Was ist Wahrheit?
Es gibt keine wahren
Sätze. Wahrheit lässt sich sprachlich nicht ausdrücken. Sprachlicher Ausdruck
kann aber eine Resonanz auslösen, durch die Wahrheit erfahren werden kann.
Gewöhnlich gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass
es so etwas wie eine "objektive Wahrheit" gibt, die in Sätzen
formuliert werden kann. Das glauben wir.
Aufgrund
dieses Glaubens wurden Definitionen ausgearbeitet; dieser Glaube drückt sich in
"Glaubensbekenntnissen" aus und in Dogmen; Philosophen sprechen von
philosophischen "Wahrheiten", Wissenschaftler von wissenschaftlichen
"Wahrheiten" etc.. Tatsächlich aber beruht diese unsere Glaubens– und
Sprech–Gewohnheit auf einer verhängnisvoll ungenauen Ausdrucksweise –
verhängnisvoll deshalb, weil aufgrund dieses Glaubens immer wieder
Glaubenskriege verschiedenster Art geführt werden, wo jeweils beide Seiten
glauben, sie hätten die Wahrheit und die anderen hätten die Unwahrheit, und
ungenau deshalb, weil das, was beide für die "Wahrheit" halten, in
Wirklichkeit nicht Wahrheit ist, sondern entweder eine Ideologie bzw. ein
Bekenntnis oder (im Fall der Wissenschaftler und der Philosophen) eine hohe
statistische Wahrscheinlichkeit. Im letzten Fall ist klar, dass die Rede über
eine wissenschaftliche oder eine philosophische "Wahrheit" nur eine
schlampige Ausdrucksweise ist: Als Tatsachenfeststellung (a posteriori) ist
"Wahrheit" eine Banalität – wenn auch schon allein die Feststellung
von Tatsachen nicht ganz einfach ist – doch "Wahrheit" in dem Sinn,
in dem die Religionen sie meinen, ist keine banale Tatsachenfeststellung,
sondern eine Wesenseinsicht. Sie setzt voraus, dass wir hinter die Oberfläche
der Dinge zu blicken imstande sind. Das aber setzt einen bestimmten Geisteszustand,
d.h. eine bestimmte innere Einstellung voraus. In unserem Alltagsbewusstsein
haben wir diese Einstellung nicht. Da begnügen wir uns mit Schlussfolgerungen,
die aus den Beobachtungen gezogen wurden, um darauf Theorien zu begründen und
darauf wieder wissenschaftliches Handeln samt den daraus resultierenden
Techniken und Technologien. Weil wir gerne davon profitieren, sind wir auch
gerne geneigt, solche wissenschaftlichen Theorien für "Wahrheiten" zu
halten und die andere Wahrheit, die der Alltagsverstand nicht fassen kann, zu
vergessen.
Auch die sogenannten religiösen "Wahrheiten"
aber sind, streng genommen, keine Wahrheiten, sondern – letzten
Endes sogar nur zeitbedingte – Schlussfolgerungen aus Berichten von
wirklichen, also wahren Erfahrungen. Auch wenn diese Schlussfolgerungen
verbunden sind mit den in den verschiedenen Traditionsströmen ständig
weitergeführten Sammlungen erlesener Daten der jahrtausendealten
Menschheitserfahrung, sind sie eben nicht Wahrheiten sondern nur Weisheiten –
abgeleitet aus einem Schatz von Erfahrungen, die andere gemacht haben. Sie
verweisen aber auf jene eine, allem Sein zugrundeliegende und nur existentiell
erfahrbare Wahrheit, die aber eben so lange nur Theorie und keine Wahrheit ist,
solange sie nicht selbst erfahren wurde.
Die Unterschiede der verschiedenen Religionen beruhen auf den
unterschiedlichen Erfahrungen, die unter den unterschiedlichen Bedingungen,
unter denen die Menschen (in den verschiedenen Erdteilen und zu den
verschiedenen Zeiten) gelebt haben, gemacht wurden und auf den daraus
gezogenen, natürlich wieder unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Dass sich
dennoch überall auf der Welt Ähnlichkeiten zeigen, beruht darauf, dass es eine
Art Konstante dabei gibt, nämlich dass es immer und überall Menschen waren, die
diese Erfahrungen gemacht haben. Diese Konstante ist also so etwas wie die
menschliche "Natur", jene wieder nur statistisch zu benennende
Übereinstimmung bei den Mitgliedern der menschlichen Gattung.
