Was ist Religion ?
14. 1. 2002
Religion ist der Weg zum
normalen Leben.
Das gewöhnliche Leben der
meisten Menschen ist kein normales Leben, weil es geprägt ist durch innere
Brüche. In der christlich-jüdischen Tradition werden diese Brüche auf den
Sündenfall im Paradies zurückgeführt. Da heißt es, der erste Bruch sei
entstanden, als die Menschen ihr eigenes Urteil an die Stelle der Weisung durch
„Gott“ setzten.
Alle Religionen aller Kulturen sind Versuche, diese Brüche zu heilen
und dadurch zur unmittelbaren Wahrnehmung zurückzukehren.
Bildlich-schematisch ließe sich der Prozess etwa so darstellen:
Unser Leben, konkretisiert durch unseren Körper, ist vergleichbar mit
einer gewachsenen Schicht, in der es durch gewisse seismische Erschütterungen
(Schocks) tektonische Verschiebungen gegeben hat, durch die die Wahrnehmung
nicht mehr den direkten Weg nehmen kann, sondern mehrfach gebrochen ist – und
darüber hinaus sind diese Brechungen kompensiert durch das, was die Inder Maya
nennen, also durch Vorstellungen, durch Illusionen, durch Denkmuster.
Anders ausgedrückt, gewisse Bilder der Realität aus der Vergangenheit
haben sich bleibend in uns festgesetzt, also eingeprägt, was dazu führt, dass
wir die Gegenwart in manchen Zusammenhängen so wahrnehmen, als lebten wir immer
noch in jener prägenden Situation der Vergangenheit. Da die real gegenwärtige
Situation aber nur gewisse Anklänge an jene früher erlebte Situation enthält,
die nämlich das Interpretationsmuster der Vergangenheit auslösen, sich im
übrigen aber von der vergangenen Situation unterscheidet, können wir auf die
gegenwärtige Situation nicht adäquat reagieren. Das können wir aber wegen der
die Wahrnehmung überlagernden Prägung nicht wahrnehmen. Stattdessen verstricken
wir uns in Rationalisierungen, die auch die Tatsache der Unangemessenheit
unserer Reaktion vor unserm Bewusstsein verbergen. Wir wundern uns nur darüber,
dass unser Handeln nicht den gewünschten Effekt hat – und beginnen daraufhin,
auch noch unsere Frustration zu kompensieren, indem wir unseren
gut/schlecht-Listen frönen, also uns etwas (eine vermeintliche „Belohnung“)
holen, was im Moment gar nicht passt oder etwas verweigern, was im Moment aber
richtig wäre. So entsteht der Teufelkreis, der sich
in dem, was wir als „normales Leben“ zu kennen glauben in vieler Hinsicht immer
wiederholt, bis wir daran am Ende sogar zugrunde gehen. Klar, dass das kein
normales Leben ist, sondern eben nur das gewohnte Leben.
Es gibt nun heutzutage verschieden Wege, die uns helfen können, zu einem
normalen Leben zurückzufinden: Psychotherapie, Hypnose, Bioenergetik, Tai chi, Tanzen, Meditation, Yoga, Visualisationen
etc.
Alle diese Wege können uns helfen, die tektonischen Verschiebungen in
unserem Inneren zu überbrücken oder sogar rückgängig zu machen, damit der
ursprüngliche Fluss unserer Wahrnehmung und der Reaktion unseres Organismus
darauf wiederhergestellt wird.
Der traditionelle Weg da hin ist der Weg der
Religion und in ihr der Weg der Initiation. Die Initiation hatte von je her
ihren angestammten Platz in den Übergangsritualen. Die weisen Alten bereiteten
die Jugendlichen vor auf das selbstverantwortete Leben als Erwachsene. Sie
zeigten ihnen, wie sie trotz der erlittenen Schocks und Verletzungen, die
natürlich auch in ihnen jene verhängnisvollen Brüche erzeugt hatten, den einzig
rettenden Weg finden konnten, nämlich den Weg zur unmittelbaren Wahrnehmung.
