Glauben als Verhängnis und als Chance
Meditationen für Rechts der Isar, 22. 3. 2005
„Zeitreise in einer Raumkapsel“
Eine Reise an die
Aussichtspunkte der schöpferischen Kraft
Zur
Einstimmung in die Bedeutung von Spiritualität werden wir zunächst eine
Zeitreise machen – in mehrfacher Hinsicht – in einer Raumkapsel an den Anfang
der Welt und zurück hierher. Weil die meisten der Zuhörer hier wahrscheinlich
aus der christlichen Tradition kommen mit Ausflügen ins Alte und Neue Testament
– wenn ich es mit Muslimen, Hindus oder Buddhisten zu tun hätte, würde ich
Ausflüge in diese Traditionen machen.
Legen
Sie jetzt bitte alles aus der Hand. Setzen Sie sich bequem. Lassen Sie Ihrem
Atem freien Lauf. Schließen Sie die Augen und lassen Sie sich von den folgenden
Worten fort tragen.
Sie
sitzen in einer absolut sicheren Raumkapsel, die Ihnen rundum Ausblick und
Einfühlung gewährt. Die Temperatur ist sehr angenehm - egal, was Sie draußen
sehen. Sie sitzen bequem und haben ihre ganze Aufmerksamkeit zur Verfügung für
das, was draußen vorgeht.
Sie
reisen zurück in die Zeit der Anfänge dieses Planeten. Sie reisen durch die präplanetaren kosmischen Staubwolken und Sie werden Zeugen,
wie diese Staubwolken sich unter dem Einfluss der Schwerkraft zusammenballen.
Sie erleben im Zeitraffer wie dieser Planet entsteht. Die Masse wird immer
größer. Durch den zunehmenden Druck nimmt die Hitze zu. Sie sehen einen
glühenden brodelnden Ball. Sie erleben innerhalb von Sekunden wie dieser sich
über Jahrmillionen bildet und wie er über weitere hunderte Millionen Jahre
langsam abkühlt. Sie sehen wie Krusten sich bilden, die auf dem flüssigen Kern
schwimmen, wie diese Krusten abkühlen und langsam so etwas wie eine Landschaft
bilden, wie die flüssige Lava dort und da durch das fest gewordene Land wieder
durchbricht. Sie erleben die unzähligen Einschläge von Meteoriten. Sie erleben,
wie der neue Planet sich durch ein Asteroidenfeld gewaltiger Eisbrocken bewegt,
wie diese Eisgiganten von der Schwerkraft eingefangen werden und vom Himmel
fallen, wie sie schmelzen und aufkochen, wenn sie auf die noch glühende
Oberfläche treffen. Sie erleben wie sich dadurch gewaltige Wolken bilden und am
Boden die Meere.
Sie
tauchen mit Ihrer Raumkapsel nun unter die Wolkenschicht und beobachten das
neue Wettergeschehen, das die Abkühlung des Planeten beschleunigt. Sie sehen
die gewaltigen Gewitter und Regengüsse, die sich auf die Landmasse ergießen,
wie sie Bäche und Ströme erzeugen und den Prozess der Verwitterung in Gang
setzen.
Gleichzeitig
verschieben sich die die flüssige Glut bedeckenden riesigen Landmassen, stoßen
zusammen, falten sich auf. Gebirgszüge entstehen und werden von Wind und Wetter
tief zerfurcht. Die Bäche und Flüsse tragen das abgeriebene Material mit sich
und spülen es in die Meere.
Die
dort gelösten Stoffe und Moleküle gehen unter Einwirkung von Licht, Hitze und
der Elektrizität der Gewitter neue Verbindungen ein. Sie bilden immer
komplizierter werdende Moleküle. Ihre Raumkapsel ist zu diesem Geschehen in den
mikroskopischen Bereich abgetaucht und Sie werden unmittelbare Zeugen dieser
atomaren und molekularen Metamorphosen.
