Psychiatrie und Spiritualität
In psychiatrischen
Fachkreisen herrscht oft die Auffassung, psychiatrische Behandlung habe nichts
mit Spiritualität zu tun und Religion sei eher Ursache als eine Hilfe zur
Lösung psychiatrischer Probleme.
Diese Auffassung wird
dokumentiert von der Tatsache, daß die Krankenkassen zwar für alle möglichen
Bereiche psychiatrischer Hilfe zahlen, nicht aber für Seelsorge. Und wäre der
Staat nicht durch ein Konkordat verpflichtet, so würde man sicherlich auch dort
die Seelsorger aus den Kliniken entfernen oder wenigstens die Kosten für sie
nicht mehr übernehmen.
Nach mehr als zwei Jahren,
während derer ich versucht habe, eine ambulante Psychiatrieseelsorge in München
wenigstens zum Teil aus öffentlichen Mitteln finanziert zu bekommen, haben mir
gezeigt, daß es besonders in den nichtärztlichen Fachkreisen eine starke
Strömung gibt, die die Seelsorge aus der psychiatrischen Fachbehandlung
ausschließen und zur Privatsache der Kirchen erklären wollen. In dieser Haltung
spiegelt sich sicher zum Teil purer Futterneid (besonders Psychologen wollen
oft zeigen, daß nun sie es sind, die die Seele verstehen und nicht mehr die
Seelsorger), zum Teil aber sind es berechtigte Bedenken, weil eben ein relativ
großer Anteil psychiatrischer Probleme mit Fehlformen religiöser Erziehung
zusammenhängen seien es eine besondere dogmatische oder moralische
Rigidität oder überdimensionierte religiöse Phantasie.
Als Leiter von
Gesprächsrunden in der Psychiatrie bin ich andererseits immer wieder mit dem
Vorwurf von Patienten konfrontiert, die Psychiatrie sei so entwürdigend, man
werde als Mensch nicht ernst genommen, sondern in ein Schema gepreßt. Das
Schema, das die Patienten meinen, ist das Schema der Diagnose, aus dem es
lebenslänglich keinen Ausweg gibt weil eben das oberste Dogma der
Psychiatrie lautet: Psychiatrische Probleme beruhen auf angeborenen
irreparablen Stoffwechselstörungen, die zwar medikamentös gelindert und im
Idealfall sogar adäquat pariert, aber niemals geheilt werden können.
In diesem System hat die
Sozialpsychiatrie eine gute Berechtigung zur sozialen Wiedereingliederung der
medikamentös richtig eingestellten Patienten. Das sehen auch die Krankenkassen
so. Und dabei können auch neurotische Störungen, die neben den psychiatrischen
Symptomen bestehen, von Psychologen behandelt werden. Die Seelsorge spielt im
gesamten System der Psychiatrie fast nur die Rolle des Abwieglers, des Trösters
der in ihrer Existenz Erschütterten, und wegen der Struktur religiöser Praxis
gesteht man ihr auch noch eine gewisse strukturgebende Aufbaufunktion zu.
Deshalb toleriert man Seelsorge in der psychiatrischen Klinik, d.h. die
Mitarbeit eines Seelsorgers im Akutfall. Im sozialpsychiatrischen (also im
nichtakuten) Bereich aber, so meinen die Verwalter öffentlicher Gelder, wäre
Seelsorge nicht mehr notwendig, bzw. eben Privatsache der verschiedenen
Religionsgemeinschaften. Religion gilt als eine Art Hobby, so wie Fischen oder
andere Freizeitbeschäftigungen, die die Nerven beruhigen. Die Bedeutung der
spirituellen Dimension selbst wird nicht gesehen.
Im Vordergrund der
psychiatrischen Fachbehandlung steht neben der Medikation die Anpassung der
Patienten an ihre Behinderung. In der Praxis bedeutet das, die Patienten
herunterzuholen von ihren oft überschäumenden Wunschphantasien und sie dazu zu
veranlassen, das Mögliche zu tun, etwa sich die Härten einer Berufsausbildung
zuzumuten.