[Von der ursprünglichen Erkenntnis dieses Weges leiten heutige Sekten,
die diesen Weg überhaupt nicht mehr verstehen, ihre dogmatische Idee ab, durch
das Fürwahrhalten gewisser „Glaubenswahrheiten“,
wären sie „gerettet“ (im Englischen „saved“). Die
Anhänger dieser Sekten finden durch die Annahme dieser „Wahrheiten“ aber nicht
zur unmittelbaren Wahrnehmung, sondern (wie die Gegenspieler Jesu, die
Pharisäer) nur zu größerer Eingebildetheit, also zu
neuen Kompensationen. Das hier Gesagte gilt nicht nur für christliche, sondern
auch für islamische Sekten und für gewisse Sekten aller anderen Religionen und
auch für manche Traditionen der sogenannten Naturreligionen.]
Die Initianden jeder ursprünglichen Tradition wurden in eine für den
Verstand und für alle Erfahrung unlösbare, lebensgefährliche Situation
geschickt. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten ihre inneren Brüche überbrücken
und dazu eine verbündete Kraft finden, die das leisten konnte (und die sie auch
später immer dann herbeirufen konnten, wenn sie diese Hilfe brauchten). Die
Verbündeten, die sie fanden, waren „Hilfsgeister“ der verschiedensten
Ordnungen, vom Tiergeist über die Elementargeister bis hinauf zu jenem „Geist“,
aus dem die ganze Welt hervorgegangen ist (der „Name“ dieses Geists ist
selbstverständlich, wie die Bibel es verlangt, unausprechlich)
– und selbst für die Buddhisten ist es noch so etwas wie der „Geist“ des
Nichts, dem das All entspringt, auch wenn sie jenes durch ihre „Beschwörung“
(ihre Meditation) eintretende Nicht-Ich, aus dem die Antwort auf die Not kommt,
eben auch nicht benennen und wenn doch, dann höchstens als „Leere“ [wie im „Hanya shin gyo“]
– genau entsprechend der Symbolik der physischen Leere der Kaaba in Mekka. Aber
auch die Tiergeister der „Naturvölker“ sind vor allem Nicht-Ich, nämlich einfach eine
andere Kraft.
Allerdings ist das Wort „Kraft“ schon zu viel. Durch „irgendetwas
Anderes“ bekommen wir Antwort. Die Initiation bringt die Menschen in Kontakt
mit diesem unnennbaren Anderen und mit dessen Antwort.
Es ist allen Beteiligten (vielleicht unausgesprochen aber doch)
vollkommen klar, dass die Perspektive, die aus diesem Anderen uns zukommt, die
Perspektive des Ganzen ist. Die Initianden verlassen also ihre gewohnte
(beschränkte) Welt und sie öffnen sich dem All – und von da kommt die Lösung.
Sie öffnen sich jener Sphäre, die ein Individuum seiner Froschperspektive
enthebt, die den Orientierungslosen gewissermaßen an eine Art
Satellitennavigation anschließt.
Auf dem Weg zwischen der beschränkten und daher tödlichen
Frosch-Perspektive des Individuums und der letzten Endes rettenden Perspektive
des Alls liegen grauenhafte Gefahren. In der Perspektive des Alls ist das
Individuum ja nicht mehr als solches existent. Verständlicherweise macht diese
Aussicht zunächst extreme Angst. Und diese Angst begleitet uns und sie nimmt
unzählige Formen an: die gefährlichen Monster des Initiationsweges [von der
neunköpfigen Schlange, über Skylla und Karybdis bis
zu den Zauberspiegeln Klingsors und darüber hinaus].
Jene Schocks, die die tektonischen Verschiebungen in uns ausgelöst
haben, waren ja real. Und die Kräfte, die sie ausgelöst haben, sind immer noch
da. Sie sind keine Einbildung, und sie können uns augenblicklich auslöschen,
wenn das unser Schicksal sein soll. Auf uns allein gestellt, können wir gegen
sie nicht bestehen.
Um diesen Gefahren nicht zu erliegen, brauchen wir ein unbrüchliches Vertrauen darauf, dass das Leben so
eingerichtet ist, dass Hilfe kommt, wenn wir sie brauchen, auch wenn alles
dagegen spricht. Davon, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, sprechen die
weisen Alten, die die Jungen in dieses Ritual einführen. Sie sind der lebendige
Beweis dafür, dass sie die Wahrheit sagen.
Sie leben aus einem Wissen heraus, das gewöhnlich, d.h. bei den meisten
Menschen, durch die Barrieren verborgen ist, die von den erlittenen Schocks
ausgelöst worden sind und die durch die Initiation überwunden werden sollen.
