsicht des Evangelisten Johannes entsprungen ist.
Die Konsequenz
Ich
hoffe sehr, dass ein neuer Blick mit den Augen unserer Zeit auf die zentrale
Wirklichkeit Jesu das Verständnis der Christen für ihre Religion
wieder vertiefen kann.
Gleichzeitig
damit sollte sich die von Jesus initiierte neue Religion als kompatibel mit
allen Religionen dieses Planeten erweisen – beispielsweise mit dem Islam,
der an der ausschließlichen Gottessohnschaft Jesu Anstoß nimmt,
oder mit dem Judentum, das Jesus nicht als den von ihm erwarteten Messias
anerkennen kann, ihn aber wohl als einen ihrer größten Söhne
betrachten könnte. Auf diese Weise könnte das Christentum zu einer Einladung an die
anderen Religionen werden, ebenfalls Kompatibilität anzustreben und damit
wie nie zuvor zu der Kraft werden, von der genau der Friede ausgeht, den Jesus
als möglich gesehen hat.