In der konkreten Praxis ist
dieses den-Patienten-herunterholen aber oft selbst so überdimensioniert, daß es
diese Menschen entwürdigt. Und dadurch geschieht es nicht selten, daß das
psychiatrische Fachpersonal an der Prägung des psychiatrischen Stigmas nicht
unwesentlich beteiligt ist, denn im Eifer des Gefechts merkt man manchmal nicht
mehr den Unterschied, ob man einen geistig zurückgebliebenen Patienten
herunterholt von seinem Traum, Astronaut zu werden, oder ob man eine Patientin
mit völlig normaler Intelligenz herunterholt, wenn ihre Augen zu leuchten
beginnen bei der Vorstellung, daß sie einmal als Haushaltshelferin arbeiten
wird.
Als entwürdigend erleben die
Menschen alle Formen der Umgangs oder der Behandlung, in denen der Geist
abgetötet wird und genau das ist tatsächlich ein Angriff auf das Wesen
des Menschen selbst. Jeder kann den Vorgang ganz leicht beobachten: Wenn die
Augen eines Menschen leuchten, dann ist der Geist da, wenn das Leuchten
erlischt, ist der Geist abgetötet. Manche (sicherlich wenige) Angehörige des
psychiatrischen Fachpersonals mußten im Lauf ihrer persönlichen Geschichte
erleben, daß ihr eigener Geist abgetötet worden ist, und die betreiben das
Abtöten des Geists bei anderen dann gelegentlich (natürlich unbewußt) mit einer
gewissen sadistischen Lust. Und das ist möglich, weil das Hochhalten des Geists
bis jetzt kein selbstverständlicher Programmpunkt in der psychiatrischen
Fachbehandlung ist. Und eine Aufnahme in dieses Programm ist auch noch gar
nicht in der wünschenswerten Weise möglich, weil es bis jetzt keine
ausreichende Konzeption von "Geist" gibt und das betrifft
nicht nur die Psychiatrie, sondern auch die Psychiatrieseelsorge.
Über Spiritualität wird zwar
überall viel gesprochen und spekuliert, in Ermangelung einer klaren Konzeption
bleibt der Begriff dabei aber meistens im Dunklen. Man weiß, es hat mit
Religion zu tun, aber was genau ist nicht so klar. Auch die Esoterik bedient
sich des Begriffs, um ihre Praktiken anzupreisen. Die asiatischen
Kampfsportarten bauen darauf auf und man weiß, ihre Kraft hat mit Meditation zu
tun. Und Meditation hat eine gewisse Verwandtschaft mit Gebet, Kult,
Gottesdienst und da sind wir wieder bei Religion.
Um den Nebel zu lüften: Es
gibt zwei Arten von "Geist". Die erste Art ist der Geist der
tierischen Kraft, im Alten Testament mit dem Gott "Baal" assoziiert;
sein Symbol war damals der Stier, heute wäre es eher ein Rennwagen, ein
Kampfjet oder die finanzielle Potenz eines internationalen Konzerns; der Spruch
dieses Geists ist: "Wir sind die besten, unsere Konkurrenten sind
minderwertig". Wir kennen diesen Geist einerseits von den Nazis, andererseits
aber ist er für uns allgegenwärtig in der Werbung. Dieser Geist imponiert.
Seine Anhänger haben niemals die Chance, selbst stark zu werden, sie werden nur
stark, indem sie sich mit diesem Geist identifizieren und für ihn arbeiten.
Der andere Geist ist der Geist
der Wahrheit, in der Bibel mit "JAHWE" (= "ich bin der ich
bin") identifiziert. Das ist der Geist der Religionen, so weit diese den
Geist noch verstehen und nicht zu formalistischen Verbots- bzw.
Erlaubnisorganisationen verkommen sind (wie z.B. die fundamentalistischen
Sekten aller Religionen), die dann, als mächtige Tyrannen, wieder mit dem Geist
der tierischen Kraft verwandt sind.