„Die Alten“ leben ein Leben, nach dem sich alle Gebrochenen sehnen, ein
wirklich normales Leben. Die Sehnsucht danach ist bei allen vorhanden. Sie ist
der Antrieb zur Suche nach diesem normalen Leben, nach dem direkten Weg, nach
Heilung.
Die Gebrochenen wundern sich oft über das, was den Geheilten möglich
ist. Sie glauben oft, das Außergewöhnliche, das sie an diesen beobachten, wäre
das, worauf es ankommt. Dieser Glaube kommt aus dem Kompensationssystem, das
sie aufgebaut haben, sie wollen ja gut sein und nicht nur das Gewöhnliche,
sondern auch das Außergewöhnliche meistern. Das normale Leben erscheint ihnen
oft gar nicht erstrebenswert.
Sie forschen mit den Kriterien dieses Kompensationssystems. Und so sind
sie fasziniert von Leistung, und damit von allem Außerordentlichen, wie etwa
wenn ein Yogi sich für ein Jahr in einem Sarg begraben lassen kann und dann
wieder zum Leben erwacht. Aber gewisse Frösche in afrikanischen Wüsten können
das besser: Sie erwachen nach vielen Jahren vollkommener Trockenheit immer noch
zum Leben, wenn plötzlich wieder Wasser kommt. Und Castanedas
Don Juan spricht von den unglaublichen Praktiken mancher Zauberer früherer
Generationen, die in die Welt irgendwelcher Elementargeister überwechseln und
so hunderte von Jahren leben konnten – aber eben als Gefangene ihrer
Errungenschaft. Das alles sind zwar spektakuläre geistige Erfahrungen, aber
nicht das, worum es geht. Es sind nur so etwas wie
spirituelle Zirkusnummern.
Näher an dem, worum es geht, ist die Geschichte Castanedas,
in der er von einer Verfolgung durch einen urzeitlichen Tiger erzählt, der
fähig war, seine Gedanken zu lesen – und wie er in dieser Erfahrung lernte,
sich auf eine Wirklichkeitsebene einzustellen, die jenseits der Gedanken liegt,
in der es nur ein unmittelbares Wahrnehmen und Befolgen des idealen Kurses
gibt. Näher an der auch dem Alltagsdenken verständlichen Wirklichkeit liegt die
Geschichte des biblischen Gideon, dem es ebenso auf genau diese Weise gelang
mit 300 Mann eine Armee von 30.000 vernichtend zu schlagen.
Lao tse sagt dazu nur: Selbst „wer schuldig ist, auf dem Weg [des
Tao] wird er entkommen.“ Bei Lao tse spielt sich die
Spiritualität im normalen Leben ab und sie bezieht sich nur darauf. Und bei
Jesus ist es genauso.
Es geht, wie schon gesagt, darum, die gebrochene Wahrnehmung, die
gleichzeitig immer untrennbar verbunden ist mit einer individuellen
Froschperspektive, zu überbrücken durch eine Steuerung „von oben“, also durch
eine Art Satellitennavigation. Das Prinzip ist einfach: Der Geist der
Vereinzelung wird ersetzt durch den Geist des Ganzen. Dialektiker erinnern sich
jetzt sicher an Hegels „These, Antithese, Synthese“, aber es ist mehr als das.
Der Geist des Ganzen ist mehr als eine Multisynthese und nichts intellektuell
Herstellbares. Er übersteigt den Schatz jeder Erfahrung. Er entstammt einer
ganz anderen Sphäre, der Sphäre der direkten Wahrnehmung, nicht der
Schlussfolgerung.
Die Initiation der Naturvölker bietet einen Zugang zum Geist des
Ganzen. Die Initiation ist ein Ergebnis der Verbindung zum Geist des Ganzen.
Der Geist des Ganzen hat sie geboten. In den Zeiten nach den Stammeskulturen
haben sich neue, kulturübergreifende Formen der Initiation entwickelt.
Schließlich aber sind die Riten erstarrt. Die völlig veränderten sozialen
Bedingungen in der industriellen Gesellschaft haben die alten Initiationswege
ihrer Bedeutung beraubt. Das, was in der Initiation geschieht aber ist dadurch
nicht beseitigt worden, denn es ist lebensnotwendig.
