Warum ist Religion nicht totzukriegen?
Woher kommt die spirituelle Suche?
Wo führt sie hin?
Religion
ist ein Folgephänomen des Sündenfalls. Sie kommt daher, dass sich die Menschen
in der Welt, in der sie leben müssen, ausgeliefert fühlen, ständig
bedroht und allein von sich aus nur unzureichend fähig, zu einem
zufriedenstellenden Leben zu finden.
Gleichzeitig
aber machen viele von ihnen gelegentlich die Erfahrung, dass es Ausnahmen
zu dieser Situation gibt. Manchmal sind das zufällige Glückmomente, die
eintreten, wenn sich die Dinge gerade so fügen, dass für eine Weile alle
Wünsche erfüllt sind oder dass etwas bestens gelingt. Manchmal kommt das in
ganz besonderen Situationen anderer Art, manchmal kann das aber gerade zu
Zeiten geschehen, wo gar nichts gelingt, in Zeiten tiefster Verzweiflung:
Plötzlich ist alles anders, plötzlich gibt es von innen her eine vorher kaum
gekannte Sicherheit, verbunden mit höchster Sensitivität, Losgelöstheit und
Einfallsreichtum.
Die
besonderen Situationen können beispielsweise sehr eindrucksvolle Erlebnisse
sein, Erlebnisse in der Natur oder Erlebnisse mit anderen Menschen.
In
der Bibel gibt es dem entsprechend zwei Namen für "Gott", nämlich
"Jahwe" und "El". "Jahwe" wäre der zweiten oben
genannten Art zuzuordnen, nämlich der Erfahrung der inneren Kraft, die am
Tiefpunkt der Verzweiflung erscheint. "Jahwe", zu deutsch "ich
bin der ich bin", ist für jeden, der das Erlebnis kennt, unschwer als
spontaner Name dieser Kraft zu erkennen. Von ihr aus ist gewiss: Alles ist
möglich, Träume können wahr werden, denn diese Kraft will gesehen werden,
sie will in Erscheinung treten, so wie sie schon in ihrer Schöpfung in
Erscheinung getreten ist. Das ist das Erlebnis des Mose am brennenden
Dornbusch, aber auch das Erlebnis des Abraham mit seinem Traum (der
"Verheißung" an ihn), dass er Stammvater werden würde eines großen
neuen Volkes, das auf Dauer mit dieser Kraft verbündet ist.
Der
Name "El" dagegen bezeichnet das Gotteserlebnis an besonderen
Kraftorten in der Natur, die dann nach diesem Erlebnis benannt wurden mit einem
Namen, der das "El" dieses Erlebnisses enthält. Das englische Wort
"awe", das lautmalerisch den Ausdruck eines solchen Erlebnisses
darstellt, kommt sowohl dem Laut als auch der Bedeutung nach dem biblischen
"El" am nächsten. Wir alle kennen das maßlose Erstaunen, wenn wir um
eine Ecke biegen, und eine ehrfurchtsgebietende Sicht vor uns erscheint. An
solchen Stellen haben die biblischen Väter einen Altar aufgebaut, um das
Erlebnis auch für spätere Reisende und für künftige Generationen zu verankern.
In unseren Breiten stehen an solchen Stellen Tafeln mit der Aufschrift
"Aussichtspunkt" oder "scenic view" oder "buena
vista". Im Zuge des Tourismus haben diese Stellen allerdings viel von
ihrer ursprünglichen Kraft eingebüßt.
Ein
weiteres Erlebnis ähnlicher Art kommt oft in Beziehungen zustande, wenn ein
Partner unbedingt etwas vom anderen will, der in diesem Moment aber nur
gleichgültig ist: Wie diese Gleichgültigkeit unter dem emotionalen und
körperlichen Ansturm des Anderen plötzlich in schrankenlose Hingabe umschlagen
kann. Ähnliches erleben auch Menschen, die jemand in Todesgefahr finden und
ohne zu zögern ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um den anderen zu retten.
Ähnliche
Erlebnisse gibt es weiters unter Einfluss gewisser Drogen. Diese Erlebnisse
sind natürlich der Grund für so manche Drogensucht, weil die Menschen das
Erlebnis festhalten möchten und zu wenig bedenken, dass das nicht geht, weil
die chemische Wirkung vorübergeht. Natürlich müssten sie, statt bei der Droge
zu bleiben, nach Wegen suchen, ihren Organismus ohne Chemie so einzustellen,
dass diese Art, die Welt zu sehen, möglich wird. Dafür gibt es die Religionen.
Religionen
sind also, genau betrachtet, Trainingsprogramme zum Erlernen der Einstellung der Wahrnehmung auf eine
bestimmte Ebene. Carlos Castaneda würde sagen zum Erlernen des Verschiebens des
Punkts im Wahrnehmungsapparat, in dem die gewisse Wirklichkeit aus einer Reihe
von möglichen Wirklichkeiten 'montiert' wird. Das mag absurd klingen, aber der
einfache Gedanke an die Unterschiede in der Wirklichkeitswahrnehmung eines
Depressiven, eines "Schizophrenen", eines "Penners", eines
Spitzenmanagers oder eines spirituellen Meisters zeigen, dass es sich dabei um
etwas ganz Reales handelt. Und hier liegt daher der Punkt der ewigen Attraktion
der Religionen: Durch sie wird es möglich, den Himmel überallhin zu holen,
selbst in die Hölle.