Sehr
genau zeigen sich Ihnen die Sympathien mancher Atome für manche andere und sie
fragen sich schon, ob sie es mit fühlenden Wesen zu tun haben, wenn sie sehen,
wie die Atome sich gegenseitig suchen oder meiden.
Und
sie gehen noch eine Ebene tiefer und beobachten die Elektronen bei ihrem Spiel.
Sie sehen ihre Vorliebe für gewisse Bahnen und erleben die Kräfte, die sie aus
der Bahn werfen und zum Weiterziehen bewegen.
Ihre
Raumkapsel nimmt nun makrokosmische Dimensionen an und sie erleben die Kräfte,
die auf die Himmelskörper wirken. Sie werden Zeugen der Vorgänge, die eine
Galaxie zu dem macht, was sie ist.
Wo
Sie auch hinblicken, sehen Sie, wie Ordnung sich von selbst aus dem Chaos
bildet. Sie erleben eine überall vorhandene, unglaubliche Kreativität. Es ist
tatsächlich so, als ob eine intelligente, schöpferische Kraft die Atome
veranlasst, sich zu verbinden zu immer komplexer werdenden Verbindungen – und
schließlich dazu, sich so zu strukturieren, dass sie sich selbst reproduzieren
können. Es scheint, als ob diese Kraft vollkommen zielgerichtet wirkt, denn aus
zerfallenden Steinen wird schließlich immer umfassendere Bewusstheit.
Ganz
offenbar ist diese Kraft, die die Evolution bewirkt, von Anfang an in allem
gegenwärtig – und dann natürlich auch jetzt – und jetzt auch in Ihnen als
Menschen, und in Ihnen ganz persönlich.
Wenn
Sie die Dynamik Ihres Lebens betrachten, können Sie die Präsenz dieser Kraft in
sich selbst wahrnehmen und Sie können durch Einfühlen und durch Beobachten
entdecken, welche inneren Einstellungen dabei helfen, dass Sie mit dieser
evolutionären Kraft kooperieren können und durch welche inneren Einstellungen –
zu denen natürlich auch die Annahmen gehören, auf denen Ihre Entscheidungen
beruhen – Sie die spontane Kreativität möglicherweise behindern.
Und
das gilt natürlich auch für Ihre Patienten.
Vertrauen und die Fähigkeit,
sich zu distanzieren
Über
die Grenzen der Kulturen hinweg ist immer wieder beobachtet worden, dass es
Vertrauen braucht und daraus die Fähigkeit, sich auf eine auftauchende Spur
einzulassen und gleichzeitig die Fähigkeit, sich von allem und jedem zu
distanzieren.
Denken
Sie an die Atome, denken Sie an die Moleküle, denken Sie an Ihre Patienten,
denken Sie an sich selbst: Grundlegend gesteuert durch angelegte Affinitäten
und Aversionen finden alle ihren Weg, indem sie vertrauend wahrnehmen, sich
einlassen, immer bereit, sich, wenn nötig, zu distanzieren. Und als treibende
Kraft hinter allem finden Sie die Sehnsucht nach dem besseren Leben, nach einer
Art Himmel. Und diese Kraft des Wünschens bewirkt nicht nur, dass Fühler
überall hin ausgestreckt werden, sie macht auch, weil sie in allem ganz ähnlich
wirkt, ein universelles Verstehen möglich. Und daher findet sie Auswege aus
allen Situationen.
Der Anfang der Bibel – als
Beispiel spirituellen Vorgehens
Die Ausgangssituation des
Wunsches nach Orientierung
Betrachten
Sie nun mit mir in diesem Sinn auch noch die ersten Sätze der Bibel, die von
Menschen formuliert worden sind, die noch ohne wissenschaftliche Fundierung
genau den Erkenntnisprozess vollzogen haben, in dem wir uns in diesem Moment
befinden:
Die
Bibel beginnt mit den Worten „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Das
heißt, wenn Sie anfangen, die Dinge zu betrachten, ist alles schon da.