In unserer initiationslosen Kultur läuft der alte Prozess der
Initiation nun nicht mehr kollektiv gesteuert, sondern schicksalhaft
individuell ab: Schwere Krankheit, Schicksalsschläge, besondere Umstände des
Lebens lösen den Suchprozess aus. Dazu kommen jene scheinbar zufälligen, der
bleibenden direkten Wahrnehmung vorausgehenden vorübergehenden Erlebnisse der
Einheit. Das sind die berühmten „spirituellen Erlebnisse“, „peak
experiences“, mystische Erlebnisse. Früher wurde oft
von „Verzückung“ gesprochen, weil diese Erlebnissen
oft von unerklärlichen körperlichen Zuckungen begleitet sind. Natürlich haben
diese Zuckungen damit zu tun, dass die tektonischen Verschiebungen in Bewegung
geraten – ähnlich den Zuckungen der Erdkruste in den Erdbeben. Nicht selten
geschieht es daher, dass Menschen durch solche Erlebnisse nicht zurechtgerückt,
sondern (zunächst anscheinend) vollends verrückt werden. Viele der
psychiatrischen Patienten hatten genau solche Erlebnisse der ruckartigen
Bewegung ihrer tektonischen Schichten. Die ganze bekannte Welt ist dadurch für
sie verrückt worden. Sie erkennen sie und sich selbst nicht wieder. Und die
neue Position, in der die Schichten wieder zur Ruhe gekommen sind, ist weder
die gewohnte noch die ursprüngliche. Sie stimmt mit den bekannten Kriterien
nicht überein. Es würde weitere Verrückungen
brauchen, damit die Wahrnehmung, die dann zustande kommt, wieder kommunizierbar
wird, sodass andere sie wiedererkennen können. Da dieser Prozess in der
medizinischen Wissenschaft aber bekannt ist, wird er einfach als „Störung“
betrachtet und behandelt (also nicht in Richtung Auflösung, sondern nur wieder
kompensatorisch).
Seit dieser Prozess zumindest in spirituellen, aber auch in
therapeutischen Kreisen bekannt geworden ist, gibt es überall auf der Welt
Bemühungen, diese Verrückungen gezielt einzusetzen.
In der Spanne zwischen der ursprünglichen Ver-Rücktheit,
die durch jene Schocks ausgelöst worden ist, und die zu den erwähnten
psychisch-tektonischen Verschiebungen geführt hat und der natürlichen Gewachsenheit, in der der ursprüngliche Fluss der
Wahrnehmung ungebrochen ist, liegen die Heilungs-Wege, die eingeschlagen worden
sind.
Ursprünglich, wie gesagt, waren es die Initiationswege und im
Erwachsenenalter dann die schamanischen Heilungsrituale, durch die die
tektonischen Verschiebungen wieder zurechtgerückt oder überbrückt wurden. Aber
auch die modernen Therapieformen sind diesen Verrückungen
auf der Spur.
Die heutigen Entspannungstechniken etwa gehen davon aus, dass ein
entspannter Körper zu einer ungebrochenen Wahrnehmung fähig ist und daher aus
sich heraus und von selbst sämtliche notwendigen Selbstheilungskräfte
mobilisiert. Das ist das Grundkonzept der Hypnose-Therapie. Die
Wiederherstellung der Ganzheit, eine Aufhebung der Verschiebungen durch
Entspannung. Durch Entspannung ist sehr viel möglich. Wenn jedoch gleichzeitig,
wie das meistens der Fall ist, geistige Konzepte der ver-rückten
Welt festgehalten werden (und das ist deshalb fast unvermeidlich, weil die
Entspannungszustände spätestens dann aufhören, wenn die Pflichten des Alltags
wieder rufen, in denen die Brüche und Verrückungen ja
als „normal“ gelten, weil es fast niemand gibt, der sie nicht hat), ist die
Wirkung der Entspannung nur sehr beschränkt.
Heutige Therapie weiß daher auch von einem habituellen Charakterpanzer,
der eben auf jenen Vernarbungen der Brüche beruht, die aus den ursprünglichen
Verletzungen entstanden sind. Hier setzt die Bioenergetik an. Sie treibt die
Anspannung an jenen Punkt, an dem die seismischen Wellen zu laufen beginnen –
in der Hoffnung, dass die tektonischen Platten auf diese Weise an ihren
Ausgangspunkt zurückkehren und dadurch eine durchgehende Wahrnehmung wieder
ermöglicht wird. Die Bioenergetik ist vor allem dadurch beschränkt, dass den
meisten ihrer Therapeuten dieses, ihr eigenes Funktionsprinzip nicht
ausreichend bewusst ist. Außerdem natürlich in der Angst der Klienten vor dem
zu erwarteten inneren Erdbeben. Trotzdem sind mit dieser Methode große Erfolge
erzielt worden. Das innere System kann damit durchlässiger werden.