Genau
genommen ist es also "die menschliche Natur", die uns – solange wir
uns die ganze Komplexität des Vorgangs bewusst halten – dazu berechtigt, ein
aus der Erfahrung Anderer übernommenes Wissen "Wahrheit" zu nennen,
allerdings nur in gewisser Weise, denn die Erfahrung eines Menschen kann zwar
wohl durch die eines anderen bestätigt werden – ein anderer aber kann unter
ganz ähnlichen Bedingungen zu einer ganz anderen Erfahrung kommen.
Im
Gegensatz zu jeder Art "Wissen" gibt es jedoch etwas, das mit
uneingeschränktem Recht "Wahrheit" genannt werden kann, nämlich jede
Erfahrung, die wir im Augenblick machen – nicht das, was wir davon mitteilen,
sondern das, was wir wahr–nehmen. Unsere Interpretation dieser Wahrnehmung ist
schon wieder etwas Anderes und noch mehr natürlich das, was wir davon sagen
können. Dass wir von unserem Erleben überhaupt etwas mitteilen können, ist
angesichts der Tatsache der extremen Verdünnung [Computerexperten würde eher
von "Komprimierung" sprechen] im sprachlichen Ausdruck ein Wunder,
das wir, wie eben gesagt, nur der Tatsache verdanken, dass wir als Menschen von
Natur aus ähnliche Erfahrungen machen und daher schon aus Andeutungen
entsprechende eigene Erinnerungen abrufen können. Trotzdem ist klar, dass kein
Satz jemals im eigentlichen Sinn "wahr" sein kann.
Wahrheit
im eigentlichen Sinn ist nur unser Erleben des Augenblicks und unsere
unmittelbare Reaktion darauf. Wahrheit gibt es also nur als subjektive
Wahrheit. Die subjektive Wahrheit ist also die einzige objektive Wahrheit, die
es gibt. Wissenschaftliche Messungen dagegen und auch Erfahrungswerte, die so
"objektiv" erscheinen, sind nur banale Tatsachenfeststellungen und im
Fall gefundener Gesetzmäßigkeiten nur Feststellungen eines gewissen, für den
konkreten Fall dann doch wieder unverbindlichen Mittel– oder Rahmenwerts.
Worauf
die Suche nach der Wahrheit eigentlich hinaus will, ist ein Weg zur Lösung
existentieller Probleme, zur Befreiung aus der Not.
Nun
gibt es, den Erfahrungen einer großen Zahl von Menschen zufolge (also gemäß
einer großen statistischen Wahrscheinlichkeit), einen Zustand des menschlichen
Empfindens, in dem es keine Probleme gibt.
Von
Wissenschaftlern hören wir dazu, der menschliche Körper würde in
Extremsituationen opiatähnliche Substanzen ausschütten und damit eine
Glücksillusion erzeugen, um das Erleben des tatsächlich gegenwärtigen Unglücks
zu vermeiden und diese biologische Funktion hätte ihren Grund im Trieb zur
Lebenserhaltung.
Tatsächlich
ist es aber so (und davon wollen diese "wissenschaftlichen"
Untersuchungen nichts wissen), dass in solchen Zuständen außer der
Glücksempfindung eine tiefe Einsicht in die sonst undurchschaubaren
Zusammenhänge des Lebens empfunden wird und dass in dieser Einsicht vorher
ungeahnte aber sehr reale und tatsächlich realisierbare Lösungen sichtbar
werden. Ein Extrembeispiel solcher Lösungen liefert die Bibel in der Geschichte
von Gideon (Ri 6–9), in der ein Heerführer mit 300 Mann eine Armee von 30.000
vernichtend schlägt.