Spiritualität im positiven
Sinn hat daher logischerweise mit dem Geist der Wahrheit zu tun. Das
chinesische "Kung Fu" bedeutet daher auch "innerste
Wahrheit". Kung Fu, so heißt es im I Ching "bewegt sogar Fische und
Schweine". Die alttestamentlichen Geschichten über die unglaublichsten
Siege der Israeliten über ihre Feinde beruhen auf diesem Geist der innersten
Wahrheit. Indem sie sich auf diesen Geist besannen, konnten die Israeliten der
Sklaverei in Ägypten entkommen. Und so wie dieser Geist damals die Menschen
befreien konnte, so kann er es auch heute noch. Und es spielt dabei keine
Rolle, welcher Art die Gefangenschaft ist, sei sie äußerlich physisch, sei es
eine psychische Abhängigkeit von Personen oder von Substanzen oder sei es eine
geistige Gefangenschaft.
Man kann psychische
Krankheit nun als irreparable Stoffwechselstörung betrachten, wie die Mediziner
es tun, oder man kann sie als eine Art Gefangenschaft in einer Vorstellungswelt
betrachten. Im ersten Fall hilft nur eine lebenslängliche Einnahme von
Medikamenten. Im zweiten Fall wird man die Medikamente nur brauchen, um eine
gewisse Bewußtseinsschwelle zu erreichen und dann zu halten, auf der es nämlich
möglich wird, den Anteil der Krankheit zu erkennen, der mit einer derartigen
Gefangenschaft zu tun hat. Und Beispiele von geheilten Schizophrenen (z.B.
Jacqui L. Schiff: "Alle meine Kinder. Heilung der Schizophrenie durch
Wiederholen der Kindheit") zeigen, daß, wenn die Gefangenschaft beendet
ist, auch die Stoffwechselstörung verschwindet.
Der Weg geht über den Geist,
über eine recht verstandene Spiritualität. Ein anderes Wort dafür ist
"Glaube" und zwar nicht ein Glaube an die Wahrheit irgendwelcher
Sätze, sondern der Glaube daran, daß es in einem selbst eine unwiderstehliche
Kraft gibt, die da ist und die einen unterstützt, sobald man beginnt, ihr ein
wenig mehr zu vertrauen als allen anderen Kräften. Das ist Spiritualität. Das
bedeutet aber auch, daß man es mehr und mehr wagen muß, sich mit sich selbst
auseinanderzusetzen also genau das, was gewöhnlich in der Psychiatrie
als kontraindiziert gilt, und zwar mit gutem Recht, weil eine derartige
Auseinandersetzung natürlich immer die Gefahr eines Rückfalls mit sich bringt.
Nur, sobald ein Mensch mit seiner eigenen inneren Kraft Kontakt aufgenommen
hat, wird es bei entsprechender Begleitung möglich sein, diese
Gefahr zu umgehen.
Doch selbst wenn ein Patient
nicht bereit wird, sich mit den eigenen inneren Abgründen zu konfrontieren und
damit am Ende sogar geheilt zu werden, wird doch der Glaube an eine
unterstützende geistige Kraft eine allgegenwärtige Hilfe sein, die besonders
dann zum Tragen kommen wird, wenn es gilt, einen Ausweg aus einer Krise zu
finden.
Sicherlich wird es ohnehin
meistens so sein, daß Psychologen, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten,
Krankenpfleger und anderes psychiatrisches Fachpersonal von sich aus in dieser
Weise spirituell arbeitet, aber als offiziell anerkanntes therapeutisches Ziel
scheint Spiritualität in der Psychiatrie bis jetzt nicht auf und die
Krankenkassen haben von der Bedeutung der Spiritualität für den
Gesundungsprozeß bis jetzt noch keine Kenntnis genommen. Wie gesagt, die
Konzeption ist bei den meisten Beteiligten noch nicht klar.