Die Erfolge der Psychoanalyse und der darauf aufbauenden analytischen
Techniken beruhen auf der Bedeutung der geistigen Kongruität.
Indem innere Widersprüche aufgeklärt werden, blockierende Ängste etwa auf
Ursprungssituationen zurückgeführt und damit verstehbar gemacht werden, werden
Kanten der inneren Brüche abgerundet. Die Wahrnehmung fließt dann zwar immer
noch über mehrere Ecken und nicht direkt, aber etwas glatter. Dass die Brüche
aber nur in den seltensten Fällen zurückgebildet werden, liegt einmal daran,
dass ein neues geistiges System, nämlich ein Erklärungsschema über die
Wirklichkeit gestülpt wird, nämlich jenes intellektuelle Schema, das viele der
Blockaden verstehbar gemacht hat, und dass die Erschütterungen, die durch diese
Erkenntnisse ausgelöst werden, genau durch das Schema gebremst werden, weiters daran, dass die auf die Verletzung folgende
Vernarbung nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wird, zuletzt aber liegt es
auch daran, dass weitere entscheidende Einflüsse unberücksichtigt bleiben,
beispielsweise die Einflüsse der Ahnen und der Familienkonstellation.
Die Einflüsse der Familienkonstellation demonstriert heute die
systemische Therapie und erzielt damit spektakuläre Heilerfolge, die aber
insofern auch wieder nur Teilerfolge sind, weil die Aufmerksamkeit gerade auf
diese Einflüsse eingeschränkt wird.
Die Einflüsse der Familienkonstellation und der Ahnen fokussiert das
Familienstellen nach Hellinger. Indem Hellinger mit seiner Methode eine
schamanische Tradition in unsere Kultur importiert, ist er der Ganzheitlichkeit
zurzeit wohl am nächsten, insbesondere wo ihm Psychoanalyse und
Entspannungstechniken nicht fremd sind. Was im Familienstellen geschieht, ist
kein intellektueller Prozess, sondern ein ganzheitliches sich Einfühlen in die personal-geistigen Strömungen, die von den Anfängen der
Geschichte herkommend in einem bestimmten Individuum münden und dessen
Schicksal formen.
Aus diesen Gründen sind spirituelle Erlebnisse in Zusammenhang mit
Familienaufstellungen keine Seltenheit. Die Wirkung ist vergleichbar mit
gewissen Drogenerlebnissen, die eine ähnlich tiefe, vielleicht allerdings sogar
eine noch tiefere Einsicht ermöglichen. Aber wie diese haben auch jene nur eine
vorübergehende Wirkung. Die Tiefe der Einsicht kann nicht aufrechterhalten
werden, weil die Gewohnheiten und Zwänge des Alltags die alten Strukturen und
Programme großteils reinstallieren.
Eine ganz andere Art Zugang zur Ganzheit eröffnet sich durch Übungen
wie das Tai Chi oder das japanische Gyoki, Castaneda’s Tensegrity oder
vergleichbare Praktiken aus anderen Kulturen oder spirituellen Schulen. Auch Feldenkrais
gehört hierher. Durch eine fließende Bewegungspraxis wird hier der gebrochene
Grund neu aufbereitet – einerseits durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf das bereits natürlich Fließende, andererseits durch Graben neuer
Bahnen für den durchgehenden Fluß. Es ist klar, dass
Jahrzehnte des Übens notwendig sind, um eine ausreichende Komplexität neuer
(Wahrnehmungs- und Reaktions-)Bahnen durch die gebrochenen Schichten zu graben.
– Aber auch Schamane oder spiritueller Meister wird einer nur unter
ungewöhnlichsten Umständen von heute auf morgen.
Wir sehen, dass alle diese Methoden gewisse Bereiche der Brechungen
heilen können und dass sie allesamt Schritte sind auf dem Weg der spirituellen
Entwicklung, in der ein Mensch letztlich alles einsetzen muss, um nach vielen
Jahren der Suche und der Bemühung tatsächlich zur direkten Wahrnehmung
zurückzufinden.