„Gott“
können Sie an dieser Stelle außer Acht lassen, denn an dieser Stelle weiß der
Betrachter noch nichts von einer schöpferischen Kraft. Nur der, der das alles
geschrieben hat, weiß davon, weil er in seinem Erkenntnisprozess bereits weiter
fortgeschritten ist. Für den Leser, der noch nicht so weit ist, beginnt die
Geschichte mit einer Beschreibung der Situation, aus der seine Frage nach dem
Ursprung kommt:
„Die Erde aber war wüst und wirr. Finsternis
lag über dem Abgrund.“
Wenn
Ihr Leben wüst und wirr ist, wenn Sie keinen Weg mehr sehen können, wenn Sie
vor dem Abgrund stehen, dann fragen Sie nach dem Zusammenhang des
Ganzen. Der Abgrund bedeutet Tod. Ein Schritt weiter und es ist aus mit Ihnen.
Das ist die Situation, in der auch Sie innehalten und sich fragen, wie Sie da
lebend herauskommen.
Spiritualität nimmt die
Angst
Aber
genau an dieser Stelle gibt Ihnen der Autor, der schon mehr erkannt hat, einen
entscheidenden Hinweis: Er sagt Ihnen gewissermaßen: Keine Angst!
Wörtlich
heißt die Stelle: „Der Schöpfergeist schwingt über Abgrund und Chaos.“
Sie sind also nicht allein auf ihr persönliches Wissen angewiesen. Da ist noch
eine ganz andere Kraft – nämlich die Kraft, die diese ganze unglaubliche
Evolution möglich gemacht hat, ganz ohne Wissenschaften und ganz ohne
Ingenieure – und doch mit solcher Intelligenz, dass die intelligentesten
Menschen erst jetzt anfangen, etwas davon zu verstehen.
Der Wunsch nach
Orientierung entsteht
Und
in dieser Situation spricht diese andere Kraft, der schöpferische
Geist [in Ihnen]: „Es werde Licht!“
Die
Kraft der Evolution, die Sie schon hervorgebracht hat, treibt Sie jetzt zu dem
Entschluss, Licht ins Dunkel zu bringen. Und daraus wird am Ende Licht. Der
Entschluss selbst aber ist genug für den ersten Tag Ihres neuen Lebens – oder
für den ersten Tag des neuen Lebens eines Ihrer Patienten. Weil Sie wissen,
dass die Kraft der Evolution mit Ihnen ist, können Sie angesichts tödlicher
Gefahr standhaft bleiben und sich entschließen, Licht ins Dunkel zu bringen.
Das ist der erste Tag, der erste Schritt zur Vorbereitung eines evolutionären
Sprungs.
Unterscheidung bringt
Ordnung ins Chaos
Und
wie wird Licht?
Indem
die schöpferische Kraft Sie nun dazu drängt, Unterscheidungen zu treffen. Damit
beschäftigen Sie sich in den folgenden Abschnitten oder „Tagen“ der biblischen
Erzählung. Und dabei begleiten Sie vielleicht in nächster Zeit Ihre Patienten.
Die erste Unterscheidung:
Wunsch und Realität
Die
erste Unterscheidung, die Sie einführen, ist die zwischen dem Chaos oben und
dem Chaos unten. In der Bibel heißt es: „Gott traf eine Entscheidung und
schied die Wasser unterhalb von den Wassern oberhalb“. „Die Wasser“ sind
ein Symbol für das unfassbar Fließende des Chaos.
Das
Chaotische, unten bleibt noch unbenannt, das Chaotische oben aber nennt die
Bibel „Himmel“. Sie könnten es auch den Bereich Ihrer Sehnsucht nennen, das
Reich Ihrer Wünsche. Dieses Reich ist zunächst gewöhnlich nicht weniger
chaotisch als die Realität, in der Sie sich zurechtfinden wollen.