Ein
wenig von dieser Fähigkeit macht sich eine Richtung der Psychotherapie zunutze:
die Hypno–Therapie. Durch eine Tranceinduktion stellt sie eine Verknüpfung zu
solchen Zuständen in der Vergangenheit her und lässt die Patienten aus diesem
Zustand (also aus dieser inneren Einstellung) heraus ihre gegenwärtige
Situation betrachten und neu erleben. Je nach der Tiefe der bereits erlebten
Zustände und der Tiefe der Trance ist die Hypnose dann auch unterschiedlich
effektiv. Obwohl die Maßnahmen der Hypno–Therapie gewöhnlich nur an der
Oberfläche bleiben, sind sie oft schon geradezu spektakulär wirksam, weil sie
tatsächlich eine neue Wahrheit, also eine neue Lebenswirklichkeit, erzeugen
können.
Die
spontanen Zustände dieser Einsicht aber gehen oft weit über das hinaus, was die
Methode erreicht. Sie sind immer verbunden mit einer Erfahrung von Sinn
und von einer alles steuernden Kraft, von der alles ausgeht und zu der
alles hinführt. Diese Kraft ist von Menschen, die das erfahren haben,
"Gott" genannt worden. Sie beschrieben ihre Erfahrung als
"Wahrheit". Und diese Bezeichnung ist korrekt. Es war tatsächlich
ihre Erfahrung. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn ich von dieser Erfahrung
höre oder von ihr lese. Im günstigsten Fall kann die Mitteilung mich in einen
Zustand ähnlicher Art versetzen, in dem ich ebenfalls das Ganze des Lebens als
etwas Sinnvolles erlebe und indem mir die Bedeutung meines eigenen Lebens klar
wird. Das ist ja auch die ursprüngliche Intention, aber diese Mitteilungen
wirken (statistisch betrachtet) nur ganz selten so – sonst müssten ja alle
Leser Heiliger Schriften erleuchtete Meister sein, was sie ganz offensichtlich
nicht sind, ja nicht wenige von denen, die sich selbst sogar als Meister des
Verstehens der Schriften verstehen, haben nichts von ihrer Wahrheit persönlich
erfahren. Es kann aber geschehen, dass das Erleben eines oder mehrerer Menschen,
die sich gerade in dem Zustand befinden, so stark ist, dass sogar eine ganz
große Zahl von anderen Menschen gleichzeitig, gewissermaßen durch
"Ansteckung" ebenfalls in diesen Zustand versetzt werden, weil eine
Ebene in ihnen zu schwingen beginnt, zu der sie vorher keinen Zugang hatten. So
ein Ereignis muss wohl zur Taufe der dreitausend Zuhörer der Rede der Apostel
nach deren Pfingsterlebnis geführt haben. Ähnliches spielt sich heute
möglicherweise bei den Massenveranstaltungen von Wunderheilern ab.
Für
alle diejenigen aber, bei denen der Bericht nicht diese ansteckende Wirkung
hat, enthält er keine Wahrheit, sondern er ist nur ein Bericht über menschliche
Gefühls– und Verhaltenskuriositäten. Ein Teil der Zeugen des Pfingsterlebnisses
der Apostel hielten die Apostel beispielsweise einfach nur für betrunken. Und
wie viele unbewegte Leser der Bibel es gibt, ist ja bekannt – ja mehr noch, die
angebliche Wahrheit der Bibel macht das Buch zu einem idealen Instrument, sich
und übelste Motive dahinter zu verschanzen:
Manche
von denen, die etwas von der ansteckenden Wirkung der Wahrheit erfahren haben,
sind davon so überwältigt, dass sie gewissermaßen sogar davon besessen sind, in
der Weise, dass sie das Erlebte als eine "Wahrheit" festhalten in
eine Zeit hinein, in der sie diese Wahrheit nicht mehr empfinden. Jeder Sucher,
der die Wahrheit erlebt hat, steht ja vor dem Dilemma, dass das Erlebnis
vorübergeht und die gewohnte Sicht der Welt wiederkehrt. Er müsste diese
Erfahrung hier nun integrieren und zwar auf eine Weise, die künftige
Erfahrungen ähnlicher Art wahrscheinlicher macht. Eine Gefahr dabei besteht
aber darin, dass es möglich ist, sich diese Erfahrung als persönliche Eigenart
zuzuschreiben und zu leugnen, dass sie vergangen ist. Aus diesem Kreis dieser
Leute stammen die "Glaubensfanatiker". Weil sie sich mit ihren
Aussagen identifizieren, sind sie bereit, ihr Leben einzusetzen und andere
umzubringen, wenn diese ihnen nicht glauben wollen. Der Fanatismus kommt von
dem an sich unvermeidlichen Verlust der Wahrheit, den sich ein Mensch, der
einmal von ihrem Erleben überwältigt war, nicht eingestehen will und an der er
daher zwanghaft intellektuell und gefühlsmäßig festhält.