Diese Entwicklung setzt, wie schon gesagt, ein mit ersten spontanen
Erfahrungen einer anderen (nämlich einer ungebrochenen) Wirklichkeit. Danach
folgt (in unserer initiationslosen Kultur) die Suche nach Menschen mit
Erfahrung auf diesem Gebiet. Es ist vorteilhaft, sich von Erfahrenen beraten zu
lassen. Dann kommt das Erproben verschiedener Methoden
und das Sammeln eigener Erfahrungen.
Der spirituelle Weg ist ein Weg des Nichtwissens, daher des Forschens,
der Erschütterungen und Zusammenbrüche und dabei ein schrittweises Erkennen
einer durch alles hindurch tragenden Kraft und ein immer größer werdendes
Vertrauen in diese Kraft und schließlich die dauernde Übergabe des eigenen
Schicksals an diese Kraft. Voraussetzung dafür ist totale Ehrlichkeit.
Diejenigen, die diese Ehrlichkeit aufbringen und den ganzen Weg gehen, werden,
wenn sie zur Ganzheit zurückgefunden haben, Meister genannt.
In heutiger therapeutischer Sprache ist das, was bei der Initiation
geschieht, das Erlernen vollkommener Entspannung bei gleichzeitiger größter
Konzentration, also ein Loslassen, ohne den Fluss der Energie zu stoppen. Dabei
erscheint gleichsam aus einem Nebel
– aus dem Nebel der als Illusion erkannten, zunächst aber als solche
angenommenen „Wirklichkeit“, die sich durch die Erschütterungen auflöst – jene Instanz in uns, die jederzeit alles
weiß, was für uns von Bedeutung ist. Sie wird zugänglich, wenn die
tektonischen Verschiebungen entweder zurückgebildet (etwa durch Bioenergetik
oder durch schicksalhafte Erschütterungen) oder durch jene Perspektive des
Ganzen (flash-artig oder bleibend) überbrückt sind.
Das treibende Element bei dieser Suchbewegung ist unsere Sehnsucht. Sie
ist ein eingebautes biologisches Programm, das uns keinen Frieden erkennen
lässt, solange wir ihn nicht im Ganzen gefunden haben. Sie treibt uns auf den
Weg der Suche nach dem direkten Weg, nach einem Leben ohne Ersatz, nach einem
Leben in der Wahrheit, in der Unmittelbarkeit.
Die inneren Brüche, die uns der Unmittelbarkeit entreißen, zeigen sich
auch als Brüche der zwischenmenschlichen Kommunikation – extrem gestört in den
psychiatrischen oder in kriminellen Phänomenen, vorhanden aber in allen
Beziehungen, in denen Unbewusstheit vorherrscht, also überall dort, wo Menschen
über ihre Froschperspektive nicht hinauszusehen vermögen. Das gilt natürlich
auch für alle, die religiös oder anders motivierte ideologische Kriege führen.
Die traditionellen Religionen bieten Wege an, heraus aus der
Froschperspektive, hin zu einer Perspektive des Ganzen. Gebete und
Gottesdienste sind solche Wege, weil es darin ja immer darum geht, das ganze
Leben aus der Perspektive des Ganzen zu betrachten. Doch ist die Tradition
gleichzeitig auch das Hindernis dafür, dass sich die Perspektive des Ganzen
auch einstellt, weil sie selbst wieder einen Partikularismus
erzeugt und darüber hinaus noch durch die Gewohnheit und das Brauchtum
eingeschränkt wird, eine Art Trägheit, die den radikalen Anspruch der
religiösen Ursprünge (nämlich die unmittelbare Wahrnehmung) auf das den Massen
Erträgliche reduziert (es nämlich in eine Moral umwandelt, die in das Ich
integriert werden kann, wodurch die andere Dimension des Nicht-Ich überflüssig
wird [klarerweise sind wir hier am Kernpunkt der Auseinandersetzung zwischen
Jesus und den Pharisäern]) und damit eine Religiosität erzeugt, die mit echter
Spiritualität nicht mehr viel zu tun hat.