Diese
erste Unterscheidung zwischen dem geheimnisvollen Reich der Wünsche und dem
verwirrenden Reich der Realität ist genug für den zweiten Tag. Sie macht das
Spannungsfeld bewusst zwischen dem Jenseits des Ersehnten und dem gegenwärtigen
Diesseits. Das Ganze, das am Ende der Reise bewusst werden soll, enthält beides
und ist gleichzeitig gelöst von jedem der beiden.
Sie
sehen, dass sich der biblische Schöpfungsbericht auf diese Weise wie eine
Therapieanleitung liest – und wohl nicht zufällig so. Es ist der Weg der
Spiritualität, der nicht von ungefähr „Weg zur Erlösung“ genannt wird.
Vertrauen lässt das Chaos
sich sammeln: Land kommt in Sicht
Die
zweite Unterscheidung, die am dritten Tag des kreativen Umgangs mit Ihrem
Problem geschieht, bezieht sich auf das Chaos unten. Die erste Unterscheidung
hat Ihr Vertrauen bestärkt. Das macht die neue Unterscheidung möglich. Indem
Sie auf das Wirken der schöpferischen Kraft vertrauen, können Sie das Chaos in
Ruhe lassen. Und so können die aufgewirbelten Staubwolken sich senken, die
Wasser, die das Chaos symbolisieren können zusammenfließen und dadurch wird
„das Trockene“ sichtbar; „Land kommt in Sicht“, wie man sagt, wenn sich
eine Lösung nähert. Sie bekommen festen Boden unter den Füßen.
Aber
damit noch nicht genug, sogleich sprießen am Land die Dinge, die Sie ernähren.
Das ist das Ergebnis des dritten Tags Ihres Vertrauens auf die schöpferische
Kraft.
Lichter aus dem Reich der
Sehnsucht beleuchten das Leben, geben Orientierung
Am
vierten Tag geht es um die dritte
Unterscheidung – nämlich im chaotischen Reich der Sehnsucht, am Himmel, die
Lichter zu sehen, weil nur die Lichter, die von der Sehnsucht kommen Ihnen
die Orientierung geben können, die Sie im Leben brauchen.
In
der dritten Unterscheidung auf dem Weg zeigt sich der Unterschied zwischen der
Arbeit mit Spiritualität und sonstiger Therapie: Es sind nicht irdische,
sondern himmlische Lichter, die das Leben wahrhaft erleuchten, es sind die
Lichter der Sehnsucht. Sie können das Auftauchen solcher Lichter an den
leuchtenden Augen sehen, die Sie an Ihren Patienten manchmal beobachten können
und an Ihrer eigenen Begeisterung.
Dass
Sie - oder Ihre Patienten - sich von diesen Lichtern führen lassen, ist der
wesentliche Schritt des vierten Abschnitts Ihrer Reise durch die ganze
Wirklichkeit. In diesem Abschnitt werden sich die Wünsche klären und so wird es
für Sie wie auch für Ihre Patienten möglich, sich von diesen Lichtern führen zu
lassen.
Im himmlischen Licht zeigt
sich das Chaos als belebt
Im
fünften Abschnitt der Reise, am fünften Tag, dringt Ihre vierte Unterscheidung
auch in das verbliebene Chaos ein. Durch die himmlischen Lichter werden die
Wasser des Chaos durchleuchtet und wandeln sich zu bekannten, irdischen
Gewässern, die voll sind mit wunderbarem Leben – aber auch mit Ungeheuern, mit
Drachen. Diese sind jetzt aber erkennbar.
Im himmlischen Licht zeigt
sich alles als Produkt der Schöpferkraft
Am
sechsten Tag sehen Sie auch am Land nicht mehr nur das, was Sie ernährt. Sie
sehen auch alles andere, was mit Ihnen die Erde bevölkert. Sie sehen, dass
alles aus derselben Quelle kommt wie Sie selbst. Sie gewinnen Achtung vor allem
Lebendigen.