Andere,
die entweder die ansteckende Wirkung eines Berichts oder durch ein eigenes
Erlebnis die Wahrheit dieser Seinsebene erfahren haben, akzeptieren den Verlust
dieser Wahrheit in der Weise, dass sie hinterher leugnen, diese Wahrheit
erfahren zu haben, weil sie zu sehr abweicht von ihrer gewöhnlichen Sicht der
Welt und des Lebens. Aus diesen Kreisen rekrutieren sich die fanatischen Glaubensleugner.
Gewöhnlich stellen sie dann rational erscheinende Konzepte (beispielsweise eine
politische Ideologie oder eine Therapieform) an die Stelle des Ergriffenseins.
Es
ist schon ein seltener Idealfall, wenn ein Mensch seine Erfahrung ohne
Fanatismus und ohne Leugnung als solche akzeptieren und sich von da an auf die
Suche machen kann nach einem Weg, ständig Zugang zu dieser Erfahrung zu haben.
Ein
solcher Weg kann in den Wegen der verschiedenen Religionen gefunden werden.
Möglicherweise kann es auf dem Weg helfen, die "Wahrheiten" der
betreffenden Religion für absolut zu halten, das ist aber nicht Bedingung. Am
Ende jedoch, wenn die Erfahrung da ist, ist klar, dass keine der in den Quellen
der Religionen aufgezeichneten Erfahrungen zu absolut gültigen
Schlussfolgerungen berechtigen, sondern dass sie nur konkrete Beispiele sind,
die einzig und allein dazu dienen, sich (den Leser oder Hörer "des
Wortes") auf diese Erfahrungsebene einzuschwingen.
Natürlich
gibt es aber auch andere Wege, sich auf diese Erfahrungsebene einzustimmen:
Musik beispielsweise oder optische Darstellungen, die aus dem Erleben dieser
Ebene stammen, oder Meditation oder das sich Einstimmen auf einen anderen
Menschen – beispielsweise auch im Sex. Dass im Sex sehr oft (wenn nicht bei den
meisten Menschen meistens) andere Motive als das sich Einstimmen dominieren,
haben dazu geführt, dass in unserer Kultur Sex gewöhnlich nicht zu den
genannten Wegen gezählt wird.
Dass
dagegen die Bibel oder die Religion als alleinig gültige Wege betrachtet
werden, ist eine kolossale Verarmung. Sie hat mit der Angst vor dem Loslassen
zu tun, die mit dem anderen (dem "transzendenten) Bereich des Erlebens der
Wirklichkeit verbunden ist, weil die Transzendenz unsere Alltagswelt
notwendigerweise zum Einsturz bringt. Darauf beziehen sich die apokalyptischen
Bilder der Religionen. Was Angst macht, ist die in jenen Erfahrungen
realisierte Übergabe des eigenen Schicksal "in die Hände" der Kraft,
aus der wir hervorgegangen sind und die uns am Leben hält. Um diese Hingabe zu
vermeiden, bietet es sich (neben Fanatismus und Glaubensleugnung) auch an, die
Glaubensinhalte der jeweiligen Religion im Sinn der Orthodoxie als
"objektive" Wahrheit betrachten oder als alleinige "Wahrheit".