Sämtliche
Religionen haben in Erlebnissen der oben genannten Art ihren Ursprung. Die
Begründer der Religionen haben erfahren, dass sie ihr Leben nicht in einer von
unbezwingbaren, grausamen Monstern (Tyrannen jeder Art) beherrschten Hölle
verbringen müssen, sondern dass sie diese Monster entweder umstimmen, besiegen
oder ihnen ausweichen können und dass sie anschließend ihr Leben selbst
bestimmen und für sich und ihre Umgebung den Himmel auf die Erde holen können.
Darum geht es in jeder Religion.
Die
religiöse Grunderfahrung ist die Erfahrung der schöpferischen Kraft, die in
jedem Menschen anwesend ist. Diejenigen, die diese Erfahrung selbst gemacht
haben, können andere zu dieser Erfahrung führen, so lange ihnen die Erfahrung
selbst zugänglich ist.
Durch
das erste Erscheinen dieser Erfahrung wird ein Mensch zu einem Sucher, und er
wird keinen Frieden finden, bis er gelernt hat, diese Erfahrung bei Bedarf
wiederherzustellen, d.h. sich selbst (wie ein Radio) auf diese ja immer und
überall gegenwärtige Wahrnehmungsebene einzustellen.
Da
Drogen eine Abkürzung darstellen, bleibt ein Teil der Sucher in dieser Phase
hängen und gibt die weitere Suche auf. Andere bleiben dann etwa in einer Sekte
hängen, die ihnen aber immerhin schon ein echtes Gemeinschaftserlebnis bietet.
Manche bleiben dann als Mönche oder Priester irgendeiner Religion im Getriebe
ihres Tuns mitten auf dem Weg hängen. Sie arrangieren sich (d.h sie
revanchieren sich auf irgendeine Weise für jeden ihnen auferlegten Verzicht)
und geben ihre weitere Suche auf.
Manche
aber geben nicht auf. Sie sind bereit, durch die Hölle zu gehen und sie lassen
sich durch nichts ablenken, auch nicht durch die unter Umständen endlos
erscheinenden Durststrecken auf dem Weg. Sie gelangen natürlich zum Ziel, d.h.
sie lernen, sich so einzustellen, dass ihnen der Himmel unter keinen Umständen
verloren geht. Eine Aussage in den Reden des Buddha verdeutlicht, worum es
geht: "Und wenn sie euch mit Ketten zersägen, bleibt freundlich zu
ihnen!" Die christliche Variante kennen wir.
Das
ist der Sinn der Religion und das ist der Grund, warum Religion niemals
aussterben wird. Das menschliche Leben wird immer gefährdet bleiben und
gekennzeichnet von Unzulänglichkeit. Deshalb wird es auch immer die Suche nach
einem Ausweg aus dem Verhängnis geben und deshalb gibt es die Antworten von
denen, die den Ausweg gefunden haben und deshalb gibt es die Wege und die, die
sie gehen.
Der
Weg ist in jeder Religion ein Weg des Loslassens und des Annehmens, ein Weg des
Vertrauens und der Hingabe. Und auch die Schamanen und Medizinmänner haben
nichts anderes zu bieten.
Der
Weg hat immer drei Phasen:
Die
erste Phase ist die Zeit des Umschaltens auf jene andere Wahrnehmungsebene, die
zweite die des Wahrnehmens der eigenen Situation auf dieser Wahrnehmungsebene
und die dritte die des Verknüpfens der beiden Wahrnehmungsebenen, der
horizontalen rational–gesitteten und der vertikalen spirituell–ruchlosen Ebene.
Aus dieser Verbindung ist ja bekanntermaßen die zweite Bedeutung des
christlichen Kreuzsymbols abgeleitet.
Nun
noch einige Worte zu den beiden Wahrnehmungsebenen:
Gemäß
der Bibel besteht der Sündenfall im "Essen vom Baum der Erkenntnis des
Guten und des Schlechten", d.h. in der Einführung von Bewertungen zum
Zweck der Maximierung des Guten und zur Minimierung des Schlechten. Buddha sagt
inhaltlich genau dasselbe, wenn er feststellt: "Die Ursache des Leidens ist
die Gier". Der Zustand der Gier ist der der Berechnung, daher der Zustand
des Sündenfalls bzw. der Problem–Zustand.
Die
andere Wahrnehmungsebene kennt keine Bewertungen. Die Dinge sind ganz einfach
so, wie sie sind. Aus ihnen ergibt sich die Lösung. Vertrauen ist da. Die
Lösung wird angepeilt, der Weg wird gegangen, die Lösung wird realisiert.
Folgen oder Kosten spielen keine Rolle.
Ein
Beispiel ist der Auszug der Israeliten aus Ägypten: Viele hatten zu viel zu
verlieren. Sie sind geblieben. Viele haben ihre Bewertungen nicht
zurückgelassen. Sie sind in der Wüste umgekommen. Die anderen kamen durch.
So
in etwa funktioniert Religion. Weil sie beginnt, wenn alle Hoffnung auf die
eigene Kraft zunichte geworden ist, ist sie nicht totzukriegen.