„Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, dann
halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39)
25. 1. 2004
Normalerweise
wird dieser Spruch supermoralisch verstanden. Der Satz hat aber nicht das
Geringste mit Moral zu tun, sondern nur mit der Anerkennung der ganzen Tiefe
der Realität, also mit Respekt.
Wenn
jemand diesen Satz moralisch versteht und meint, er müsse die „Größe“ haben,
jemandem, der ihn auf die linke Backe schlägt, auch die rechte hinzuhalten, hat
er nichts verstanden. Dann will er nur zu einer bestimmten sozialen Gruppe
gehören.
Die
Bedeutung ist eine ganz andere.
Jesus
zeigt die Bedeutung, als er im Hohen Rat vor seiner Verurteilung verhört wird.
Da gibt ihm ein Gerichtsdiener eine Ohrfeige (Joh
18,22). Jesus hält ihm nun nicht die andere Backe hin, sondern er fragt ihn,
warum er ihn geschlagen habe. Was zeigt er damit? Jesus zeigt, wie er das immer
tut, dass es nicht um den Buchstaben geht, sondern um den Geist – oder, wie wir
heute sagen würden, um Bewusstheit.
Der
Geist ist nicht da, wenn einer seinem Angreifer doof wörtlich die andere Backe
hinhält. Der Geist kann nur da sein, wenn einer, wie Jesus es getan hat, bei
seiner Wahrheit bleibt – und weiterhin eine Angriffsfläche bietet, wenn er eben
weder flieht noch zum Gegenangriff übergeht, sondern nur bei sich bleibt, wenn
er sich vom Angreifer nicht beirren lässt, wenn er nicht abrückt von seiner
Position. Der Geist ist da, wenn einer in dieser Situation den Respekt bewahrt
vor sich selbst und vor seinem Angreifer – eben so wie Jesus es gemacht hat,
der zu dem Gerichtsdiener sagte: „Habe ich etwas Unrechtes gesagt, so beweise
es mir, habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ (Joh 18,23).
Der
totale Respekt holt das Höchstmögliche aus einem Menschen heraus. Und es geht
dabei nicht um ein moralisches Gebot, sondern einfach um die Anerkennung der
Realität. Wir können uns beim Handeln von unseren Emotionen bewegen lassen –
und damit eine endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt auslösen oder wir
können uns von der Wahrheit bewegen lassen, die uns sagt, dass wir beide
Sprosse des Allerhöchsten sind und daher beide ein Recht haben, zu sein; dann
wird sich diese Wahrheit durch unser Handeln durchsetzen – selbst wenn wir
dabei untergehen. Und sogar in diesem Fall werden wir das Ziel unseres Lebens
genau dadurch erreicht haben, nämlich dazu beitragen zu können, dass die
Bewusstheit mehr wird in der Welt.
Moral
dagegen ist immer ein Stück Dunkelheit, ein Stück Zwang, ein Stück
Unbewusstheit, so hochmoralisch irgendein moralisches Handeln auch sein mag.
Das Instrument der Moral ist die Ausschlussdrohung. Es ist eine Art
Dressurmaßnahme. Aus Angst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden,
verhalten sich die Menschen moralisch. Mit dieser Angst kann ich mich selbst
oder auch einen Gegner in Schach halten. Aber Respekt gibt es da nicht.
Respekt
nimmt den Gegner ernst wie er ist, ohne ihm nachzugeben und ohne ihn zu
verurteilen. Respekt fordert ihn auf, sich seines Tuns bewusst zu werden, denn
diejenigen, die nicht wissen, was sie tun, weil sie beispielsweise in
Abhängigkeit von jemand anderem handeln, leben nicht ihre volle Potenz. Für
einen bewussten Menschen ist das sehr bedauerlich.
Daher
hält ein bewusster Mensch die andere Wange hin. Es ist eine Möglichkeit, einen
Traum zu erfüllen, nämlich Bewusstheit zu verbreiten.
Auch
Gandhis gewaltloser Widerstand folgte diesem Modell.