Dann könnten wir glauben, unsere Alltagswelt wäre gesichert. Die Identifikation
mit dem Besitz der "Wahrheit" (genau wie mit anderen Besitztümern)
verleiht dem betreffenden Menschen außerdem einen gewissen zusätzlichen
imaginären Wert. Und so liegt es an der Angst vor dem Zusammenbruch des
selbstkonstruierten oder zumindest gewohnten Selbst– und Weltgebildes heraus,
dass viele Menschen die Relativität all der in den Heiligen Schriften aller
Völker beschriebenen Erfahrungen vergessen und diese mystifizieren, um fortan
zwanghafte Diener des Buchstabens zu werden – sonst müssten sie das Risiko des
Lebens ja in achtsamer Eigenverantwortung selbst auf sich nehmen.
Fazit:
Es gibt keine in Sätzen formulierbare Wahrheit, es gibt nur Sätze, die einen
Menschen unter gewissen Umständen zur Erfahrung des immer gegenwärtigen Heils
(des eigenen und des Heils des Ganzen der Schöpfung) führen können. Diese Sätze
sind aber keinesfalls bedeutender als andere Mittel, die zum gleichen Ziel
führen. Es gibt auch keine einzigen historischen Mittler, sondern zu jeder Zeit
gibt es überall Menschen, die diese Erfahrung aus irgendwelchen Gründen gemacht
haben und die daher andere damit anstecken können.
Der
Grund, der einen Menschen dazu führt, eine solche Erfahrung zu machen, die als
eine Erfahrung der Wahrheit empfunden wird und die nachträglich von anderen
möglicherweise als "die" Wahrheit hingestellt wird, ist letzten Endes
immer der gleiche: Durch irgendetwas, beispielsweise durch eine Erfahrung der
Hilflosigkeit oder durch Meditation oder durch Ansteckung etc. etc., wird das
gewöhnlich in kraft befindliche rational–planende Steuerungsmodul ausgeschaltet
und eine andere Steuerung übernimmt. Dabei zeigt sich ein gewöhnlich hinter der
alltäglichen Selbststeuerung verborgener tragender Grund, eine Kraft, die das
ganze Leben trägt – und die es von Anfang an hervorbringt. Und in diesem Grund
ist alle Weisheit des Lebens und eine Wahrnehmung (und darin die einzig mögliche
Wahrheit) von einer bisher ungeahnten Sensitivität und ein bisher nicht
gekannter Einfallsreichtum, der eine Lösung hat für jedes Problem. Für die Zeit
dieses Erlebens ist die Wahrheit gegenwärtig, eine Beschreibung dieses Erlebens
aber (und aus solchen Beschreibungen setzt sich der Inhalt sämtlicher Heiliger
Schriften zusammen) für Wahrheit zu halten, trifft nur zu im Fall der
Ansteckung, aber keinesfalls im Fall einer intellektuellen Betrachtung oder
Analyse oder gar für eine begriffliche Fixierung. Jede begriffliche Definition
ist eo ipso Unwahrheit, trotzdem natürlich brauchbar für die Verständigung. Wie
jeder weiß, weist die Landkarte mit der Landschaft nur sehr geringe, nämlich
gewisse strukturelle Ähnlichkeiten auf und dadurch kann sie sehr hilfreich sein.
Wahrheit jedoch ist nur in der Wirklichkeit zu finden – und für mich nur in
meiner eigenen Wirklichkeit.
Wenn
Jesus (nach Johannes) sagt "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben", dann macht er damit eine Aussage über seine Wirklichkeit, nicht über
unsere. Wir können den Satz in einem exklusiven Sinn verstehen, doch dann sind
wir in Gefahr, die Totalität seiner Bedeutung zu verlieren. Erst wenn wir
diesen Satz von uns selbst sagen können, können wir wirklich verstehen, was
Jesus meint. Für gläubige Christen füge ich daher hinzu: Dafür, dass wir eines
Tages fähig werden können, diesen seinen Satz mit Recht von uns selbst sagen zu
können, gibt Jesus selbst Zeugnis mit seiner anderen Aussage: "Ihr seid
das Licht der Welt". Also Mut! Du, Leser, bist das Licht der Welt!