Der Übergang zwischen der Konzentration auf das eigene Interesse (der
Froschperspektive) und der Perspektive des Ganzen, in der die Person des
Einzelnen unter Umständen (wie im Beispiel Jesu) vollkommen auf eigene
Ansprüche verzichten muss und ohne Aussicht ausgelöscht wird („mein Gott, warum
hast du mich verlassen?“) erregt viel Widerstand. So regten sich die
Existentialisten auf über das „in die Welt geworfen“ Sein, darüber also, dass
sie von Anfang an nicht gefragt wurden und am Ende womöglich noch ganz
ausgelöscht werden sollen. Sie wollen doch nicht ganz weg sein – und dieser
Wunsch prägt die Vorstellungen von den letzten Dingen, also von einem
eventuellen „Leben nach dem Tod“. Etwas anderes als dieses (irdische) Leben
können sich die meisten Menschen nur schwer vorstellen, daher sind die meisten
Jenseitsbilder so diesseitig. Daher wünschen sie sich eine Art Gemeinschaft der
Heiligen, in der sie als die, die sie sind, weiterleben können, nur eben in
ausschließlich angenehmer Gesellschaft. Doch wie wäre es, wenn wir uns einfach
als einen Punkt der Bewusstheit im All sehen würden, der sich schon während des
Lebens weitet [vor allem durch die Erkenntnis, dass es so etwas wie „Gute“ oder
„Böse“ überhaupt nicht gibt, sondern nur mehr oder weniger bewusste Menschen]
und der sich möglicherweise ohne Ende weiter weiten kann – sowohl im Detail als
auch im Ganzen, sämtliche Gestalten dazwischen eingeschlossen. Dann bleibt es
bei einer Gemeinschaft der Heiligen, nämlich derer, die teilhaben an dieser
Ausweitung der Bewusstheit, die sich dabei natürlich auch gegenseitig
wahrnehmen und miteinander interagieren – aber mit der Aufmerksamkeit nicht auf
dem Verharren, sondern auf das immer weiter vordringen in das All, sowohl im
Detail als auch im Ganzen – und dabei immer vertrauter werden mit dem Geist des
Ganzen, aus dem alles hervorgegangen ist. Was könnte es Größeres geben?
Zu Anfang braucht es Landkarten, um den Weg zu finden, aber sobald sich
die eigene, d.h. die ungebrochene Wahrnehmung einstellt, erübrigen sich die
Landkarten, die der aktuellen Situation ja nie gerecht werden können. Denn
jenseits der Welt der Brüche gibt es ein Leben der direkten Sicht. Da immer
noch eine zutreffende Karte finden zu wollen, wäre ein Wahn, eine Verleugnung
dessen, was ja schon da ist: die direkte Sicht.
Zunächst aber gibt es die Karten, und mit ihnen die bezeichneten Wege,
wie Visualisierungen, Hypnose, Bioenergetik, Tanzen, Psychotherapie, Tai chi etc. etc..
Sobald die direkte Sicht da ist, zeigt sich, dass ein Leben aus der
Sicht des Ganzen ein ganz normales Leben ist. Nichts Außergewöhnliches
geschieht. Wunder sind da völlig überflüssig (sonst hätte Jesus wohl vom Kreuz
heruntersteigen müssen, wozu ihn einige ja aufgefordert haben sollen). Der
Stoffwechsel bestimmt das Leben des Weisen: Wenn er müde ist, schläft er und
wenn er hungrig ist, isst er und er weiß natürlich auch, dass er sich um sein
Essen und um sein Dach über dem Kopf kümmern muss. Und er tut es. Die Zengeschichte vom Ochs und seinem Hirten beispielsweise
zeigt den ganzen Weg: Am Ende hebt der, der alles gefunden hat, was es zu
finden gibt, nicht ab in ein Wolkenkuckucksheim [das nämlich ist in
Wirklichkeit, was sich so viele als den „Himmel“ vorstellen], sondern er geht wie
schon zu Anfang auf den Markt und er mischt sich unter die Menschen. Er zeigt
(nicht weil er etwas zeigen will, sondern einfach indem er es tut), dass
Religion nichts Besonderes ist und dass es da nicht um spirituelle
Zirkusnummern geht. Die „peak experiences“
sind für ihn längst vorbei, weil die direkte Sicht nun Alltag ist – und doch
reichen seine Bewusstheit und sein Verstehen immer weiter, so weit, dass er nun
vielleicht gar nicht mehr eingreift, weil er jetzt sieht, dass alles ohnehin
schon auf dem besten Weg ist und dass er nicht mehr tun kann, als sein eigenes
Leben zu leben, wohin immer ihn das führen mag.