Nehmen wir daher
beispielsweise auch noch den Fall des Hiob aus dem Alten Testament. Der war ja
bekanntermaßen so von Unglück heimgesucht, daß er nicht nur sein ganzes
Vermögen und seine Kinder verlor, sondern zuletzt auch seine Gesundheit, so daß
er, als Leprakranker ausgestoßen aus seinem eigenen Haus, auf seiner eigenen
Müllhalde lebte, sich mit Tonscherben den Eiter von der Haut kratzte und sich
von seinen ehemaligen Freunden beschimpfen lassen mußte, weil die nämlich
glaubten, er wäre selbst schuld an seinem Unglück. Wäre Hiob damals auf eine
Stoffwechselstörung hin behandelt worden, die er sicherlich hatte, so hätte er
wohl den Rest seines Lebens als medikamentenabhängiger Siecher verbracht, der
ständig Grund dazu gehabt hätte, sich selbst zu bedauern und sein Schicksal zu
beklagen. Indem er aber den Glauben an jene geistige Kraft pflegte, die ihn ins
Leben gerufen hatte, konnte der Umschwung kommen, der ihn nicht nur voll
rehabilitierte, sondern ihm auch ein so reiches Leben zurückbrachte, daß er
schließlich glücklich, alt und lebenssatt sterben konnte also weit
jenseits von einem bloßen sich Abfinden mit den Beschränkungen, die ihm das
Schicksal beschert hatte. Das ist Spiritualität.
Da jener Geist, jedenfalls
bewußt, den meisten heute unbekannt ist, bekommt in der psychiatrischen
Behandlung die Sorge um die Folgen der Enttäuschungen, die notwendig auf
überzogene Erwartungen folgen, so viel Gewicht. Diese Sorge ist sehr
berechtigt. Nur schüttet man oft das Kind mit dem Bade aus, d.h. es wird oft
nicht unterschieden zwischen einer Begeisterung, die aus einem echten Kontakt
mit dem Geist kommt und dem Strohfeuer der Illusion. Und nicht wenige berühmte
Psychotherapeuten (z.B. Albert Ellis) halten lieber die biblischen Patriarchen
und andere Religionsgründer für verrückt wegen ihres Glaubens an das scheinbar
Unmögliche, als sich mit den radikalen Phänomenen des Geists
auseinanderzusetzen. Aber es bleibt eine Tatsache, daß durch Menschen von
Abraham bis Gandhi und von Buddha bis Mutter Teresa scheinbar Unmögliches
Realität geworden ist, daß sie die Kraft des Glaubens also bewiesen haben. Sie
haben gezeigt, daß durch den Glauben gewissermaßen Kraft aus dem Nichts
entsteht.
Es geht daher darum, diese
Kraft zu nutzen. Anstatt sich bei den Problemen aufzuhalten, suchen daher auch
moderne Therapieformen (wie z.B. die Kurzzeittherapie von Steve de Shazer) nach
Lösungen aber nicht nach rationalen Lösungen, sondern nach persönlichen
Lösungen solchen, die eben in leuchtenden Augen sichtbar werden oder im
Verschwinden der Starre oder in anderen Symptomen der Energetisierung. Und da
ist wieder Spiritualität im Spiel. Da geht es wieder und ausschließlich um die
Person, der geholfen werden soll.
Hier ist Therapie mit
Spiritualität verbunden, aber es bleibt die Gefahr, daß sich die Methode
verselbständigt oder daß sich der Therapeut selbst ins Zentrum stellt. Es
braucht daher eine ständige Rückbindung, eine ständige Rückbesinnung auf die
Quelle der Spiritualität, auf die innerste Wahrheit, auf das Wesen des Menschen
auf seine Seele. Deshalb braucht es eine echte "Seel-Sorge", die
natürlich nichts zu tun hat mit irgendeiner Form von "wir haben die
Wahrheit" oder "wir weisen dir den Weg", denn den Weg kennt nur
der Geist.
Der Patient muß im
Mittelpunkt stehen. Er (seine Seele) hat die Wahl, und wenn er frei sein will,
dann darf es keine dogmatischen Barrieren geben, weder medizinische noch
theologische. Wenn er die Krankheit aber nicht umgehen kann, dann muß er auch
auf diesem Weg alle mögliche Unterstützung bekommen, nicht nur medikamentös,
sondern auch spirituell.
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