Im
himmlischen Licht zeigt sich der Mensch als Bild der Schöpferkraft
Damit
ist Ihre ganze Welt jetzt von Unterscheidungen durchdrungen. Sie sehen daher,
am Ende dieser Reise in die Bewusstheit, dass Sie selbst ein Abbild der Kraft
sind, aus der alles hervorgegangen ist. Und in diesem Bewusstsein, das
durchdrungen ist vom Licht der Unterscheidung, dürfen Sie die Erde beherrschen,
und Sie dürfen es sogar wagen, diesen Prozess der Bewusstwerdung zu erklären
und einzusetzen in Ihrer Arbeit.
Das
ist der Weg der Spiritualität.
Wegen der Gefahr des sich
Verirrens immer wieder stehen bleiben
Aber
dazu gehört noch ein siebenter Schritt, nämlich sich auf diesen Weg immer
wieder zu besinnen. Im Sinn einer regelmäßigen Übung immer wieder stehen zu
bleiben und zu schauen. Auszusteigen aus dem Trott des Alltags, das Getriebe
der Welt anzuhalten und, wenn nötig, falls Sie irgendwelche der
Unterscheidungen verloren haben, oder in ein neues Chaos geraten, mit dem
Prozess der Menschwerdung an dieser Stelle von neuem zu beginnen. Das gilt für
Sie selbst wie auch für Ihre Patienten.
Die
Reise wird fortgesetzt in der Raumkapsel des Körpers
Während
Sie diesen biblischen Weg nachgegangen sind, hat sich die äußerliche
Raumkapsel, in die Sie am Anfang eingestiegen sind, aufgelöst. Sie befinden sich
jetzt nur noch in der Raumkapsel, in der Sie sich schon Ihr ganzes Leben lang
durch den Raum bewegen, in der Raumkapsel Ihres Körpers.
Was ist „Ich“?
Spüren
Sie den Körper jetzt, der da auf Ihrem Stuhl sitzt. Spüren Sie sein Gewicht,
seine Temperatur an den verschiedenen Stellen. Fragen Sie sich, was ist
eigentlich das, was Sie „Ich“ nennen? Wo befindet es sich? Vielleicht, wenn Sie
genau hinfühlen, werden Sie merken, dass es nicht an einem bestimmten Punkt
sitzt, dass es letztlich nicht einmal auf ihren Körper beschränkt ist, dass es
das ganze Beziehungsgeflecht einschließt, in dem Sie leben. Und wenn Sie die
Kraftfelder betrachten, in die Sie eingebettet sind, werden Sie spüren, dass am
Ende alles dazugehört, dass Sie tatsächlich das Zentrum der ganzen Welt sind –
aber eben nicht ein Zentrum, das tun uns lassen kann, was ihm gerade einfällt,
sondern ein Zentrum, das alles einbezieht – so wie die schöpferische Kraft,
auch in Ihnen, von Anfang an alles einbezieht – und daraus seine kreativen
Lösungen schöpft.
Heilung kommt aus der
Perspektive des Ganzen
Heilung
kommt aus der Perspektive des Ganzen. Indem Sie die Perspektive des Ganzen
einnehmen, gewinnen Sie eine heilende Intention. Natürlich werden Sie dadurch
nicht identisch mit der schöpferischen Kraft, aus der das Ganze stammt, aber
Sie können die Welt mit ihren Augen betrachten, gewissermaßen durch die
Facettenaugen des Ganzen, als eine seiner Facetten, die genau das sieht, was im
Ganzen für es bestimmt ist.
Aus der Perspektive des
Ganzen kommt Vertrauen
Wenn
Sie so weit sind und das gesehen haben, dann nehmen Sie sich noch etwas Zeit,
um das Vertrauen zu spüren, das aus der überall anwesenden schöpferischen Kraft
hervorgeht.
Und
dann, genau in Ihrer subjektiven Zeit, falls Sie es nicht schon längst getan
haben, öffnen Sie langsam die Augen, räkeln sich, strecken sich...