Also traue Dich auch, es wirklich zu sein!
Was
könnte er Höheres über Dich aussagen? Falls Sie jetzt dazu tendieren,
diese Aussage zu relativieren, empfehle ich Ihnen, sich zu überlegen, warum Sie
ähnliche Worte Jesu über sich selbst nicht relativieren und ob Sie diese nicht
auch relativieren müssten, etwa im Gedanken an die sehr bestimmte Aussage Jesu
einem Schüler gegenüber, der ihn "gut" nannte. Jesus protestierte
vehement gegen dieses Attribut mit dem Hinweis darauf, dass man nur den Schöpfer
"gut" nennen könne, aber niemals ein Geschöpf. "Der Weg und die
Wahrheit", die Jesus also ist, ist einfach seine immer noch wirkende
Fähigkeit, Menschen anzustecken und sie dadurch den Himmel auf Erden erleben zu
lassen einschließlich des Bewusstseins seiner Bedingungen. Jesus ist aber ganz
klar nicht der Einzige, der diese Fähigkeit hat. Mindestens genauso stark ist
logischerweise die Fähigkeit mancher unserer Zeitgenossen – und damit meine ich
nicht nur die überall zu findenden, von vielen anerkannten "Gurus",
sondern ganz viele unbekannte Menschen, die einfach durch ihr Schicksal zur
Erfahrung der anderen Wirklichkeit geführt worden sind – die für alle, die dort
sind, als die eigentliche erfahren wird.
Ein
gewaltiger Unterschied besteht zwischen den Menschen, die diese Wirklichkeit
aus eigener Erfahrung kennen und denen, die sie, meist weil sie "gut"
sein woll(t)en, nur in Form der Lehren ihrer Religion studiert haben. Da ihnen
die Erfahrung fehlt, fehlt ihnen auch der Zugang zur Relativität dieser Lehren.
Das war schon der Streitpunkt zwischen Jesus und den religiösen Lehrern seines
Volkes. Weil er die Erfahrung hatte, hieß es von ihm: "Er spricht wie
einer, der Macht hat – und nicht wie die Schriftgelehrten". Die Macht, die
hier gemeint ist, ist keine andere als die Macht diese Erfahrung mitzuteilen
und andere damit anzustecken. Die Schriftgelehrten haben nur die Worte –
die allerdings selbst anstecken können, wenn jemand bereit dafür ist – die
Wahrheit haben sie nicht, sie kennen die Wahrheit nicht einmal, weil diese eben
nur im wahrnehmenden Erleben liegt. Sie mögen begeistert sein – so wie man eben
von einer Idee begeistert sein kann, von einer Utopie – und dadurch sehr stark
"motiviert" (d.h. sie haben immer noch einen rationalen Grund, aus dem
sie handeln), aber sie sind nicht eingestimmt auf den göttlichen Urgrund des
Lebens, auch wenn sie das glauben, weil sie dergleichen Worte im Mund führen.
Eingestimmt sein auf den göttlichen Urgrund heißt nämlich keine Wahl mehr
haben, sondern unbedingt folgen – aber nicht irgendwelchen Regeln, sondern dem
"Anspruch" der Wirklichkeit, dem, was ihre menschliche Natur ihnen
für ihre gegebene Situation zu tun aufträgt. Da ist "die Wahrheit",
"der Weg" und "das Leben".
Die
Wahrheit zeigt, was ist und sie zeigt in jedem Moment die Lösung in Form des
nächsten Schritts. Wahrheit ist also niemals ein Satz, sondern sie ist das
Licht der Wahrnehmung. Sätze führen zu Ideologien. Wahrnehmung führt zur
Lösung. Wahrnehmung heißt, sich bewegen lassen – nicht im Sinn einer
Gefühlsduselei, sondern im Sinn der Sensitivität, des Mitgefühls. Wahrheit
führt zum Mitgefühl. Und da liegt die Quintessenz aller Religionen – und (nur!)
für den Fall, dass sie bei einem Menschen diesen Sinn erfüllen, ihre Wahrheit.