Aufstehen und die anderen
betrachten
Und
dann, wieder genau in Ihrer subjektiven Zeit, schauen Sie sich um, und
betrachten die anderen Raumkapseln hier im Raum, die anderen menschlichen
Atome.
Die Ladungen spüren
Und
wie die Atome im Kleinen, so tragen auch die menschlichen Atome Ladungen.
Spüren Sie die Ladungen, die Sie selbst tragen und sehen Sie die Ladungen der
anderen Atome. Zu manchen möchten Sie sich wegen dieser Ladungen hinbewegen,
von anderen fühlen Sie sich abgestoßen, wieder andere haben ein Kraftfeld um
sich, in das Sie nicht eindringen können.
Machen
Sie sich diese Ladungen und Kraftfelder bewusst.
Distanz gewinnen zu den
Ladungen
Versuchen
Sie nun, Distanz zu gewinnen von ihren eigenen Ladungen. Versuchen Sie, diese
Ladungen als unabhängig von sich selbst zu sehen, als etwas, das übernommen
worden ist in dem langen Prozess des Aufwachsens und der späteren Bildung, als
etwas, das Sie sich freiwillig oder unfreiwillig angeeignet haben, das aber
auch wieder abgegeben werden kann, das Sie auch wieder an den Absender
zurückgeben können, wenn Sie finden, dass es nicht das Ihre ist. Fühlen Sie,
welche Ladungen das sein könnten, die eigentlich nicht zu ihnen, sondern zu
anderen gehören. Sehen Sie die Quelle der Ladung – und geben Sie sie zurück,
ohne Vorwurf, ganz nüchtern, jetzt oder später, wann immer Sie genug davon
haben.
Sich keine fremden Schuhe
anziehen
Es
geht in Ihrem Leben, wie im Leben Ihrer Patienten darum, den richtigen Platz zu
finden, in der unmittelbaren Gemeinschaft, im Ganzen der Welt und oft genug
auch einfach in dem Raum, in dem Sie sich befinden.
Dazu
ist es nötig, behindernde Einflüsse dorthin zurückzugeben, wo sie herkommen und
zu unterscheiden zwischen Mein und Dein.
Um
das Eigene und den richtigen Platz besser erkennen zu können, betrachten Sie
bitte mit mir noch ein weiteres Stück aus der Bibel: Das erste Gebot, in dem es
heißt, „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben“.
So
viele „du sollst“ wirken in den Menschen und machen ihnen Angst. Manches davon
ist echt, vieles aber ist unter Druck von außen übernommen und passt gar nicht.
Betrachten Sie diese von der Bibel so genannten „fremden Götter“, und schauen
Sie dann auf Ihr Eigenes, fühlen Sie, was Ihnen gut tut – jenseits aller
gesellschaftlichen oder familiären Werte.
Von
ihrem Eigenen aus betrachten Sie dann sich selbst und die anderen Personen im
Raum – ohne zu werten, eher mit Mitgefühl, weil allen Menschen so vieles
aufgebürdet wird, was gar nicht sein muss.
Die
anderen betrachten, wie Jesus es tun würde
Und
dann versuchen Sie, sich selbst und die anderen so zu betrachten wie Jesus es
Ihrer Ansicht nach tun würde.
So
souverän wie er mit seinen eigenen Ladungen und mit den Ladungen seiner Umwelt
umgegangen ist, können auch Sie damit umgehen. Und Sie sehen, was es dazu
braucht: die nötige Distanz und das nötige Vertrauen. Mit Distanz und Vertrauen
sind Sie frei, die Ihnen zudachte göttliche Rolle zu übernehmen: nämlich in
Ihnen und um Sie herum Überschüsse abzugeben und Mängel auszugleichen, zu
fließen im Strom der schöpferischen Kraft.
Veränderungsmöglichkeit
von Einstellungen erkunden
Sie
haben es bemerkt: Die Aufforderung, die Welt so zu betrachten, wie Jesus es tun
würde, ist eine Aufforderung zu einer komplexen Veränderung der inneren
Einstellungen. Manchen Menschen mag erst durch so eine Aufforderung bewusst werden, welche ganz anderen Möglichkeiten es gibt, sich und
die Welt zu betrachten und welche ganz anderen Effekte ihr Handeln haben kann.
Es
gibt viele, die in dieser Weise arbeiten. Ich möchte als ein Beispiel auf die
sogenannte „gewaltfreie Kommunikation“ verweisen in der Variante, die Marshall
B. Rosenberg lehrt, der gelegentlich auch nach München kommt.
Sie
zeigt: Damit Sie vom Leben das zurückbekommen, was Sie möchten, brauchen Sie –
und auch Ihre Patienten – eine bestimmte innere Einstellung bzw. ein komplexes
System innerer Einstellungen, gebündelt in der Intention, nicht zu verletzen.
Lösung
einer Geiselnahme durch Achtung vor dem Täter
Noch
ein zweites Beispiel: Vor zwei Wochen gab es in einem Gericht in Atlanta, USA,
eine Schießerei mit mehreren Toten mit anschließender Geiselnahme. Die Geisel
hatte eben das Buch eines kalifornischen Pastors gelesen, Rick Warren, „The Purpose Driven Life“ – ein Buch,
das eben eine Auflage von 20 Millionen Hard-Covers
verkauft hatte, ein absoluter Auflagen-Rekord in der Geschichte der USA. Die
Geisel sprach mit dem Täter sieben Stunden lang in einer nicht urteilenden
Weise, dann gab der Täter auf und stellte sich der Polizei.
Wie
war das möglich?
Die
Frau hatte, durch ihre Lebenserfahrung und durch die Lektüre dieses Buches
gelernt, sich in einer nicht urteilenden Weise auf ihr Gegenüber einzustellen.
Und das hat den Täter überwältigt, denn so etwas hatte der noch nicht erlebt.
Mehr
ist nicht nötig. Mehr hat auch Jesus nicht getan.
Spiritualität
ist Respekt durch „nicht urteilen“
Ich
hoffe, es ist mir ein wenig gelungen zu zeigen, dass Spiritualität hilft, sich
von allen Urteilen zu lösen und seinem Gegenüber absoluten Respekt
entgegenzubringen – egal, was die Leute denken oder was ein professionelles
Vorgehen verlangen würde.
Das
Besondere an Jesus war, dass er den Menschen diesen absoluten Respekt
entgegengebracht hat. Dadurch sind Wunder passiert – ähnlich dem Wunder, das
durch die Geisel in Atlanta geschehen konnte.
Spiritualität
macht möglich, was möglich ist – im Sinn des Spruchs der Anonymen Alkoholiker,
die bitten um die Gabe der Unterscheidung zwischen dem, was verändert werden
kann und dem, was so akzeptiert werden muss, wie es ist.
Austausch
Nun
möchte ich Sie bitten, sich für einen Moment zu sammeln, die Fragen zu
rekapitulieren, die während dieser Betrachtungen aufgetaucht sind, eventuell
die eine oder andere zu notieren und dann sich mit einem Nachbarn darüber
auszutauschen. Diejenigen, die zufällig alleine übrig bleiben, könnten für den
Austausch neue Nachbarn finden.
Literatur:
Sophie Zerchin: „Auf der Spur des Morgensterns. Ein
Erlebnisbericht“, München, 1990.
Marhall B. Rosenberg:
Gewaltfreie Kommunikation. Aufrichtig und einfühlsam miteinander sprechen. Neue
Wege in der Mediation und im Umgang mit Konflikten. Jungfermann Verlag, Paderborn, 2001
Rick Warren: The Purpose Driven Life. What on Earth am I here for?
Zondervan, Michigan, 2002
Aaron Antonovski: Unraveling the mystery of
health. How People manage stress and stay well. Jossey-Bass,
San-Francisco, 1987.
Deutsch: Salutogenese.
Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT, 1997